01. Geschwisterliebe
,,Du hast was!?", mein Bruder stellte das Weinglas so heftig ab, dass die blutrote Flüssigkeit überschwappte. Sie tropfte langsam über die Tischplatte. Fluchend sprang Giacomo auf und angelte sich das Geschirrtuch, das an einem Hacken in der Küche hing.
,,Ich werde mich bei der Mafia einschleichen. Dafür bezahlt mich Signor Romero gut", wiederholte ich knapp, obwohl ich genau wusste, dass mein Bruder meine Worte bestens verstanden hatte. Und sie gefielen ihm überhaupt nicht. Ich warf dem Mann mit dem dunkelblondem Haar und dem Dreitagebart, der am Ende des Tisches saß, einen schnellen Blick zu, doch Francesco erwiderte diesen nicht, sondern starrte nur abwesend auf seinen Teller Nudeln. Ich unterdrückte ein Seufzen. Ich hätte mir auch keine Hilfe von dem besten Freund meines Bruders erwarten sollen.
,,Du bist verrückt, Malena! Überlass diese Arbeit mir! Ich arbeite für die Polizei, nicht du!", zischte Giacomo aufgebracht. Er umklammerte das Geschirrtuch so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er wusste, wie schwer ich von meinen Plänen abzubringen war. Auch dieses Mal hatte ich nicht vor, sie einfach aufzugeben. Trotzdem funkelte er mich so aufgebracht, doch seine Blicke prallten an mir ab.
,,Nein, du arbeitest nicht für die Polizei!", nun sprang ich auf, ließ meine eiskalte Beherrschung fallen und funkelte meinen Bruder wütend an, ,,Die Polizei ist gekauft und du bist einer der wenigen, der noch seine Arbeit erledigt! Du weißt genau, dass du der Mafia damit ein Dorn im Auge bist und sie dich irgendwann aus den Weg schaffen wollen. Ich werde nicht dabei zusehen, wie sie dich mir auch noch wegnehmen."
Giacomos Blick wurde weicher. Langsam streckte er die Hand aus und strich mir eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Hände fühlten sich rau an. Sie erinnerten mich an die hart arbeitenden Hände meines Vaters. Ich schluckte schwer.
,,Das wird nicht passieren. Ich pass auf mich auf", beschwichtigte er mich. Grob stieß ich seine Hände von mir und drehte mich mit verschränkten Armen weg. Er würde dieses Versprechen nie halten können. Die Mafiosi waren unberechenbar. Man wusste nie, wann und wie sie zuschlagen würden, aber sie waren zu neunzig Prozent tödlich.
,,Du weißt genau, dass das eine Lüge ist."
Giacomo musste nicht, was er darauf antworten sollte. Seufzend ließ er die Arme sinken und sah hilfesuchend zu Francesco. Sein bester Freund zuckte nur unbeholfen mit den Schultern. Es war ihm sichtlich unangenehm, in diese Sache mit reingezogen zu werden.
,,Was willst du überhaupt als Spionin erreichen? Du kannst die Mafia nicht vernichten", meinte Giacomo schließlich, in einem verzweifelten Versuch, die Stimmung etwas zu beruhigen.
,,Amerika. Wir könnten mit dem Geld nach Amerika. Ich will einen Neuanfang, so wie Zia Rosa es bereits gemacht hat", erwiderte ich leise, ohne ihren Bruder anzusehen. Tatsächlich war meine Heimat mittlerweile ein Fluch, der schwer auf meinen Schultern lastete. Man konnte nicht mehr frei und ohne Angst auf den Straßen reden und man musste sich fürchten, nachts den falschen Leuten über den Weg zu laufen und in ihre Intrigien gezogen zu werden.
,,Amerika? Sizilien ist seit Generationen unser Zuhause! Das ist das Land unserer Väter", Giacomos Stimme wurde mit jedem Wort lauter. Kopfschüttelnd wandte auch er sich von mir ab. Ich senkte den Blick. Er hatte unrecht. Es war das Zuhause unserer Väter. Jetzt waren sie entweder tot oder auf der Suche nach dem Amerikanischen Traum.
,,Verdammt! Giacomo, wir haben hier keine Zukunft!", rief ich dem jungen Mann hinterher, der mit einem letzten verächtlichen Schnauben aus der Küche stürmte. Kurz hoffte ich, er würde sich wenigstens nochmals umdrehen, um mich dafür zu tadeln, dass ich geflucht hatte. Für eine Dame gehörte sich das schließlich nicht. Doch Giacomo verschwand ohne ein weiteres Wort. Seufzend blickte ich zu Francesco: ,,Warum muss er so sein?" Warum musste er aufgrund einer Familie, die nicht mal mehr lebte, sein Leben riskieren?
,,Das ist Geschwisterliebe. Er sorgt sich um dich und will mit allen Mitteln verhindern, dass du in Gefahr gerätst", mit einem verständnisvollen Lächeln legte Francesco mir die Hand auf den Unterarm, als ich mich neben ihn setzte. Manchmal verfluchte ich es, dass Giacomo immun gegen meinen Charme war. Normalerweise reichten einige süße Worte, damit die Frauen und Männer zahm in meinen Händen lagen. Doch mein Bruder kannte mich und meine Mittel einfach zu gut, um darauf reinzufallen.
,,Aber ich habe deine Unterstützung, oder?", Francesco wich meinem prüfenden Blick aus. Er fühlte sich sichtlich unwohl in der Situation, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Mein Vorhaben konnte nur gelingen, wenn ich meinen Gegenüber unter Druck setzte. Denn so ungern ich es auch zugab, ich brauchte einen Verbündeten. Ich beugte sich etwas vor und meine blauen Augen durchbohrten Francesco wie Eiszapfen.
,,Ich werde mich bei der Mafia einschleichen. Mit oder ohne dich. Allerdings ist es mit deiner Hilfe wahrscheinlicher, dass ich lebend wieder rauskomme", ich lehnte mich zurück. So entspannt als hätte ich über das Wetter gesprochen und nicht über meinen möglichen Tod. Francesco war hin und hergerissen. Ich hatte ihm die Möglichkeit gegeben sich zu entscheiden, ohne ihm eine Wahl zu lassen. Denn ich wusste, er würde mich nicht alleine lassen und Giacomos Zorn riskieren.
,,Was- was springt für mich raus?", fragte Francesco zögerlich. Obwohl er versuchte zu verhandeln, war ich mir sicher, dass seine Entscheidung bereits gefallen war.
,,Du könntest uns nach Amerika begleiten. Endlich ehrliche Arbeit finden und eine tolle Frau, ohne täglich um das Leben deiner neuen Familie zu fürchten. Ein neuer Anfang." Francesco nickte langsam. In seinen dunklen Augen glomm Hoffnung auf.
,,Aber- aber willst du dich wirklich in eine solche Gefahr begeben? Das Risiko ist groß", versuchte Francesco halbherzig mich umzustimmen. Statt einer Antwort hob ich nur abwartend eine Augenbraue, während ich ihn musterte. Francesco wich meinem stechenden Blick aus und nickte hastig.
,,In Ordnung, ich helfe dir."
Ich unterdrückte ein triumphierendes Lächeln.
,,Halte meinen Bruder davon ab mir zu folgen", meinte sie knapp.
,,Was? Du brauchst mich nur dafür? Ich dachte, ich sollte dir helfen", protestierte der junge Mann händefuchtelnd.
,,Keine Sorge, das ist nicht alles", entgegnete Malena leicht genervt. Ich schaffte es mit jeder vergehenden Minute weniger meine Ungeduld unter Kontrolle zu halten. Ich hatte das Gefühl, keine Zeit mehr verlieren zu dürfen. Jede verinnende Sekunde war wertvoll.
,,Ich will richtig helfen! Ich will mich mit dir gemeinsam in die Mafia einschleichen, dich beschützen. Wenn dir etwas passieren würde, wäre dein Bruder am Boden zerstört", fügte Francesco stur hinzu. Ich unterdrückte ein Seufzen.
,,Ich hab gesagt, dass du noch eine weitere Aufgabe hast", knurrte ich, ,,Aber du hilfst mir am meisten, wenn du nicht mitkommst. Denn im Notfall bist du in der richtigen Position, um mich rauszuholen." Aber ich verschwieg, dass eine Rettung höchstwahrscheinlich ohnehin zu spät kommen würde. Ich durfte einfach nicht auffliegen, denn die Effizienz und Tödlichkeit der Mafia wollte ich nicht herausfordern.
,,I- In Ordnung", murmelte Francesco schließlich zögerlich. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, sprang ich auf und klatschte vorfreudig in die Hände.
,,Entzückend. Dann können wir uns an die Arbeit machen", ich schenkte dem Mann ein strahlendes Lächeln, dem bei diesem Anblick fast die Augen aus dem Kopf fielen. Ich sah nicht aus, als würde ich in den Tod laufen, sondern als hätte ich bei der Lotterie den Hauptgewinn gezogen.
,,Ich habe mich bereits über die wichtigsten Dinge informiert, mir eine passende Geschichte zurechtgelegt...", ich warf dem Mann einen verschwörerischen Blick zu. Ich war mir meiner Sache sicher. Die letzten Wochen hatte ich damit verbracht die Stadtviertel der reichen Familien auszukundschaften, mich unauffällig zwischen den Leuten auf der Straße zu mischen und Augen und Ohren offen zu halten. Die gewöhnlichen Handwerker und Händler waren zwar von der Mafia eingeschüchtert, aber nicht so sehr, dass sie für ein paar zusätzliche Lire nicht redeten.
,,Ich brauche eine neue Identitätskarte, die du mir bei der Polizei besorgen könntest", ich kramte eine Weile in meiner Handtasche, bis ich endlich einen Zeitungsartikel herauszog. Den Fetzen Papier legte ich vor Francesco auf dem Tisch.
Versteckt sich die Camorra hinter diesem unschuldigen Gesicht einer Frau? Der Wolf ist im Schafspelz unterwegs. - Lesen sie den kompletten Artikel auf S. 5
Über der knappen Ankündigung war ein Foto abgebildet. Mir schauderte es beinahe davor, wie ähnlich die Gesichtszüge der jungen Frau den meinen waren.
,,Das ist Sofia De Giudice. Sie ist den Gerüchten nach die Tochter eines Mannes, der einen einflussreichen Clan in Neapel anführt", erklärte ich mit leiser Stimme. Immer wieder huschte mein Blick zur Tür, aber Giacomo war immer noch nicht aufgetaucht.
,,Besorg mir ihre Identitätskarte. Ich bin mir sicher, die Cosa Nostra interessiert es, was die napolitanische Mafia so treibt", fuhr ich nachdrücklich fort. Francesco nickte. Langsam schien der Plan auch in seinen Augen Farbe anzunehmen.
Ich war zufrieden mit meiner Arbeit. Langsam wurde mein Plan bereit zur Umsetzung. Ein letztes Mal sah ich zu der Tür, die ins Zimmer meines Bruders führte. Für einen Augenblick flackerte der Hauch eines schlechten Gewissens in mir auf, aber das war wieder so schnell verschwunden wie es gekommen war. Ich brauchte seine Unterstützung nicht, um meine Ziele zu erreichen. Je weniger er mit der Mafia in Kontakt geraten würde, desto besser konnte ich ihn schützen. Und das war in diesem Moment alles, was zählte.
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