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POV Mino:
Nein! Alles das war besser, als am Ende in einem Waisenhaus zu landen! Und in diesem Augenblick war es eh zu spät, meine Entscheidung zu ändern, ich war ja schließlich schon fast an der Brücke. Wer wäre ich denn, wenn ich jetzt umkehren und einfach nicht kommen würde?
Ein sehr asozialer Mensch, beantwortete ich meine eigenen Fragen in Gedanken selbst. Warum antwortete ich immer auf rhetorische Fragen?
Doch diese Frage löschte sich sofort wieder aus meinem Kopf, als ich sah, dass Noah in meine Richtung winkte. Er stand mit einem großen Rucksack bewaffnet vor der Brücke, an der wir uns verabredet hatten. Neben ihm stand seine um ein knappes Jahr ältere Schwester Daniela mit einer nicht bedeutend kleineren Tasche neben sich.
Dagegen war mein Rucksack nichts, obwohl auch dieser schon mehrere Tonnen wog. Zumindest kam es mir so vor. Von der anderen Seite kam genau in dem Moment Mirko aus meiner Parallelklasse angelaufen, einen Turnbeutel mit sich tragend. Noah hatte scheinbar seine Organisationspflicht, welche er sich selbst gegeben hatte, sehr ernst genommen. Denn auch Joana, welche in einem blauen Hoodie ein oder zwei Meter hinter Daniela stand, wurde von ihm in die Gruppe geholt.
Ich lief ein wenig schneller, ohne besonderen Grund, einfach, um vor Mirko an der Brücke zu sein. Dieser nahm mein schnelleres Gehen allerdings als Herausforderung zum Wettlauf, was es in gewisser Weise ja auch war. Er kam von der anderen Flussseite über die Brücke gesprintet, als würde es um Leben und Tod gehen.
Soll der sich ruhig austoben, dachte ich schmunzelnd, als ich abrupt abbremste, nur um danach in Schrittgeschwindigkeit weiterzugehen. „Erster!", hörte ich Mirko von der Brücke aus rufen, was von Noah nur mit einem Lachen und einem sarkastischen „wow" begleitet wurde.
„Jetzt fehlt nur noch Florentin", kommentierte Noah meine Ankunft. In diesem Moment kam der Besagte auf uns zugelaufen. „Wenn man vom Teufel spricht", lachte Noah, ehe er sah, wie Florentin aussah: Er hatte eine riesige Beule an der Stirn und sein Arm war von blauen Flecken, einer davon bestimmt größer als eine Gummibärchenpackung.
„Ist alles okay? Was ist passiert?", wechselte er sofort zu seiner mitfühlenden Seite.
Das war generell eine Besonderheit bei Noah: Er konnte in jeder Situation seine Reaktion anpassen und seinen Charakter plötzlich wechseln, als wäre er ein Schauspieler. Und so blickte er jetzt besorgt auf die Beule des Neuntklässlers.
„Ich musste unser Haus diesmal durch das Fenster im Wohnzimmer verlassen, weil an der Haustür nachts die Alarmanlage läuft. Und dann hätten meine Eltern auf jeden Fall die Polizei gerufen."
„Okay, aber was hat das jetzt damit zu tun?", hakte Mirko mit besonderer Betonung auf das ‚Damit' nach.
„Als ich durch den Fensterrahmen klettern wollte, habe ich mir den Kopf gestoßen und dann..."
Ich musste lachen. Ich wusste nicht, wieso, aber immer, wenn sich jemand den Kopf stieß, oder davon erzählte, konnte ich mich einfach nicht zurückhalten. Es war kein lautes Lachen, allerdings auch nicht nur ein leichtes Schmunzeln. Irgendwie war es etwas dazwischen und ich konnte nicht sagen, was es war.
Florentin hob drohend seine Faust, konnte sich jetzt allerdings auch kein Lächeln mehr verkneifen. Trotzdem wich ich reflexartig einen Schritt zurück.
Doch in dem Moment senkte er seine Faust wieder und blickte mich mit einem nicht wirklich ernstgemeinten „Das wirst du mir noch büßen"-Blick an.
„Daher kommt die Beule?", versuchte ich, mich vorsichtig wieder in das Gespräch einzuklinken.
„Ja", kam es trocken von Florentin zurück, während sich dieser noch einmal einen seiner blauen Flecken hielt, nach meiner Wahrnehmung den Gummibärchenpackungsfelck.
„Und wie hast du das da bitte geschafft?", Mirko deutete auf Florentins verbeulten Arm.
„Bin ausgerutscht und dann voll gegen unseren Zaun geflogen", musste der Verunfallte selbst lachen. „Zum Glück haben meine Eltern das nicht gehört. Ihr wisst ja, die schlafen wie ein Stein, aber so laut, wie ich geflucht habe, hätten sie das hören müssen."
„Lasst uns jetzt aber losgehen. Es ist schon nach Mitternacht", verhinderte Florentin selbst, dass auf seine Schilderung noch einmal geantwortet wurde.
Als er das sagte und von uns allen mit einem Nicken bestätigt wurde, starrte ich noch einmal in das klare Blau des Flusses. In diesem Moment konnte ich nicht wissen, ob ich diesen Ort, diese Brücke, jemals wiedersehen konnte. Ich winkte dem Fluss so kindisch, als wäre er ein Familienmitglied, welches ich nie wieder sehen konnte. Allerdings bedeutete er für mich Heimat. Vor allem, wenn niemand wusste, wohin die Reise gehen sollte.
Der Mond, welcher sich im klaren Wasser spiegelte, war noch nicht ganz am Zenit angekommen. Daher hatten wir eine kleine Orientierung. In der Stadt wussten wir alle in- und auswendig, wo Norden, Süden, Osten und Westen waren und wie man am schnellsten von A nach B kam. Aber außerhalb hatte niemand von uns auch nur die geringste Ahnung, von wo es jetzt wohin ging, und wie man in eine bestimmte Himmelsrichtung kommen kann.
Ich warf dem Wasser einen letzten Blick zu, nachdem wir den Fluss nordwärts überquert hatten und langsam in Richtung Stadtrand liefen. Noah, welcher vorausging und quasi die Gruppe leitete, entschied sich zu meiner Erleichterung, an der Seitengasse vorbeizugehen. Es fühlte sich komisch an, jetzt womöglich für immer die Heimat zu verlassen.
Vor diesem Ort graute es mir schon mein Leben lang. Und ich wusste nicht, wieso. Meine Vermutung war immer, dass jemand im Kindergarten erzählt hatte, dass es dort Geister gab. Natürlich, niemand würde so etwas glauben, allerdings war ich im Kindergarten unglaublich naiv und verstand nichts von Ironie und überhaupt vertraute ich zu meiner Kindergartenzeit jedem Menschen.
Für mich konnten damals nur Leute lügen, oder etwas Witziges erzählen, wenn sie dabei Lachten. Es passte nicht in meinen Kopf rein, wie man Unsinn erzählen konnte, ohne, dass man es lustig fand. Und wenn man etwas lustig fand, musste man ja Lachen. Das war so ziemlich meine Logik im Kindergarten.
Auf dem Weg aus der Stadt hinaus sprachen wir gar nicht miteinander. Ich war wohl nicht der einzige, in dessen Kopf tausende Gedanken umherschwirrten, was in so einer Situation meiner Meinung nach kein Wunder war. Wieso mussten manche Sachen so kompliziert sein? Ich suchte in meinem Kopf nach Lösungen, ehe mir auffiel, dass ich mir ja abgewöhnen wollte, auf rhetorische Fragen zu antworten. Da merkte ich immer, wie schwierig es war, alte Gewohnheiten abzulegen. Auch wenn es nur Kleinigkeiten waren.
Schließlich passierten wir noch einmal den Bolzplatz, der in meiner Freizeit faktisch mein zweites Zuhause war. Am liebsten hätte ich auch jetzt wieder meinen Ball ausgepackt, um eine Runde zu kicken, aber gerade war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt. Zu groß das Risiko, entdeckt und nach Hause geschickt zu werden, zu groß der dadurch entstehende Zeitverlust.
Dann standen wir vor dem Ortsausgangsschild. Noah hielt kurz an, sodass auch ich stoppte und damit die ganze Gruppe. Ich hielt kurz inne und atmete einmal durch, danach wich mein Blick auf den glasklaren Sternenhimmel, ehe Noah sich wieder in Bewegung setzte und ich damit ebenfalls weiterlief, wodurch ich endgültig meine Geburts- und Heimatstadt verließ.
1155 Wörter (Geschichte)
1220 Wörter (Gesamt)
Okay, mir ist selbst klar, dass es unfassbar lange gedauert hat, bis dieses Kapitel endlich kam. Aber jetzt habt ihr es. Ich hab an sich ziemlich lange gebraucht, aber natürlich auch viel nichts gemacht. Heute bin ich dann endlich fertig geworden und hab das Kapitel überarbeitet. Ich hoffe, das Kapitel war wenigsten okay, wenn ja, kommentiert gerne irgendwas (eigentlich egal, was genau)
Leanut
21.04.2024
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