Kapitel 3 - Die Trauerweide
Ein dumpfer Schmerz holte Silas zurück aus seinen Gedanken.
»Scheiße«, entfuhr es ihm und er krampfte seine Finger um das Lenkrad, um den Wagen wieder auf die Bahn zu bringen.
»Willst du uns umbringen«, fuhr Tamo ihn gleichzeitig von der Rücksitzbank an.
Silas' Blick schoss sofort in den Rückspiegel und starrte in die eisblauen, müden Augen von diesen.
»Vielleicht«, knurrte Silas und sah zurück auf die Straße.
Das Motzen und Maulen, welches Tamo von sich gab, ignorierte er einfach, denn seit gut einer Stunde, hatte er seine Sprache scheinbar wiederentdeckt und scheute sich nicht davor, diese auch zu nutzen. Er bereute es beinahe, dass er ihn den Sack bei dem einzigen Stopp an einer abgelegenen Tankstelle abgenommen hatte. Denn seitdem er redete, wurde Silas eins immer deutlicher. Die ursprüngliche Vermutung, dass Tamo verwöhnt war, bestätigte sich. Zu Beginn waren es die teuren Klamotten und die riesige Uhr an seinem Handgelenk. Sein Ausweis, welchen Silas in seiner Arschtasche gefunden hatte, sagte ihm, dass dieser gerade mal fünfundzwanzig war.
Zu jung, um sich solchen Luxus leisten zu können, dachte sich Silas und steckte alles in seine Tasche.
Eine weitere Stunde verging und glücklicherweise hatte Tamo aufgegeben zu sprechen. Doch jetzt gerade wünschte sich Silas schon beinahe seine sinnlosen Versuche, Antworten zu finden zurück. Die Nervosität in ihm stieg an, was dazu führte, dass er vermehrt mit den Fingern auf dem Lenkrad umeinander tippelte. Die Landschaft um sie herum veränderte sich. Die ersten Sträucher säumten den Wegesrand und mit jedem Meter, den sie hinter sich brachten, wurde die Vegetation dichter und bald erhoben sich die ersten Bäume. Mit ihnen wurde der Knoten in Silas' Magen schwerer. Die Angst, welche die letzten Stunden unterschwellig in seinem Inneren geruht hatte, trat langsam an die Oberfläche und ließ seine Muskulatur steif werden.
Trotz der Dunkelheit, welche von dem dichten Wald um sie herum nur noch verstärkt wurde, sah er bereits von weitem die große Trauerweide. Majestätisch ragte sie zwischen den anderen Nadelbäumen hervor und zog die gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Ihre Blätter glänzten silbern, von dem Reif des anbrechenden Morgens und wie jedes Mal, wenn er sie sah, stellte sich für einen kurzen Augenblick das Gefühl des Nachhausekommens ein. Sein Puls schoss in die Höhe und erneut bildete sich ein Kloß in seiner Kehle. Seine Hand wanderte automatisch zu der Zigarettenschachtel auf dem Beifahrersitz und mit zitternden Fingern bemühte er sich eine der Kippen herauszuziehen.
Schnell öffnete er das Fahrerfenster und sofort drang der Duft des feuchten Waldbodens in das Auto. Die Note von frischen Tannenzweigen legte sich darunter und ließ ihn tief einatmen, bis er die Kippe anzündete und der Dunst des verbrannten Tabaks die Brise der Natur verdrängte. Die Trauerweide fest im Blick, nahm er den Fuß vom Gas und der Wagen rollte die Straße entlang auf den Baum zu. Kurz bevor sie zum völligen Stillstand kamen, lenkte Silas scharf ein und holperte auf einen schmalen Feldweg, welcher dank des dichten Unterholzes kaum zu erkennen war.
»Was wird das?«, fragte Tamo und die Angst in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Silas blies den Rauch aus dem Spalt des offenen Fensters.
»Du solltest ab jetzt lieber die Klappe halten.«
Tamo starrte in die grauen Augen von Silas und biss sich auf die Zunge, um sich seine Widerworte zu verkneifen. Doch die Angst, welche sich darin widerspiegelten, sagten ihm, dass er wohl besser wäre, seiner Forderung nachzukommen. Er hatte sich die letzte Stunde um Kopf und Kragen geredet, nur das es ihm nicht geholfen hatte. Eigentlich diente es auch eher dazu, seine Unsicherheit und die Angst irgendwie im Zaum zu halten. Die Ungewissheit fraß sich durch seine Zellen und er schwankte zwischen zusammenbrechen und die Fassung verlieren. Noch nie in seinem Leben war er so behandelt worden und die vielen Fragen und immer wiederkehrenden Flashbacks zerrten an seinen völlig überreizenden Nerven. Er legte den Kopf in den Nacken und sah aus dem Fenster. Das Vibrieren des Wagens, während er langsam über den unebenen, weichen Waldboden fuhr, schickte ihm immerfort neue Schmerzimpulse in seine Schultern. Der Wald wurde mit jeder Minute dichter und die Dunkelheit schien sich, wie eine dicke Wand, um den Wagen zu schließen. Immer wieder bogen sie ab und Tamo fragte sich mittlerweile, ob es überhaupt noch ein Ziel gab, welches sie verfolgten oder ob es ein weiteres Ablenkungsmanöver war. Hätte man ihn jetzt hier ausgesetzt, würde er sich wohl in den Tiefen des Labyrinthes verlieren. Das Unterholz überragte nunmehr schon fast den Wagen und es würde nicht mehr viel fehlen, bis sie steckenbleiben würden.
Gefangen von Giftsumach, schoss es Tamo durch den Kopf.
Wahrscheinlich, weil es die einzige Bezeichnung einer Pflanze war, die er kannte.
Doch genau an dem Punkt, wo alles zu enden schien, bog Silas zweimal schnell hintereinander ab und das, was sich plötzlich vor ihnen auftat, ließ Tamo die Kinnlade aufklappen.
Der Wald war schlagartig verschwunden. Nein, das stimmte so nicht.
Es sah aus, als wäre er nur genau an diesem Punkt aufgerissen worden. Vor ihnen erstreckte sich eine Lichtung. Kleine Tautropfen, welche auf dem frischen Gras saßen, wurden von der aufgehenden Sonne zu einem glitzernden Meer gemacht.
Tamo schluckte und vergaß für einen Moment die Ängste, die in ihm lauerten.
Sein Blick wanderte über das riesige Haus, welches sich majestätisch vor ihnen aufbäumte.
In dunklen Farben gehalten, mit bodentiefen Fenstern, ließ es die Bäume um sich herum beinahe winzig wirken. Seitlich davon sah man eine große Terrasse, eine Feuerstelle und davor ein gepflegter, artenvielfältiger Garten.
Ungläubig schüttelte Tamo den Kopf.
Wie zur Hölle kam dieses Gebäude hierher?
Silas brachte den Wagen vor einem großen, extrem hohen Metalltor zum Stehen. Er öffnete sein Fenster vollständig und starrte auf den Bildschirm, der sich an der linken Säule des Tores versteckte. Ihm war bewusst, dass sie unter Beobachtung standen und das nicht erst seit geradebenen, sondern seit sie auf den Waldweg an der Trauerweide abgebogen waren. Tja und das sie es bis hierher geschafft haben, ließ Silas ein kleinwenig Hoffnung schöpfen. Doch die Angst darüber, nicht zu wissen, was hinter diesem Tor auf sie warten würde, pulsierte durch seinen Körper. Aber egal, was auf ihn wartete, das hier, würde der einzige Ort sein, an dem Tamo eine Chance zum Überleben hatte.
Dieser saß immer noch mit offen Mund, schweigend auf der Rücksitzbank und kämpfte mit den unzähligen Fragen in seinem Kopf.
Wer lebte hier? Was wollen sie hier? Was würde passieren, wenn dieses Tor aufsprang?
So oder so. Egal ob er Antworten auf all diese Fragen bekommen würde, eins stand fest.
Es war alles nur ein fucking Traum.
Die Zeit schien stehen zu bleiben und die wenigen Minuten, welche sie bereits hier standen, wirkten, als wären es Stunden. Silas' Herz schlug schmerzhaft gegen seine Brust und sein Gedankenkarussell nahm an Fahrt auf. War es doch ein Fehler? Zu spät, denn noch ehe der Gedanke sich manifestieren vermochte, sprang das Tor vor ihnen auf und öffneten damit den Weg zu ihrem Ziel. Silas seufzte leise, startete den Wagen erneut und fuhr langsam den schmalen Weg, welcher zu dem Haus führte entlang. Unter den Reifen knirschten die kleinen Kieselsteine der Einfahrt, als er das Auto anhielt. Er zog den Schlüssel aus der Zündung und legte den Kopf an die Nackenstütze.
Tamo beobachtete ihn und erkannte, wie schwer ihm das Ganze fiel. Doch für Mitleid gab es hier keinen Platz mehr. Nicht nach allem, was Tamo die letzten Stunden erlebt hatte. Seine Nerven lagen blank und er hatte es satt, sich behandeln zu lassen, wie ein Köter der keinerlei Rechte besaß.
»Na, Angst?«, fragte er spöttisch und sah Silas dabei über den Spiegel an.
Dieser zog tief die Luft ein und räusperte sich.
»Ja und die solltest du auch langsam bekommen«, erwiderte er trocken, bevor er die Tür öffnete und ausstieg.
Silas lief um den Wagen herum und riss Tamos Tür auf. Ohne weitere Worte packte er diesen am Arm und zerrte ihn neben sich. Er stolperte heraus und fiel zu Boden.
»Fuck Mann. Was soll denn das?«
Silas schüttelte den Kopf und lehnte sich erneut in das Fahrzeug. Während Tamo versuchte sich auf die Beine zu bringen, drehte sich Silas zu ihm und als Tamo sah, dass dieser den Sack in der Hand hielt, rollte er mit den Augen.
»Ach komm schon, das ist doch nicht nötig«, maulte Tamo und ließ sich von Silas auf die Beine ziehen.
So wie Tamo wieder festen Boden unter den Füßen hatte, sah Silas von dem Haus zu dem Sack und lächelte gequält.
»Glaub mir, wenn ich könnte, würde ich mir den lieber selbst über den Kopf ziehen.«
Und mit diesen Worten zog er Tamo den Sack auf.
»Halt die Fresse, wenn dir etwas an deinem Leben liegt und noch wichtiger ist, mach keine schnellen, plötzlichen Bewegungen, verstanden?«
Nein, Tamo verstand die Welt nicht mehr und langsam fragte er sich, was zur Hölle er als Letztes eingeworfen hatte, dass sein Gehirn solche komischen Träume produzierte.
Dennoch nickte er, denn mittlerweile hatte er begriffen, dass er ohnehin keine Wahl hatte.
Silas packte ihm wieder am Arm und zog ihn grob hinterher in Richtung der Eingangstür.
Tamo schlug dabei mit dem Fuß an etwas Hartes und stolperte, doch Silas hatte ihn fest am Arm und balancierte es aus.
»Alter, ich bin blind. Sag mir wenigstens, wenn Stufen kommen«, maulte Tamo zornig los.
In Silas Gesicht zeichnete sich ein breites Grinsen ab.
»Vorsicht, Stufen, Pisser!«, raunte er und schon Tamo weiter.
»Sehr witzig, Arschloch!«
Der Griff um Tamos Arm wurde härter als nötig und Silas sein Zornesschnaufen war deutlich zu hören.
»Weiter«, zischte er Tamo zu und schon stolperte er die restlichen Stufen nach oben und hörte, wie die Tür vor ihnen geöffnet wurde.
Silas schob ihn vor sich in das Haus und lief hinter ihm her.
Diente ich jetzt als Schutzschild oder was?, donnerte es Tamo durch denn Sinn, aber trotz dass er langsam eindeutig gelangweilt war von diesem ganzen Scheiß, schwieg er weiterhin.
»Geht ins Wohnzimmer. Sie kommt gleich.«
Tamo spitzte die Ohren, als die sanfte Stimme ertönte. Eine Frau? Und die brachte Silas dazu, dass ihm die Angst förmlich auf der Stirn stand? Doch ehe er seinen Hohn darüber kundtun konnte, schob Silas ihn schweigend weiter. Eine Wegbeschreibung gab es nicht, als schien dieser den Weg zu kennen. Unsanft wurde Tamo nach vorn geworfen, knallte dabei mit den Schienbeinen an etwas Hartes, bevor er in dem weichen Untergrund versank. Eine Couch? Der dumpfe Schmerz, der sich durch seine Beine zog, ließen ihn nach Luft schnappen, doch ehe er dazu kam, Silas anzuschreien, stockte er.
Schlagartig hüllte sein Körper sich in Kälte. Eine eisige Kälte, welche jede seiner Zellen befallen zu schien. Gänsehaut breitete sich auf seinem Körper aus und rieb schmerzhaft an seiner Haut. Immer tiefer Drang sie in ihm ein und verdrängte alles Positive. Seine Kehle schnürte sich langsam zusammen und Panik überrannte ihn. Er presste seine Beine gegen den Boden und rutschte tiefer in die Couch, in der Hoffnung diesem alles ergreifenden Gefühl zu entgehen, doch es wurde stärker. Intensiver. Seine Haut kribbelte, aber nur für wenige Sekunden, denn im nächsten Moment schien diese unter der Kälte aufzuplatzen.
Plötzlich zerriss ein schmerzerfüllter Aufschrei die tiefe Stille, welche mit der Kälte in den Raum gekrochen gekommen war. Tamo schluckte, doch mit dem Schrei verschwand die Kälte und sofort vernahm er wieder die Wärme in seinem Körper. Die Panik und die Enge in seiner Brust verzog sich und nur Sekunden später, gab es keinerlei Anzeichen mehr, für das eben erlebte.
Tamo zog tief die Luft ein und schüttelte den Kopf.
Du drehst noch durch, Alter! Keine Drogen mehr, sagte er sich und schon war erneut eine Stimme zu hören. Weiblich, aber definitiv eine andere, als vor wenigen Minuten.
»Silas, ich würde ja sagen, es freut mich, dich zu sehen, aber das wäre gelogen. Also, was willst du hier?«
Tamo saß still in seiner Ecke und spitzte seine Ohren. Er hörte, wie Silas tief einatmete und mit leiser Stimme anfing zu reden.
»Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe ... aber ...«
Doch er wurde unterbrochen.
»Es ist mir egal, was du denkst, sagst oder fühlst. Was willst du hier? Und, warum zur Hölle sitzt dort ein blutverschmiertes Arschloch auf meiner Couch?«, hallte die zornige Stimme der Frau durch den Raum.
Tamo schnaubte, doch auch wenn er nichts sah, vernahm er, dass die Blicke auf ihn gerichtet waren.
»Er wurde vor einigen Stunden in meiner Bar abgeliefert. Er trug sein Zeichen und ich wusste nicht wohin sonst«, gestand er mit zitternder Stimme.
»Zeichen?«, fragte die Frau immer noch mit einem drohenden Unterton.
»Auf dem Sack«, sagte Silas.
Ruhe breitet sich aus, doch Tamo registrierte, dass sich ihm jemand näherte. Ihre Anwesenheit schickte ihm einen Schauer über den Rücken und gleichzeitig kam seine Arschlochader wieder zum Vorschein. Sie war eine Frau und es gab nichts im Leben, was er mehr verabscheute.
»Ich beiße«, knurrte er selbstsicher.
Er hörte ein verächtliches Schnauben und zuckte reflexartig zurück. Plötzlich vernahm er ihre Wärme an seiner Wange.
»Und ich fresse im Ganzen«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Und so schnell, wie sie neben ihm stand, war sie scheinbar auch wieder verschwunden.
Sofort zog sich Tamos Brustkorb zusammen und ein Gefühl der Beklemmung wanderte durch seinen Magen. Sein Kopf pulsierte und er schloss die Augen.
Es ist nur ein Traum, begann er sich wieder in die Erinnerung zurufen.
»Was soll ich mit ihm?«, fauchte die Frauenstimme.
»Nur du hast die Möglichkeit, ihn zu beschützen. Außerdem, wir wissen beide, was es bedeuten kann«, erwiderte Silas.
»Interessiert mich nicht«, gab die Frau trotzig von sich.
»Skàdi, bitte. Du kannst doch nicht«, flehte Silas, bevor er mal wieder unterbrochen wurde.
Tamo zuckte zusammen, als er ein tiefes, dunkles, bedrohliches Knurren hörte.
Stolpernde Schritte waren zu hören.
»Nimm ihn weg, Skàdi. Bitte!«, ertönte Silas Stimme zitternd.
Doch das Knurren wurde lauter.
»Bitte!«
Ein verächtliches Seufzen mischte sich unter das Knurren.
»Narcos. Geh!«, raunte sie leise.
Schlagartig kehrte die Stille zurück. Tamo rutschte unsicher auf der Couch hin und her, denn er vernahm die Blicke auf seinen Körper.
»Verpiss dich Silas, und zwar schnell, bevor ich meine Gutmütigkeit vergesse und dein sinnloses Leben beende«, fauchte die Frauenstimme.
»Was ist mit ihm?«, fragte Silas mit belegter Stimme.
»Der ist nicht mehr dein Problem und jetzt hau ab!«
Das war das Letzte, was Tamo hörte, bevor eine Tür zuschlagen wurde, kurz danach ein Motorengeräusch die Stille zerrissen und sich eilig davon bewegte. Er schluckte, denn seine Kehle war schlagartig aufgetrocknet.
Hatte er ihn jetzt wirklich hier sitzen lassen, ohne Erklärung, ohne alles? Und wo zur Hölle war sie hin verschwunden? Er hörte sie nicht und hatte auch nicht mehr das Gefühl, als wäre sie in seiner Nähe.
Er räusperte sich.
»Ähm. Hallo? Ist da jemand?«, fragte er zögerlich.
Doch noch bevor er ausgesprochen hatte, schoss ihm ein stechender Schmerz durch den Nacken. Ein kaltes Brennen breitete sich über seine Schultern aus und schon stieg ein Schleier der Müdigkeit in seinen Geist. Unfähig zu reagieren, rutschte er in sich zusammen und erlag der aufsteigenden Dunkelheit, bis sie ihn vollständig verschlungen hatte.
Game Over?,war sein letzter Gedanke, bevor er das Bewusstsein verlor.
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