
𝟐𝟗│𝑲𝒊𝒆𝒓𝒂
Kiera
»Mum!«
Ich renne, nein ich stürze förmlich auf die kleine zusammengekauerte Gestalt in der Ecke zu, die ich anhand des schrecklich grünen Kleides und der braunen Locken, die der Frau matt an der Stirn kleben, als meine Mutter identifizieren kann.
Oh Gott!
Zusammengesunken wie ein Häufchen Elend liegt sie da. Ohne mit der Wimper zu zucken, knie ich mich neben sie, fange an, ihren Oberkörper aufzurichten und sehe erst dort die Schnapsflasche, die sie in ihren Händen festumklammert hält. Scheppernd fällt sie zu Boden. Die Hände meiner Mum sinken kraftlos nach unten, als ich sie daraufhin gegen die Wand drücke. Ihre Augen sind fest verschlossen und nur die kleine zarte Bewegung ihres Bauches, lässt meinen Puls kurzweilig herunterfahren und mich für einen Moment erleichtert durchatmen.
Sie lebt.
»Mum?«, frage ich und klopfe ihr sanft gegen die Wange. Als sich nicht reagiert, etwas kräftiger. Und als sie dann noch immer nicht reagiert, laufe ich zum Waschbecken, forme meine Hände zu einer kleinen Schale und spritze ihr anschließend das Wasser ins Gesicht. Darauf reagiert sie.
»Kiera...?« Ihre Augenlieder flattern leicht, bevor sie ganz ihre Augen aufschlägt und sich zerknirscht über das Gesicht fährt. Gleich darauf will sie noch etwas sagen, aber sobald sie den Mund aufmacht, übergibt sie sich auch schon und ein Schwall ihres Mageninhalts ergießt sich auf den hellen Marmorboden. Das ist der erste Schwung. Kurz darauf folgt ein weiterer. Mit meiner Hilfe schafft sie es zum Glück noch rechtzeitig sich an den Toilettenkörper zu klammern und den armen Boden von ihrem übermäßigen Alkoholkonsum zu verschonen.
Ich weiß gar nicht, wie lange wir so verharren- sie gebeugt über den Toilettenkörper und ich gleich daneben, ihr die Haare nach hinten haltend. Irgendwie fällt mir zwischen ihren ganzen Kotzattacken, bei denen ich ihr tröstend über die Schulter streiche, erstmals bewusst auf, wie vertauscht unsere Rollen sind. Eigentlich müsste ich sturzbesoffen über der Toilette hängen und meine Mum müsste kniend neben mir sitzen, mir aufmunternde Worte zu sprechen, wie ich es gerade tue.
Aber meine Mum ist eben meine Mum. Und ich eben Kiera. Ich passe auf sie auf. So war es schon immer.
Ich erinnere mich daran, als ich fünf oder sechs war und sie mich auf dem Parkplatz eines Supermarktes im Einkaufswagen vergessen hatte. Sie war einfach abgefahren und hatte erst auf halber Strecke gemerkt, dass ihr Kind nicht brav schlummernd auf der Rückbank des Pkws schlief, sondern den ganzen Vorplatz des Marktes vollbrüllte. So viel dazu.
»Danke, aber ich kriege das schon allein hin«, winkt die Frau vor mir ab, die versucht tapfer zu sein und es nach eigener Aussage 'allein' hinkriegen will. Dabei wissen wir beiden doch am besten, wie sehr sie mich jetzt braucht.
»Ist schon okay, Mum«, versuche ich sie zu besänftigen, aber sie schüttelt stur den Kopf. »Nein, ist es nicht«, beharrt sie, »Es tut mir leid. Du solltest das nicht sehen.«
»Schon gut.«
Ich nicke ihr aufmunternd zu. Sie braucht sich für nichts zu schämen und das weiß sie auch.
»Danke.« Ihre Mundwinkel wandern ganz zaghaft in die Höhe und ich weiß, dass das in ihrem Zustand ein Lächeln darstellen soll. Deshalb lächle ich zurück, blicke in die wunderschönen blauen Augen meiner Mutter, von denen ich immer wollte, dass ich sie von ihr erbe. Vergeblich. Das Braun des Mannes, den ich noch nie zu Gesicht bekommen habe, hat sich durchgesetzt. Zumindest vermute ich es.
»Mum?«
Die Stille, die zwischen uns herrscht, ist drückend. Drückend, weil ich mich so erdrückt fühle. Ich konnte immer unbeschwert mit ihr reden, hatte das Gefühl meine Mum sei meine beste Freundin, der ich alle Geheimnisse anvertrauen konnte und auf die ich mich in jeglicher Hinsicht verlassen kann. Ich erzähle ihr immer alles und sie mir auch, auch wenn ich manches gar nicht so genau wissen möchte. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich dazu entschließe ehrlich zu sein, obwohl das Timing nicht schlechter hätte sein können.
»Mmmhh?«, die braunhaarige Frau vor mir hebt leicht den Kopf an und mustert mich eindringlich.
»Ich bin gar nicht verlobt«, sprudeln die Worte aus meinem Mund heraus und erst jetzt bemerke ich, wie mir durch mein Gesagtes eine Last von den Schultern fällt.
Lügen Menschen aufzutischen, die man nicht kennt, ist einfach. Lügen Menschen aufzutischen, mit denen man sein ganzes Leben verbracht hat, ist umso schwieriger und ich bin heilfroh, dass es nun raus ist.
»Was?« Die blauen Augen meiner Mum mustern mich verwirrt, was ich ihr nicht im Geringsten verdenken kann. »Was redest du 'n da...hicks...für nen Stuss? Du bist doch verlobt mit Cole...hicks ...Colin.«
Ich presse angestrengt die Lippen aufeinander und sage: »Nein, eigentlich nicht. Wir sind noch nicht mal-«
»Psssst.« Sie presst ihren Zeigefinger auf meinen Mund und unterbindet mir zu reden, wie als wäre ich ein kleines Kind, das Terz bei McDonalds macht, weil es kein Happy-Meal bekommt.
»Kiera, Schätzele, ich sage...hicks... dir jetzt mal was...hicks « Die Blässe und Kraftlosigkeit, die meine Mum umgeben hat, ist wie weggeblasen. Nur der Schluckauf ist noch da. Dafür wirkt sie plötzlich viel aufgeweckter und schafft es sogar, sich vom Klokörper wegzudrücken. Auf allen Vieren krabbelt sie zu mir herüber, lehnt ihren Kopf, wie ich es schon seit einigen Minuten tue, gegen die robuste Trennwand. Ihr energischer Blick ruht auf mir, als sie anfängt zu erzählen: »In Nepal war ich auf einen Fortbildungskurs zur Meditation innerer und äußerer Werte mit so einem richtig scharfen Lehrer, dessen äußere Werte ich gerne noch weiter erkundigt hätte, wenn du verstehst, was ich meine...« Sie zwinkert mir zu. Seht ihr? Das meine ich mit 'zu viele Informationen', die ich gar nicht wissen möchte.
»Jedenfalls...«, meine Mum räuspert sich, »...sehe ich es einfach, wenn Menschen sich verlieben. Sie haben dann diesen Blick.« Sie verzieht ihr Gesicht und ich befürchte schon, dass sie einen Schlaganfall hat, bis ich checke, dass das 'der Blick' sein soll. Aha.
»Du siehst aus wie als hättest du in eine Zitrone gebissen oder üblen Durchfall«, gebe ich ihr grübelnd zu Bedenken, woraufhin sie nur abwinkt.
»Gut, dann vergiss den Blick, aber ich sehe das!«, behauptet sie trotzdem stur weiter und gleich darauf: »Und er hat den Blick, Kiera.«
Meine Augen wandern forschend über ihr Gesicht.
»Bist du sicher? Du bist betrunken.«
»Nein, nein, nein«, brabbelt sie ziemlich überzeugt vor sich hin, »Ich bin zwar zugegebenermaßen leicht betrunken, nur ganz leicht, aber ich bin nicht blind. Der Junge zieht dich mit seinen Augen ja fast aus.«
Ich rolle mit den Augen. Ist klar.
»Das macht er bei jeder, Mum.«
Jetzt rollt sie mit den Augen. »Aber anschauen tut er nur dich, Kiera.«
Dann verharren wir für einige Sekunden so, schauen den jeweils anderen stumm an. Die Worte hängen schwer wie Blei in der Luft, scheinen mein Herz zu zerdrücken, dass doch eh schon längst kaputt ist.
Aber anschauen tut er nur dich, Kiera.
Stimmt das? Mag mich Colin? Mag mich Colin mehr als mögen? Will ich überhaupt, dass er es will?
Gott, das alles ist so verwirrend.
Ich habe das Gefühl, dass mein Kopf gleich explodiert von zu vielen unbeantworteten Fragen, zu vielen Gedanken. Ich muss meinen Kopf dringend frei kriegen, endlich anfangen meine Gedanken zu ordnen und das geht definitiv nicht auf einer Frauen-Toilette, eingepfercht mit meiner betrunkenen Mum.
»Ist es okay, wenn ich kurz rausgehe und frische Luft schnappe? Ich kann auch bei dir bleiben, wenn du wi-«
»Nein, ich komme schon zurecht«, meint meine Mum nur und lächelt mich schief an. »Geh du zu deinem Verlobten.«
»Er ist nicht mein-egal.«
Ich rapple mich vom kalten Boden auf, werfe noch einen letzten prüfenden Blick auf meine Mutter, bevor ich mich umdrehe und mir meinen Weg nach draußen bahne.
Die kühle Abendluft ist so unsagbar wohltuend und erfrischend. Gierig saugt meine Lunge den Sauerstoff in sich auf, von dem es im Inneren des Hauses eindeutig zu wenig gibt. Kurzerhand entschließe ich mich, mir meine Beine im naheliegenden Park ein wenig zu vertreten. Es ist schließlich noch nicht ganz so dunkel und die Kieselwege sind zudem beleuchtet. Es schadet also nicht, wenn ich mich kurz von der Hochzeitsgesellschaft entferne und ein bisschen durch die Gegend laufe.
Voller Tatendrang stapfe ich also los, halte aber nach unfassbaren zwei Metern an, um mir meine Schuhe von den Füßen zu streifen. Die Folter hat jetzt ein Ende. Mit den Monsterhacken in der Hand setze ich meinen Spaziergang fort.
Im Nachhinein kann man sagen, dass meine nächtliche Wanderung im Park ziemlich leichtsinnig war. Wie leichtsinnig, wird mir erst klar, als ich keinen blassen Schimmer habe, wo ich gerade bin, welche Abzweigung meine letzte war und vor mir zu allem Übel ein Mann aus dem Gebüsch getorkelt kommt. Meine Hand fährt in diesem Moment automatisch zu meiner Hüfte, in der Hoffnung, meine Tasche mit dem Pfefferspray zu fassen zu kriegen, welche ich für den unbestimmten Fall der Fälle immer dabeihabe. Nur eben jetzt nicht.
Dann müssen eben die High Heels in meiner Hand herhalten.
Kann man mit einem 10cm Absatz eigentlich jemanden das Auge ausstechen?
Da bin ich mir nicht so sicher, aber wenn es sein muss, dann wie mein Gegenüber nun blind.
Ich will schon abwehrend mit meinen Schuhen nach der umherstrauchelnden Gestalt vor mir ausholen, als mir der blaue Anzug des Betrunkenen auffällt, bis hin zu den breiten Schultern. Erst glaube ich schon, dass es Colin ist, bis ich die schwarzen nachhinten gegelten Haare sehe. Das ist nicht Colin.
»Ulala, wen haben wir denn da?«, johlt der Mann vor mir begeistert auf, macht einen unwillkürlichen Schlenker nach rechts, bevor er sich wieder fängt und zwei Meter vor mir zum Stehen kommt. Jap, der Typ ist sowas von besoffen.
»Wenn dis nisch Colins Tussi is. Pardon Colins scharfe Tussi!«, grölt der Schwarzhaarige begeistert und beim genaueren Hinsehen bestätigt sich meine Vermutung. Das ist der Mann von der Bar heute Mittag. Der Kerl, der neben Colin saß, als ich zum ersten Mal die soooo verliebte Verlobte raushängen lassen habe. Colins Cousin, wenn ich mich recht entsinne. Terrice, war glaube ich sein Name, aber ich bin mich nicht mehr ganz sicher.
Jedenfalls schwankt besagte Person geradewegs auf mich zu und dumm, wie ich bin, denke ich nur, dass er sich an mir festhalten will, bis ich bemerke, wie sich sein Arm um meine Taille legt und ich gegen den nächstbesten Baum gepresst werde.
Völlig überrumpelt lasse ich dabei auch noch meine einzige Verteidigung fallen. Was bin ich für eine Idiotin!
»Lass mich los...«, fauche ich sofort und hämmere protestierend gegen seine Brust. Was soll der Scheiß?
»Was? Wieso'n das?«, säuselt er. »Wir lernen uns doch gerade erst richtig kennen.«
Seine modrige Alkoholfahne schlägt angeregt gegen mein Gesicht, lässt mich die Luft anhalten. Der Typ braucht dringend ein Minzbonbon.
Wieder versuche ich ihn von mir wegzudrücken, aber er ist einfach zu stark.
Mein Rücken bohrt sich tiefer in das Holz. Sehnsüchtig fällt mein Blick auf die beigen Hacken, die ein paar Meter weiter verstreut auf dem Boden liegen.
Wieso habe ich keine telepathischen Superkräfte, mit denen ich Sachen hochheben und sie direkt in die Fresse mancher Menschen schießen kann? Ach genau, dann läge Colin ja schon längst im Krankenhaus.
Der Ekel drängt seinen Körper näher an meinen, schiebt meine Haare mit seinen dreckigen Händen nach hinten und starrt gierig auf mein freigelegtes Dekolleté. Das wagt er nicht!
»Nimm sofort deine Pranken von mir!«, zische ich, spucke ihm die Worte beinahe ins Gesicht. Doch statt aufzuhören, bildet sich auf dem Gesicht meines Peinigers nur eine dreckige Lache, die sich in meinen Kopf einbrennt wie ätzende Säure.
»Wir sind doch bald 'ne Familie...«, sagt er unschuldig. »Da teilt man. Colin wird schon nichts dagegen haben. Entspann dich!«
Ich schnaufe panisch auf. Ich soll mich entspannen? Einen Scheiß werde ich tun!
Ich werde alles sein, aber ganz sicher nicht entspannt.
Und das sollte ich auch nicht sein. Nicht, wenn seine linke Hand sich gerade unter den Ansatz meines Kleides schiebt und er anfängt, Küsse rund um mein Schlüsselbein zu verteilen.
Scheiße, ich bin alles andere als ENTSPANNT!
Was machen die in Filmen in solchen Situationen immer?
Denk nach, Kiera. Denk nach!
Fuck!
Bilder wie die diverse Actionhelden perfekt den Angreifer vermöbeln und anschließend noch einen Salto in der Luft schlagen, kommen mir in den Sinn.
Verdammt, ich kann kein Kong-Fu oder so!
Ich habe auch keine Knarre oder die Muskeln von The Rock. Ich habe nur mich und mein Köpfchen.
Moment.... mein Köpfchen?
Oh Mann, das ist so eine behinderte Idee. Habe ich eine andere Option? Nein.
»Terrice?«
Der Schwarzhaarige stoppt doch tatsächlich bei dem Klang seines Namens. Er hebt den Kopf an. Seine dunklen Augen mustern mich notgedrungen.
Und ich?
Ich nutze den Moment, in dem er innehält, aus, um ihm die Kopfnuss meines Lebens zu verpassen, was mir- ich weiß es jetzt schon- die Kopfschmerzen meines Lebens bescheren wird. Aber es hat gewirkt: Er hat fluchend lockergelassen für diesen winzigen Moment und ich bin gerannt wie eine Irre- nur um ein paar Meter weiter, dem nächsten Walker in die Arme zu laufen.
Selbst ist die Frau💪🏻💁♀️Kiera weiß sich auf jeden Fall zu verteidigen😌😄 Doch ich wünsche niemanden, dass er in solch eine Situation kommt💗
Im nächsten Kapitel erfahren wir dann, welchem Walker Kiera in die Arme gelaufen ist😁☺️Schon Vermutungen?
Wir lesen uns🥰
Adios, amigos!
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