
17
Ich sitze hier im Wartezimmer, eingehüllt in meinen Schal, der kaum noch die Kälte vertreiben kann, die mich seit heute morgen nicht loslässt. Ich war dumm, ich hätte mein Arbeitszimmer nie verlassen dürfen. Jetzt habe ich den Salat: Halsschmerzen, ein dröhnender Kopf und ein Husten, der mir jede Minute länger vorkommen lässt.
Mein Blick bleibt wie gebannt an der Uhr hängen. Die Zeiger schleichen dahin. Tick, Tack, Tick, Tack... Die Uhr an der Wand zieht meinen Blick magisch an, als könnte ich die Zeit damit beschleunigen, wenn ich nur lang genug hinschaue. Doch es funktioniert nicht. Stattdessen höre ich das monotone Ticken immer lauter, wie ein Echo, das sich in meinem Kopf verfängt und ihn schwerer macht. Mein Schädel pocht im gleichen Rhythmus und ich frage mich, ob mich dieses gleichmäßige Geräusch beruhigen oder endgültig in den Wahnsinn treiben will.
Mein Hals brennt bei jedem Atemzug und ich ziehe den Schal fester um mich - obwohl die Wärme hier im Wartezimmer fast stickig ist. Ein Husten schüttelt meinen Körper, trocken und scharf und ich spüre die verstohlenen Blicke der anderen Patienten auf mir.
Jetzt sitze ich hier, mein Körper müde, mein Kopf schwer und meine Gedanken kreisen wie die Zeiger der Uhr – immer im Kreis, immer langsamer. Tick, Tack, Tick, Tack. Wie lange noch? Ich presse meine Lippen zusammen und zwinge mich, nicht aufzugeben. Der Arzt wird kommen. Irgendwann. Aber dieses Warten zieht sich wie ein ewiger, zäher Moment, aus dem ich nicht entkommen kann.
Das Quietschen der Tür reißt mich abrupt aus meiner beinahen Hypnose, die das monotone Ticken der Uhr über mich gelegt hat. Meine Augen wandern automatisch zur Tür und ich blinzle überrascht, als ich ein vertrautes Gesicht erblicke. Leonid.
Er wirkt erschöpft, fast gezeichnet. Dunkle Schatten liegen unter seinen Augen und die Schrammen in seinem Gesicht lassen meinen Magen sich zusammenziehen. „Was ist mit dir passiert?“ frage ich alarmiert, während mein Blick an einer tiefen Platzwunde über seiner Stirn hängenbleibt. Die Haut darum ist geschwollen und rötlich, als hätte jemand mit voller Wucht zugeschlagen.
„Ach, halb so schlimm“, murmelt er mit einem schiefen Lächeln, das sofort ins Wanken gerät. „Nur ein kleiner Unfall“ fügt er hastig hinzu und hebt die Hand, als wolle er meine Sorge beiseite wischen. Doch die Bewegung lässt ihn leise zischen und sein Gesicht verzieht sich vor Schmerz. Ich folge seinem Blick und sehe die Hand, die er verbergen will: an den Fingern klebt getrocknetes Blut und der notdürftig angebrachte Verband sieht so aus, als hätte er längst aufgegeben.
Ich ziehe eine Augenbraue hoch, während ich ihn mustere. Ein 'kleiner Unfall' sieht anders aus. Diese Wunden – die Platzwunde, die Schrammen, die ramponierte Hand – sprechen eine deutlichere Sprache, als er es jemals zugeben würde. Das hier ist keine harmlose Geschichte. Es sind die Spuren einer Schlägerei, da bin ich mir sicher. „Leonid…“ beginne ich, aber er schüttelt hastig den Kopf und senkt den Blick. Seine Abwehr spricht Bände.
„Du solltest das richtig versorgen lassen“ sage ich mit fester Stimme. Doch er tut, als hätte er mich nicht gehört und starrt stattdessen ausdruckslos auf die gegenüberliegende Wand. Ein Schweigen legt sich zwischen uns, schwer und unausweichlich.
Leise seufzt er, sein Blick wirkt müde, fast resigniert. „Was denkst du, warum ich beim Arzt bin?“ murmelt er und fährt sich mit der gesunden Hand durch seine leicht feuchten Locken. Die Bewegung legt den Ansatz von Frustration offen, während ein paar vereinzelte Tropfen von seinem Haar auf seine Jacke tropfen. „Ich wollte nicht ins Krankenhaus, also habe ich bis heute Morgen gewartet“ erklärt er mit einer Stimme, die fast sanft klingt und schenkt mir dabei einen Blick, der mich vermutlich beruhigen soll.
Doch etwas daran stimmt nicht. Der feuchte, erdige Geruch, der ihn umgibt und die kleinen Herbstblätter, die noch in seinen Haaren hängen, erzählen eine andere Geschichte. Mein Bauchgefühl schreit förmlich, dass hier mehr dahintersteckt und mein zögerliches Schweigen entgeht ihm nicht.
„Du glaubst mir nicht, hm?“ fragt er schließlich, und seine Stimme ist plötzlich härter, leicht gereizt. Sein Blick sucht meinen, als wolle er mich herausfordern, aber auch gleichzeitig überzeugen. Es fühlt sich fast so an, als würde er sich mehr selbst als mir diese Geschichte aufdrängen wollen.
„Ich war im Wald, ein bisschen spazieren“ beginnt er, als hätte er sich die Erklärung schon zurechtgelegt. „Ich dachte, da wäre ein Wildschwein und bin davon gelaufen. Dabei hab ich die Brille verloren und... na ja, bin frontal mit einem Baum zusammengestoßen.“ Er macht eine Pause, bevor er weiterspricht, die Worte kommen jetzt schneller. „Ich hab dann wild um mich geschlagen, weil ich dachte, das Schwein wäre noch da und bin wohl ein paar Mal mit der Hand an einen Baum geraten. Es war dunkel, neblig... da kann man schon mal einen Baumstamm mit einem Wildschwein verwechseln, oder nicht?“
Seine Augen huschen nervös über mein Gesicht, als würde er nach einem Zeichen suchen, dass ich ihm diese Geschichte abnehme. Innerlich schüttle ich nur den Kopf. Das passt einfach nicht. Das Verletzungsbild, die Schrammen, die Platzwunde – nichts davon ergibt Sinn in dieser absurden Erzählung. Vorallem wer geht gerne wenn es dämmert im Regen spazieren?
Doch ich nicke nur leicht, ein winziges Zugeständnis, mehr aus Erschöpfung als aus Überzeugung. Mein Kopf brummt, meine Glieder sind schwer und in meinem Zustand fehlt mir schlichtweg die Kraft, zu streiten oder tiefer zu bohren. Das Gespräch endet im Schweigen, während ich versuche, die wachsenden Zweifel in meinem Inneren zu ignorieren.
Irgendetwas stimmt nicht. Das spüre ich in jedem seiner Worte, in der Art, wie er meinen Blick ausweicht und sich nervös die Locken aus dem Gesicht streicht. Irgendwas will er mir verheimlichen… doch was? Was ist es, das er so sehr versucht zu verbergen? Mein Kopf dreht sich in endlosen Kreisen um diese Fragen, während das stetige Pochen in meinen Schläfen immer lauter wird. Ein leises Seufzen entweicht mir, halb aus Frust, halb aus Erschöpfung. Ich sollte aufhören, nachzudenken, aber die Unruhe in mir gibt keine Ruhe.
Die Tür zum Wartezimmer schwingt plötzlich auf und reißt mich jäh aus meinen Gedanken. „Cressida Shadowspire?“ Die fröhliche Stimme der Arzthelferin schwebt durch den Raum, so fehl am Platz in diesem stillen, sterilen Umfeld. Ich brauche einen Moment, bis ich realisiere, dass sie mich meint.
Mühsam erhebe ich mich von dem harten Stuhl, meine Beine fühlen sich schwer an, als hätte ich sie stundenlang nicht bewegt. Der Boden unter meinen Füßen scheint für einen Moment zu schwanken, doch ich schüttele das Gefühl ab und zwinge mich, der Arzthelferin zu folgen.
Das Behandlungszimmer ist hell und wirkt auf seltsame Weise beruhigend. Doch während ich mich langsam setze und meine Finger nervös den Schal um meinen Hals kneten, bleibt der Gedanke an Leonid in meinem Kopf haften, wie ein Schatten, der nicht weichen will. Was auch immer er mir verheimlicht – es lässt mich nicht los.
Sylphie hatte recht – es war tatsächlich nur eine Erkältung. Der Arzt bestätigte es mit einem kurzen Nicken, verschrieb mir ein paar Medikamente und erklärte mir, wie ich mich am besten auskurieren sollte. Ein Teil von mir war erleichtert, doch das dumpfe Pochen in meinem Kopf machte es schwer, diese Erleichterung wirklich zu spüren. Mit dem Rezept in der Hand verlasse ich das Behandlungszimmer, meine Gedanken schon bei der Apotheke nebenan, wo ich mir die Medikamente holen werde.
Gerade als ich Richtung Ausgang gehen will, höre ich etwas, das mich stutzen lässt. Die fröhliche Stimme der Arzthelferin schallt aus dem Wartezimmer: „Ephraim St. Denis!“ Für einen Moment bleibe ich wie angewurzelt stehen. Verwirrt drehe ich den Kopf und sehe, wie Leonid – nein, Ephraim? – aufsteht und der Arzthelferin folgt.
Ephraim?! Warum nennt sie ihn Ephraim? Mein Herz schlägt schneller und plötzlich fühlt sich die Luft im Flur seltsam schwer an. Ich starre ihm nach, während er mit der gleichen müden Haltung, die er schon im Wartezimmer zeigte, hinter der Arzthelferin verschwindet. Seine Bewegungen wirken unaufgeregt, als hätte er den Namen nicht einmal gehört.
Doch ich habe ihn gehört. Und jetzt kreist er wie ein sturer Vogel in meinem Kopf: Ephraim St. Denis. Wer ist er wirklich? Der Leonid, den ich kenne – oder jemand ganz anderes? Ein unbehagliches Gefühl schleicht sich in meine Gedanken und plötzlich fühlt sich die Erkältung wie mein kleinstes Problem an.
Was verheimlicht Leonid ihr wohl?
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