𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝟻: 𝚐𝚎𝚐𝚊𝚗𝚐𝚎𝚗

»𝐕𝐄𝐑𝐌𝐔𝐓𝐋𝐈𝐂𝐇 𝐆𝐈𝐁𝐓 𝐄𝐒 𝐒𝐂𝐇Ö𝐍𝐄𝐑𝐄 𝐀𝐑𝐓𝐄𝐍 𝐆𝐄𝐖𝐄𝐂𝐊𝐓 𝐙𝐔 𝐖𝐄𝐑𝐃𝐄𝐍. Tatsächlich könnte ich dir auf der Stelle fünf nennen.«, flötete Robin mir entgegen und ließ eine Tüte mit frisch aufgebackenen Brötchen auf den verschlissenen Campingtisch fallen.
Der Duft erinnerte mich an warme Sommermorgen in den Schulferien, an denen sich meine Mutter extra für die Spätschicht eintrug, nur um mit mir gemeinsam frühstücken zu können.
Ich hatte immer so getan als wäre mir ein Brötchen schon genug, damit mindestens eines übrig blieb, dass ich dann für Eddie belegte und mitnahm.

Er bekam zu Hause nicht sonderlich viel zu essen.
Oft kaufte er sich ein paar Snacks an der Tankstelle.
Eddie lebte quasi von Käseflips und Trinkpäckchen.
Noch heute konnte ich keine Packung öffnen, ohne bei dem penetranten chemischen Käsegeruch an ihn denken zu müssen.
Wenn man darüber nachdachte war eigentlich schon armselig wieviele Kleinigkeiten zu einem ständigen Begleiter in meinem Herzen wurden, nur, weil sie mich an Eddie erinnerten.
Möglicherweise war das das wirkliche Problem an mir.
Meine Unfähigkeit loslassen zu können.
Schließlich hatte mich das Fehlen dieser Fähigkeit dazu gebracht, dass ich hier war.

»..zehn vielleicht sogar. 15, wenn es nicht jugendfrei bleiben muss.«, holte mich Robin in die Gegenwart zurück.
Ich wollte lachen, sehr sogar.
Robin's humorvolle Ader war etwas, dass ich unter anderen Umständen als liebenswert bezeichnet hätte.
Aber die Erinnerung an meine Mutter und an das, was Eddie hatte durchmachen müssen, lies nur ein zaghaftes Lächeln übrig.
»Wo hast du deine bessere Hälfte gelassen?«, necke ich sie und wich daraufhin einem durch die Luft fliegenden Brötchen aus.
Angewidert hob ich es vom klebrigen Boden auf und warf es in die Plastiktüte, die an der Tür hing und als Mülleimer fungierte.
»Ich würde mal sagen die drei-Sekunden-Regel wird in diesem Dreckstall außer Kraft gesetzt.«

»Du musst dringend hier raus.«, pflichtete sie mir bei und biss dann beherzt in ein Schokobrötchen.
Ich selbst pflückte mein Brötchen eher auseinander, als dass ich wirklich davon aß.
Obwohl mein Körper hungerte, brachte ich es nicht über mich, ihn mit dringend benötigter Nahrung zu füttern.
»Und Steve parkt das Auto um. Nachdem wir die Schmiererei an Mr. Munson's Trailer gesehen hatten, wollen wir auf Nummer sicher gehen. Steve's Auto ist sein ganzer Stolz. Schätze hätte er Geschwister, würde das Auto dennoch ganz vorne liegen. Wobei er echt gut zu den Kids ist. Er und Du..-«
»Munson?«, unterbrach ich sie fassungslos.

»Äh...ähm...oh.«, stammelte Robin und es war mehr als offensichtlich, dass sie etwas ausgeplaudert hatte, dass sie vielleicht lieber für sich behalten hätte.
Dann seufzte sie resignierend und legte ihr restliches Brötchen beiseite.
»Also gut...Eddies Onkel wohnt gegenüber. In regelmäßigen Abständen wird sein Vorgarten verwüstet und sein Trailer beschmiert. Einmal nutzen sie sogar Schweineblut.«
Ungläubig sah ich sie an.
Wie groß konnte der Zufall darüber sein, dass ich hier nächtigte, während die Lösung zum Ende meiner Suche vielleicht direkt vor meiner Nase lag?
Hatten sie mich absichtlich hier hingelockt?
War das Motel doch noch funktionstüchtig?

Nein. Das ergab keinen Sinn.
Schließlich hatten die beiden dringlichst versucht mir genau diese Tatsache zu verheimlichen.
Und Robin hatte dabei haushoch verloren.
Ich musste mit ihm sprechen, ich musste einfach.
Ich konnte diese Gelegenheit nicht schwinden lassen.
»Woah, woah, woah.«, warf Robin ein und stieß dabei abwehrend die Hände in die Luft.
»Den Gedanken verwirfst du besser wieder. Er spricht mit niemanden. Erstrecht nicht seitdem Gespräch mit Dustin. Das hat ihm echt den Rest gegeben.«
»Dustin?«, setzte ich zu einer weiteren Frage an, zu deren Fertigstellung ich allerdings nicht mehr kam, weil in just diesen Moment Steve mit dem Fliegengitter zusammenstieß.

Robin quittierte seine Unbeholfenheit mit einem Augenrollen, währenddessen versuchte ihn irgendwie von dem Vorhang zu befreien.

»𝐖𝐀𝐒 𝐈𝐒𝐓 𝐌𝐈𝐓 𝐇𝐄𝐍𝐃𝐄𝐑𝐒𝐎𝐍?«, fragte er.
»Moment.«, stutzte er und legte seine Stirn in Falten.
»Du weißt von ihm?«, fragte er mich.
»Sie weiß von ihm?«, wandelte er seine Frage nur geringfügig um und warf Robin dabei einen unsicheren Blick zu.
Diese nickte nur zaghaftbund ließ sich auf der Matratze nieder.
Steve massierte nachdenklich seinen Kopf und begann mehrmals einen Satz, beendete ihn aber nicht.

Letztendlich ließ er sich seufzend neben Robin sinken und streckte seine Hand aus.
Abermals rollte Robin mit den Augen, griff in die Vordertasche ihrer khakifarbenen Stoffhose und legte Steve eine zehn Dollarnote in die Hand.
»Schön, hast du eben gewonnen. Aber nur, weil du noch dein dämliches Auto umparken musstest.«
»Mein Auto ist nicht dämlich. Du allerdings schon. Ich war mir so sicher, dass du dich verplappern wirst.«, zog Steve sie auf.

»Was zum...?«
Ich atmete tief durch und ballte die Hände zu Fäusten.
»Was zum Teufel ist hier los? Ihr habt darauf gewettet, wer von euch beiden mir aus Versehen doch die Wahrheit sagt?«
Meine Wut kannte in den wenigen Augenblicken, in denen ich auf die Reaktion von einem der beiden wartet, keine Grenzen.
Wie war es möglich, dass sie all das auf die leichte Schulter nahmen?
Ihnen war kaum mehr Zeit als ich hatte geblieben, um sein Abtauchen zu verarbeiten.
Und trotzdem brachten sie es zustande, eine Wette einzugehen?
Das hier war kein Spiel.
Hier handelte es sich nicht um Schere Stein Papier.
Es ging um Eddie und sein Verschwinden.

Ihre Worte, ihre Taten, alles daran war widersprüchlich.
Nichts von alledem machte irgendwie Sinn.
So sehr ich auch daran versucht.
In Momenten wie diesen wünschte ich mir, eine allwissende Person zu sein.
Unter diesen Umständen hätte ich so mit Leichtigkeit herausgefunden, dass das was sie mir gleich erzählen würden, zwar nicht gelogen war, aber ein elementarer Teil einfach weggelassen worden war.
Und, dass es noch eine ganze Weile brauchen würde, bis ich den Rest erfuhr.

Steve hatte mich einen Moment lang angestarrt, sogleich aber seinen Blick betrübt gesenkt und sich fortan auf seine Schuhe fokussiert.
Keiner von ihnen sprach ein Wort, eine kleine Ewigkeit lang nicht.
Mit jedem Atemzug, der verging ohne, dass sie etwas sagten, wurde mein Körper unruhiger.
Am liebsten wäre ich durch die Gegend getigert oder hätte die Zeit totgeschlagen, in dem ich mich auf etwas anderes fokussierte.
Aber es gab nichts, dass mich brennender interessierte und nichts, dass mich irgendwie hätte ablenken können.
»Eddie ist nicht nur verschwunden, er ist..tot.«, flüsterte Steve ohne seinen Blick anzuheben.
Und auch, wenn ich seine Mimik nicht erkennen konnte, wusste ich in diesem Moment genau, wie sie aussah.
Ich hatte dieselbe, als meine Mutter starb.
Trauer. Unverständnis. Ungläubigkeit. Verzweiflung.