
𝗞𝗔𝗣𝗜𝗧𝗘𝗟 𝟲𝟭 - 𝗞𝗘𝗜𝗡 𝗔𝗕𝗦𝗖𝗛𝗜𝗘𝗗 𝗙Ü𝗥 𝗜𝗠𝗠𝗘𝗥
Ein paar Wochen später
Es sind gerade Sommerferien und morgen fahre ich mit meiner Familie nach San Francisco. Mittlerweile habe ich mir abgewöhnt, die Tage seit Audens Tod zu zählen.
Okay. Nein, das stimmt nicht. Heute ist es 63 Tage her, seit ich ihm das letzte Mal in die Augen sah und sagte, dass ich ihn liebte. Jeder einzelne Tag, der vergeht, zerreißt mir noch immer das Herz. Meine Liebe zu ihm lässt nicht nach, doch ich versuche, irgendwie weiterzumachen. Inzwischen schaffe ich es aber wenigstens, Audens Lederjacke auszuziehen, auch wenn sie immer am Haken hängt, damit ich sie anziehen kann, sobald ich das Haus verlasse. Leider ist sein Geruch mit der Zeit durch meinen überlagert worden, aber das ist okay. Ich hasse diese Tatsache zwar, aber trotzdem liebe ich sie nicht weniger. Genauso wie ich auch Auden mit jedem vergangenen Tag nicht weniger liebe.
„Cassie!" Überrascht zucke ich zusammen und gehe nach unten, wo mein Dad die Türklinke in der Hand und die Tür angelehnt hält. „Besuch für dich." Ich habe gar nicht mitbekommen, dass es geklingelt hat. Mehr sagt er nicht. Stattdessen verschwindet er in die Küche.
Stirnrunzelnd öffne ich die Tür und halte überrascht inne.
„Mich hättest du jetzt nicht erwartet, was?", sagt JJ mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Layla sitzt auch im Auto und freut sich, dich wiederzusehen."
„Äh... aber, aber wir kommen euch doch morgen besuchen", stammele ich vor mich hin, denn genau das war abgesprochen. Meine Familie hat eingewilligt, drei Wochen Urlaub in San Francisco zu machen. Es war mein Vorschlag, dorthin zu fahren, weil ich JJ besuchen wollte und hoffte, so Auden und seinem früheren Leben näher sein zu können. Außerdem dachten Mom und Dad, etwas mehr Familienzeit würde und guttun.
„Ich weiß, aber wir haben noch etwas zu erledigen."
Verwirrt starre ich ihn an. „Wovon redest du?"
Sein Grinsen verrutscht etwas. „Hol deine Jacke und ich zeige es dir."
Ich bleibe stehen und verschränke meine Arme vor der Brust. „Und du denkst, wenn du sowas sagst, steige ich einfach so in dein Auto ein, oder was?"
Sein Grinsen wird wieder breiter. Natürlich hat er das gedacht. Schließlich war es bei Auden nie anders. „Es ist eine Überraschung."
Ich seufze und stimme schließlich zu.
„Schnapp dir deine Lieblingsjacke und los geht's."
Ich zucke kurz zusammen und laufe schnell nach oben, um sie zu holen. Mein Blick bleibt an meinen Spiegel neben dem Schrank hängen und ich betrachte mich. Diese abgetragene schwarze Lederjacke passt nie so wirklich zu meinen restlichen Klamotten und doch liebe ich genau das an ihr. Ich weiß nicht, ob Auden von seinem äußerlichen her zu mir passte, was auch immer so etwas bedeuten soll. Aber ich bin mir sicher, dass er der fehlende Teil meines Inneren war. Ist. Immer sein wird. Und deshalb liebe ich diese Jacke. Wenn ich sie trage, habe ich das Gefühl, als würde ich in seinen Armen liegen. Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen und mir wird klar, dass ich schon seit einigen Tagen nicht mehr geweint habe. Anfangs war es wirklich schlimm und ich habe tagelang durchgeheult, aber mittlerweile passiert es nicht mehr oft.
Ich atme tief durch und laufe nach unten, wo JJ ungeduldig auf sein Handy herumtippt.
„Da bist du ja! Los geht's." Er läuft auf sein Auto zu und setzt sich mit Schwung hinein. Ich muss auflachen, als ich Laylas Geschimpfe höre. Hinter mir ziehe ich die Haustür zu, nachdem ich Dad Bescheid gesagt habe und setzte ich ebenfalls in den Wagen.
„Hey, Cassie", begrüßt JJs Cousine mich sofort mit einem Lächeln. „Wie geht's dir?"
„Hey." Ich schnalle mich an, bevor ich die zweite Frage ehrlich beantworte. „Ich komme klar." Meine Antwort versuche ich mit einem Lächeln zu unterstreichen, was jedoch nicht so gut zu funktionieren scheint, denn ihr Gesichtsausdruck strahlt Mitleid aus.
„Wo geht's denn hin?", wechsle ich das Thema und versuche JJs Blick im Rückspiegel aufzufangen.
„Lass dich überraschen", sagt dieser nur. Also lehne ich mich zurück und schaue aus dem Fenster.
Nach der kurzen Fahrt weiß ich, wo sein Ziel ist, als er den Parkplatz ansteuert. Sofort wird mir heiß und ich rüttle an der Autotür, die sich natürlich nicht öffnen lässt.
Layla dreht sich zu mir um und betrachtet mich. „Ist alles okay?"
„Nein. Scheiße nein, gar nichts ist okay!", schreie ich fast schon. „Lass mich raus!"
Die Luft im Auto wird immer stickiger und ich stehe kurz vorm durchdrehen. Als JJ endlich parkt und das Auto ausstellt, reiße ich die Tür auf und stolpere heraus. Erst beim dritten Blinzeln bemerke ich, dass Ben vor mir steht. „Hey."
„Was machst du denn hier?", frage ich atemlos und drehe mich zu JJ.
„Er hat das Equipment", antwortet dieser und öffnet den Kofferraum von Bens Auto.
„Was?" Komplett verwirrt folge ich ihm und verstehe noch weniger als vorher, als ich den Inhalt sehe. „Was ist das?"
„Das sind Laternen." JJ nimmt alles raus, während Ben den Kofferraum wieder schließt und Layla mich abwartend betrachtet. Fragend drehe ich mich zu ihr. „JJ hatte da so eine Idee..."
„Genau. Ich habe letztens nämlich das Video zu dem Song Sunshine von Jake Miller gesehen und..."
„... geheult wie ein Mädchen", ergänzt Layla und Ben und ich müssen lachen.
JJ verdreht die Augen. „Sehr witzig. Jedenfalls habe ich das gesehen und dort lassen die Freunde und Familie von dem Typ, der gestorben ist, Laternen hochsteigen."
Ich habe noch nie von diesem Lied gehört.
„Ein Freund von den Sänger hat sich das Leben genommen, daher haben sie das gemacht", beantwortet Ben meine unausgesprochene Frage.
Ich schlucke und senke den Blick.
„Du musst das nicht machen, wenn du nicht möchtest, Cassie", flüstert Ben mir zu.
„Ich möchte aber", gebe ich zurück und sehe ich an. Ihm scheint es genauso schwer zu fallen wie mir.
Ohne zu zögern greift er nach meiner Hand und drückt sie. „Ich bin auch das erste Mal seitdem wieder hier."
Ich sehe zu ihm hoch und mir fällt wieder ein, dass er vor 63 Tagen dabei war. Er hat es ebenfalls gesehen. Manchmal vergesse ich, dass nicht nur ich an Audens Abwesenheit leide, sondern auch Ben. Auch, wenn er versucht, es nicht so zu zeigen.
„Alle bereit?", fragt JJ nun und wendet sich fragend an mich. Ich erwidere seinen Blick und nicke knapp. Bereit bin ich kein bisschen, aber ich weiß, dass ich mitmachen muss.
Ein schüchternes Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus, ehe er voran zur Brücke geht. Layla läuft ihm hinterher, schaut jedoch noch kurz zu mir, um sicher zu gehen, ob ich auch wirklich folge. Ich lasse Bens Hand los und gehe auf sie zu. Sie legt mir einen freien Arm um die Schultern und zieht mich mit. „Das wird schön. JJ hat sogar noch Farbe mitgebracht, sodass wir etwas auf die Laternen schreiben können", sagt sie leise. „Wir können Auden eine letzte Nachricht in den Himmel schicken."
Darauf sage ich nichts, aber ich spüre, dass meine Augen wieder anfangen zu brennen.
Als ich die Brücke sehe, bleibe ich einen Moment stehen. Die Erinnerungen an den Tag, als ich Auden dort liegen sah, steigt in mir auf und mischt sich unter die schönen Momente, die ich hier mit ihm verbracht habe. Ich habe diese Brücke angefangen zu mögen, weil es unser Platz war. Doch jetzt hasse ich diesen Ort nur noch. Warum musst Auden sich unbedingt unseren Ort aussuchen, um seinem Leben ein Ende zu setzen? Warum ließ er zu, dass ich wusste, wo er es getan hatte? Warum ließ er mich alleine?
Plötzlich fühle ich etwas Kaltes unter mir und bemerke, dass ich meine Hände auf die kleinen Steine auf den Boden gepresst habe. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie ich mich auf die Erde habe sinken lassen. Layla scheint es genauso zu gehen, denn im nächsten Moment hockt sie vor mir und sieht mich besorgt an. „Ist alles okay?"
Was für eine blöde Frage. Natürlich ist alles ganz und gar nicht okay. Ich sollte nicht hier sein. Ich wollte nicht hier sein. Am liebsten würde ich aufstehen und nach Hause gehen, aber ich schaffe es nicht. Ich kann meinen Blick nicht von dieser verdammten Brücke nehmen. Verdamm diese Brücke doch nicht, hat Auden einmal zu mir gesagt. Gott, wie ich ihn noch immer dafür hasse.
„Hey." Nun kniet auch JJ vor mir und schaut mich an. „Es ist okay, wenn es wehtut, Cassie."
Meine Hände krallen sich in die Steine unter mir. Eigentlich sollte es wehtun, doch ich spüre keinen Schmerz mehr. Alles was ich wahrnehme ist mein innerer Schmerz. „Ich hasse ihn", flüstere ich durch meine zusammengepressten Lippen. „Ich hasse ihn so sehr." Meine Stimme wird lauter und die anderen weichen ein Stück zurück. „Ich hasse Auden Rivers", schreie ich in den Wald hinein. „Ich hasse ihn so unglaublich sehr, weil er mich alleine gelassen hat. Ich hasse dich, Auden, weil ich dich noch immer liebe." Jetzt kann ich meine Tränen endgültig nicht mehr zurückhalten und lasse sie fließen. Dabei ist es mir egal, dass mich drei Gesichter anschauen. Es fühlt sich an wie die Beerdigung, die sich wiederum wie eine Ewigkeit vergangen anfühlt.
„Cassie", höre ich Laylas sanfte Stimme, doch ich erwidere darauf nichts.
Im nächsten Moment legen sich zwei Arme um mich und drücken mich ganz fest. „Ich hasse ihn dafür auch. Oh Mann, du glaubst nicht, wie wütend ich war und noch immer bin. Ich habe Zuhause sogar das schöne Geschirr meiner Eltern gegen die Wand geschmettert", sagt JJ mit versucht ruhiger Stimme in mein Ohr.
„Deine Wut klingt irgendwann ab", wirft nun auch Ben ein, der unbeholfen neben Layla kniet und versucht, seine Tränen zurückzuhalten.
Nach einem kurzen schweigsamen Moment zieht JJ sich zurück und sieht mich an. Seine Augen sich leicht gerötet und sein Mund zusammengekniffen.
Es dauert einen Moment, ehe ich mich wieder fangen kann. „Danke", flüstere ich mit rauer Stimme. Ich versuche mich wieder aufzurappeln und nehme mir eine Laterne und Farbe. Den Blick der anderen spürte ich in meinem Rücken. „Wie genau soll das hier jetzt funktionieren?", frage ich, ohne mich umzudrehen. Es dauert einen Moment, ehe JJ reagiert und mir erklärt, dass ich mit dem Pinsel etwas auf die Laterne schreiben kann. Ich nicke nur und die anderen machen sich ebenfalls ans Werk. Unschlüssig stehe ich mit dem mit schwarzer Farbe bestrichenen Pinsel in der Hand vor der weißen Laterne und frage mich, welche Nachrichte ich Auden als letztes in den Himmel schicken möchte. Es gibt noch so viel zu sagen, aber die Fläche der Laterne ist begrenzt. Okay, dann muss ich mich wohl auf das Wichtigste konzentrieren. Aber wie ist das möglich? Ich habe das Gefühl, ein einfaches Ich liebe dich reicht hier nicht aus. Es braucht mehr als nur das. Er war mehr für mich als nur das. Auden...
„Ist alles in Ordnung?" Laylas Stimme lässt mich zusammenzucken. Mit besorgtem Gesichtsausdruck mustert sie erst mich und dann die kleine dunkle Pfütze, die sich unter mir ausgebreitet hat. Ich folge ihrem Blick und lasse den Pinsel in die Farbe fallen.
„Ich weiß nicht, was ich schreiben soll."
Layla nickt und erst dann wird mir bewusst, dass sie, Ben und JJ nur noch auf mich warten.
„Lass dir Zeit", sagt sie mit einem kleinen Lächeln und wendet sich von mir ab.
Ich bücke mich wieder nach dem Pinsel. Unwillkürlich findet mein Blick den schwarzen Farbflecks knapp daneben und auf einmal weiß ich, was ich schreiben will.
„Bereit?", fragt JJ und sieht uns der Reihe nach an.
Layla, Ben und ich nicken. JJ atmet tief durch, zündet die Schnur der Laterne an und lässt seine zuerst steigen. „Ich vermisse dich, Mann", murmelt er, während er mit seinem Blick der Laterne folgt und sich mit dem Handrücken verstohlen über die Augen reibt.
Als nächstes folgt Layla. Nach ihr Ben und ich zum Schluss. JJ zündet meine Laterne an und ich schmeiße einen letzten Blick auf mein geschriebenes Wort, ehe ich die sie steigen lasse. Danke. Das habe ich auf meine Laterne geschrieben. Das war die letzte Nachricht, von der ich wollte, dass Auden sie von mir bekommt. Ich habe es ihm nie so direkt gesagt, aber ich bin ihm unglaublich dankbar, dass er Teil meines Lebens wurde. Durch ihn habe ich ehrliche Liebe erfahren. Er hat mir gezeigt, dass es sich lohnt, am Leben zu bleiben. Auch, wenn er diese Meinung am Ende nicht mehr vertreten hatte.
Ben reicht mir ein Taschentuch, welches ich dankbar annehme. Ich reibe mir damit übers Gesicht und verspüre plötzlich eine Art Ruhe in mir. Das erste Mal seit ich Auden hier tot auf dem Boden liegen sah, habe ich das Gefühl, endlich wieder atmen zu können. Endlich spüre ich, wie meine Lungen sich mit Luft füllen und sie diese wieder entlassen.
„Danke für alles, Auden. Ich werde dich nie vergessen", murmle ich verspätet.
Unsere Laternen sind kaum noch zu sehen, trotzdem schauen wir alle noch nach oben. Ausnahmweise stört mich der Sonnenschein heute nicht. Im Gegenteil. Er gibt mir fast schon das Gefühl, als könnte alles wieder in Ordnung kommen, wenn ich daran arbeite, was ich auf jeden Fall vorhabe.
63 Tage. Vielleicht schaffe ich es irgendwann, die Tage in meinem Kalender durchzustreichen, ohne die vergangen Tage mitzuzählen. Aber bis dahin, bin ich froh, meine Familie und meine Freunde an meiner Seite zu haben.
JJ dreht sich zu mir. „Cassie?"
Ich senke meinen Blick und sehe ihm in die Augen. „Ja?"
„Wir kriegen das hin."
Ich kann nicht anders, als zu lächeln, auch wenn mich ein Stich durchfährt. Genau das hat Auden auch immer gesagt. „Ich weiß." Und irgendwie glaube ich auch daran.
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