Dustin tat etwas, das er die gesamte Zeit, in der ich ihn kannte, nicht ein einziges Mal zuvor getan hatte. Er setzte seine Schirmmütze ab.

Er hielt sie vor sein schlagendes Herz und atmete tief durch, ehe er nach seinem Rucksack griff und den Reißverschluss quälend langsam öffnete.

„Bist du festgewachsen, oder was? Mach hinne, Henderson!", fluchte Steve und fuhr sich zum wahrscheinlich tausendsten Male durch das strähnig gewordene Haar.

Dustin kniff die Augen zusammen und warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Dann fischte er ein abgewetztes Buch aus dem Rucksack und hielt es für den zarten Moment eines Augenblicks in die Höhe.

„Tut mir sehr leid, wenn mich das Entschlüsseln eines Morsecodes nervös macht. Das letzte Mal, als wir ein Geheimnis gelüftet haben, steckten wir kurz darauf in einem geheimen Fahrstuhl der Russen fest."

Obwohl ich die Geschichte über das Geheimlabor der Kommunisten kannte, konnte ich nicht anders als ungläubig den Kopf zu schütteln.

Die Abstrusität ihrer Erlebnisse wäre selbst einem Stephen King nicht in den Schoß gefallen, so etwas konnte man sich einfach nicht ausdenken.

Um die qualvolle Warterei irgendwie zu überbrücken, hatte es sich Robin zur Aufgabe gemacht, die Zentimeterdicken Staubschichten von sämtlichen Möbeln zu entfernen.

Dabei sah sie immer wieder angeekelt auf den Wischlappen, der jetzt nur noch aus Dreck zu bestehen schien.

„Okay, also. K.", murmelte Dustin beschäftigt und zeichnete mit seinen Fingern die verschiedenen Morsecodes nach.

„A.", sein Finger lag jetzt auf besagten Buchstaben, - der Code stellte einen Punkt und ein Strich dar -

Dann beendete er seine Übersetzung, mit dem letzten Buchstaben. „S"

Dustin Henderson sah uns mit einer Mischung aus Erkenntnis und absoluter Hysterie an.

Und das machte mich verflucht nervös.

Bevor ich etwas sagen konnte, regte sich Lucas, der Junge mit dem dunklen Hautton, zum ersten Mal.

Zuvor hatte er völlig in sich gekehrt auf einem Sessel gesessen und auf einen Brief in seiner Hand gestarrt.

„Kas?", fragte er und warf Dustin und Mike einen erstaunten Blick zu.

„Kas? Was Kas? Kassette? Kasserolle?", fragte Robin hektisch und gestikulierte dabei wie wild mit ihren Händen.

„Was ist eine Kasserolle?", fragte Steve sichtlich irritiert und kniff dabei die Augen leicht zusammen.

„Das ist ein Topf zum Schmoren. Meine Mom hat da immer Braten mit gemacht. Der wird dadurch richtig zart und lecker. Ich mag Putenbraten im Allgemeinen aber lieber als Schweinebraten. Schweinebraten haben immer diese Knorpel. Das mag ich einfa-" Robin verstummte und sah betreten zu Boden.

Ich liebte sie für ihre witzigen Wortergüsse, aber in diesem Moment konnte ich nicht darauf eingehen.

„Was bedeutet das?", fragte ich ungeduldig und begann wieder damit einen losen Faden an meinem Shirt aufzuwickeln.

Meine Großmutter hatte mich immerzu dafür getadelt und gewarnt, dass sich dadurch das ganze Kleidungsstück aufrollen und in sich zusammenfallen würde.

Lucas ging jetzt viele hektische Schritte durch den zugegebenermaßen nicht gerade großen Raum, seine Hände waren in den Taschen seiner Jeans verschwunden.

War er zuvor die Ruhe selbst gewesen, in einer trauernden Trance, den Blick nur auf den Briefumschlag gerichtet, so war er jetzt das komplette Gegenteil.

„Ihr macht mich alle sowas von nervös.", beschwerte sich Mike, der hinter Jane stand und seine Hände ungelenk auf ihren Schultern abgelegt hatte. Er sah so hilfsbedürftig aus, dass es mir beinahe ein Grinsen auf die Lippen gezaubert hätte. Er hatte wirklich absolut keine Ahnung wie er mit einem Mädchen umzugehen hatte.

Janes tiefbraune Augen hingegen fixierten das Buch, mit dessen Hilfe Dustin unseren Morsecode entschlüsselt hatte.

„Kas. Kas, wie in das Schwert von Kas? Wie Kas der Betrüger?", Lucas Mimik sprach von purem Entsetzen und Ungläubigkeit.

Dustin nickte ihm zögerlich zu, sein Mund stand vor Überraschung weit offen und allein bei diesem Anblick spürte ich, wie mein Hals trocken wurde.

„Ich verstehe kein Wort.", sprach Robin und die geringe Anzahl an Worten überraschte nicht nur mich, auch Steve warf ihr einen stutzigen Blick zu.

Ich war kurz davor den Verstand zu verlieren. So viele Worte, die durch den Raum hallten, aber keines davon war mir irgendwie nützlich.

„Nach vielen Jahren der Loyalität betrog Kas Vecna und tötete ihn.", Dustins Stimme tönte bedächtig durch die Holzhütte, als er aus seinem Buch vorlas.

Ich ging die wenigen Schritte, die uns noch trennten auf ihn zu und beugte mich über ihn, um mitlesen zu können.

„Kas der Schlächter. Es wird gesagt, dass das Schwert selbst ihm zuflüsterte, Vecna, seinen Meister, zu töten.", las ich ab.

Ich lachte höhnisch auf und wandte mich von der Gruppe ab.

Eine Figur aus ihrem dämlichen Spiel. Nichts als eine Fabelgestalt, die mich dafür auslachte, einen Rest Hoffnung gehabt zu haben.

Mein Morsecode war nichts weiter als eine Einbildung und ihre Vermutung nicht mehr als eine Kampagne ihres Fantasyspiels.

„Bekah.", murmelte Dustin und trottete auf mich zu. Am liebsten hätte ich ihn weggestoßen.

Und noch viel lieber hätte ich das Buch genommen, es in abertausende Fetzen zerrissen, angezündet und drauf gespuckt.

Für mich machte das alles überhaupt keinen Sinn. Wie passte es zusammen, dass ich Eddie gesehen hatte, wie konnte es ein Streich gewesen sein, wenn es sich so real anfühlte?

„Bekah, bevor du jetzt austickst.", murmelte Dustin und schrie im nächsten Moment auf, weil Robin ihm eine auf den Hinterkopf verpasst hatte.

„Austicken, ehrlich? Ein anderes Wort ist dir nicht eingefallen?", zischte sie zwischen ihren Lippen hervor, weil sie ihre Zähne fest aufeinanderdrückte.

„Kas ist-", Lucas verstummte, weil er wieder den Brief in seinen Händen bemerkte und legte ihn dann bedächtig auf dem Couchtisch ab. Er war dabei so vorsichtig als hielte er ein rohes Ei in den Händen.

Noch einen weiteren Herzschlag lang betrachtete er traurigen Blickes den Umschlag, dann richtete er sich auf und ging auf mich zu.

„Kas ist eine Figur aus DnD. Das stimmt schon. Aber Vecna war es ja auch. Das muss etwas bedeuten.", mutmaßte er.

„Ganz bestimmt sogar!", warf Dustin ein.

Er wedelte aufgeregt mit dem Buch vor unser aller Augen herum, wollte uns mit seiner Begeisterung anstecken.

Aber ich fühlte nichts als Leere und verlorenen Kampfgeist.

„Kas tötet Vecna. Und wenn es Elfie nicht konnte, dann muss er es tun! Denkt doch mal nach, so war es in unserer Kampagne doch auch! Da gab es keine Elfie. Da gab es nur Kas, den Blutigen. Und er hat uns vor Vecna gerettet. Das kann kein Zufall sein, Bekah!", schrie er immer aufgebrachter.

„Okay. Angenommen eure absolut dämliche Theorie stimmt.", sprach Steve und wandte sich mir entgegen. „Was hat das dann mit der Halluzination von Eddie zu tun?"

„Ich finde es beachtlich, dass du gleich zwei Fremdworte in deinem Satz einbaust. Aber ich habe tatsächlich dieselbe Frage.", sagte Robin.

Ehe Steve kontern konnte - man sah deutlich in seiner Mimik, dass er genau das vorhatte - ergriff ich das Wort.

Der einzige Grund, weshalb ich nicht wütend auf Steve wurde, weil er das Wort Halluzination anstatt Erscheinung gewählt hatte, war der, dass wir Wichtigeres zu tun hatten.

Dennoch verletzte es mich, dass er, derjenige dem ich als Erstes anvertraut hatte Eddie gesehen zu haben, mir immer noch keinen Glauben schenkte.

Der Rest der Truppe war schließlich direkt auf meine Schilderungen angesprungen. Und nachdem was sie alle gemeinsam erlebt hatten war da das Auftauchen eines Geistes - oder was auch immer er gewesen sein mochte - so absurd?

„Warum würde Eddie von Kas sprechen? Wollte er uns vor ihm warnen?", fragte ich, woraufhin Mike vehement mit dem Kopf schüttelte.

„Nein.", sagte er und wieder war ich verwundert darüber, wie achtsam seine Stimme klang, wenn er sprach. „Kas ist der Retter. Vielleicht will Eddie uns helfen."

„Aber wie, wenn er tot ist?", flüsterte ich verständnislos.

Die andere Realität, von der sie immer sprachen - was war in ihr? Welche Möglichkeiten gab es? War Eddie ein Geist? War seine Seele dort gefangen? Spielte Vecna nur mit uns, um uns zu ihm zu locken? Wollte er Elfie endlich töten und nahm mich als Lockvogel? Weil er genau wusste, dass jede noch so kleine Chance Eddie wiederzusehen für mich wie ein Tropfen Wasser auf heißem Stein war? Weil er wusste, dass ich nichts unversucht lassen würde?

„Vielleicht ist er es nicht.", durchbrach Dustin meine Gedanken.