
𝗞𝗔𝗣𝗜𝗧𝗘𝗟 𝟱𝟵 - 𝗗𝗘𝗥 𝗦𝗖𝗛𝗟𝗜𝗠𝗠𝗦𝗧𝗘 𝗧𝗔𝗚
Ich zog diese Jacke nicht mehr aus. Selbst nicht am Tag seiner Beerdigung. Es war mittlerweile Tag 11 nach Audens Tod und ich verließ zum ersten Mal wieder das Haus. Okay, genauer gesagt schleppte meine Familie mich nach draußen. Während mein Dad bereits im Auto saß, stützten Mom und Olivia mich auf dem Weg dorthin. „Ich kann alleine laufen", zischte ich genervt und entriss mich ihren Armen.
„Natürlich kannst du das. Ich dachte nur, du...", fing Mom an, doch ich unterbrach sie schnell. „Ich brauche keine Hilfe. Ich will das alles nur schnell hinter mich bringen." Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte ich mich in den Wagen und schnallte mich an. Ich sah, wie Dad mir im Rückspiegel einen Blick zuwarf, ehe Olivia und Mom einstiegen.
Während der Fahrt zum Friedhof versuchte ich, an irgendetwas schönes zu denken. Doch das klappte nicht. Wie sollte es auch, wenn wir gerade auf dem Weg zur Beerdigung der einen Person waren, die mich so liebte, wie ich bin? Ich spürte Druck hinter meinen Augen und lehnte meinen Kopf an die Fensterscheibe. Auch, wenn Dad es hasste, wenn ich das tat, sagte er nichts. Im Gegenteil sogar. Er war derjenige von uns, der bisher noch gar nichts zu Audens Tod gesagt hatte. Jedenfalls mir gegenüber. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Mom und Dad über nichts anderes mehr redeten als über dieses Thema und wie sie mich wieder hinkriegen konnten. Aber da konnten sie noch lange drüber nachdenken und diskutieren. Mich konnte man nicht mehr hinkriegen. Als ich Auden tot am Boden liegen sah, wusste ich, dass mein Leben sich für immer verändert hatte. Am Anfang waren es nur die kleinen Dinge, wie die Tatsache, dass ich keine Nachrichten mehr von ihm bekam, aber während die Tage nur so vor mir dahinschwanden, breitete sich diese schmerzvolle Leere in mir immer weiter aus. Ich hätte schreien können vor Schmerz, obwohl es nicht weh tat. Audens Tod nahm mir alle Gefühle und hinterließ nur noch die Dunkelheit in mir. Gott, wie sehr ich mir in diesem Moment gewünscht hatte, ihm nachzuspringen. Und ich weiß, dass ich es gemacht hätte. Dieses Mal hätte ich es ohne Zögern gemacht, wenn Olivia und Ben nicht da gewesen wären.
Ich spürte einen leichten Druck an meinem Arm und zuckte zusammen. „Wir sind da", sagte meine Schwester in einem leisen Ton.
Ich drehte mich zu ihr und sah, dass sie mir ein Taschentuch hinhielt. Verirrte sah ich es an und dann wieder sie. „Für deine Tränen." Ohne weiter nachzudenken nahm ich es an wischte über meine Wange. Tatsächlich. Ich hatte wieder geweint. Doch ich war mittlerweile so daran gewöhnt, dass ich es nicht mehr versteckte, sondern einfach ausstieg, mit dem Taschentuch in der Hand. Zum Glück hatte ich auf die Mascara verzichtet. Nicht, dass ich mich um sowas je geschert hatte.
Meine Eltern gingen voran und ich trabte mit Olivia hinterher. Wobei es eher so war, als liefe ich in der Mitte, während meine Schwester einen Meter hinter mir war. Wahrscheinlich für den Fall, falls ich zusammenbrechen oder abhauen sollte. Worauf ich wirklich große Lust hatte, aber das würde ich nicht tun. Ich würde Audens Beerdigung nicht verpassen. Wenigstens dieses Versprechen konnte ich halten.
Fast wäre ich in meine Eltern reingelaufen, als sie stehen blieben. Ich hielt meinen Kopf den ganzen Weg gesenkt, bis wir ankamen. Dann erst hob ich ihn und schluckte. Die meisten Stühle, die in mehreren Reihen angeordnet standen, waren bereits besetzt. Ich sah nicht genau hin, wer es war, denn mein Blick blieb am Sarg hängen. Ohne es zu wollen, riss ich mich vom meiner Familie los und ging auf den Sarg zu, der geschlossen war. Natürlich. Ich hätte diesen Anblick auch niemanden zeigen wollen. Obwohl Auden für mich trotzdem noch der schönste Mensch überhaupt war. Ich konnte mir ein Schnauben nicht verkneifen, als ich sah, dass der Sarg schwarz war. Welche Farbe auch sonst.
„Wir waren der Meinung, dass schwarz ihm gefallen hätte", hörte ich eine leise Stimme, die neben mir trat. Ich musste nicht hinsehen, um zu wissen, wer es war.
„Gute Wahl", antwortete ich Ben unpassenderweise.
„Danke." Ihm war anzuhören, dass er versuchte, Humor zu zeigen. Doch er scheiterte. Wie wir alle. „Cassie..."
Ich drehte mich ihm zu, sah ihn an... und erschrak. Es war, als hätte ich in einen Spiegel geguckt. Ben hatte dunkle Ringe unter den Augen, die rot geschwollen waren. Seine Wangen waren nass und rot gefleckt. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich meinen Blick wieder abwandte.
„Bist du... also ähm... fühlst du dich bereit dazu, eine Rede zu halten?", fragte er verunsichert.
Langsam hob ich wieder meinen Blick. „Was?"
„Du bist... du warst seine Freundin. Meine Eltern haben gefragt, ob du vielleicht einige Worte über ihn sagen möchtest."
Noch immer starrte ich ihn an, als hätte ich nichts verstanden.
„Du musst nicht, aber wir dachten nur..."
„Ich mache es", erwiderte ich, ohne weiter darüber nachzudenken.
Ein kleines Lächeln zeichnete sich auf Bens Lippen ab. „Danke, Cassie."
Ich bemühte mich gar nicht darum, es zu erwidern. Auch wenn ich noch etwas hätte sagen wollen, wäre es zu spät gewesen, denn die Zeremonie begann.
*
Als mein Name aufgerufen wurde, schlich ich mit langsamen Schritten nach vorne zum Pult. Noch nie haben meine Beine sich so schwer angefühlt wie in diesem Moment. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte und gleichzeitig hatte ich doch so viel zu sagen. Aber eigentlich wollte ich nur schreien und auf irgendwas eindreschen.
Endlich vorne angekommen, ließ ich meinen Blick zunächst über die Trauergäste schweifen. Bens Eltern hatten mir angeboten, vorne bei ihnen zu sitzen, aber ich hatte abgelehnt. Ich konnte nicht direkt vor seinem Sarg sitzen und diesen anstarren. Ich wollte versuchen, so viel Distanz zwischen uns zu bringen wie möglich. Welche Ironie, wenn man bedenkt, dass ich vorher immer in Audens Nähe sein wollte.
Mein Blick fand den von JJ, den ich vorhin gar nicht bemerkt hatte. Er sah genauso fertig aus wie Ben und doch beruhigte mich seine Anwesenheit irgendwie. Unwillkürlich erinnerte ich mich an Audens und meine Zeit in San Francisco und musste Lächeln. Und plötzlich wusste ich, was ich sagen musste.
Bevor ich sprach, atmete ich tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Ich zitterte am ganzen Körper und legte mir die ersten Worte zurecht, die ich sagen wollte. Ich öffnete sie wieder und blickte auf den schwarzen Sarg vor mir hinunter. „Auden Rivers war ein Arschloch."
Erschrockenes Keuchen fuhr durch die Menge. Als ich aufschaute, versuchte ich die aufgerissenen Augen meines Dads zu ignorieren und sah zu JJ, der mir tatsächlich zulächelte. Er war der Einzige von allen hier, der die wahre Geschichte von Auden und mir kannte. JJ wusste, wie wir uns wirklich kennengelernt hatten und wusste auch, was mit Xander passiert war. Schließlich konnte Auden sich nicht zurückhalten, seinem besten Freund zu erzählen, dass er einem Arschloch die Nase gebrochen hatte. Worüber sich beide unglaublich gefreut hatten, obwohl JJ nicht einmal wusste, was überhaupt passiert war.
Ich fasste wieder Mut und sprach weiter. „Jedenfalls dachte ich das, als ich ihm zum ersten Mal begegnet war."
Die Leute beruhigten sich wieder und sahen mich nur abwartend an. Falls sie den magischen Beginn einer epischen Liebesgeschichte erwartet hatten, waren sie bei mir an der falschen Adresse. Denn hier und jetzt würde ich ihnen erzählen, was passiert war. Und zwar alles.
„Das erste, was er jemals zu mir sagte war, dass es eine schlechte Idee sei, von der Brücke zu springen. Wie ironisch, dass er schließlich genau das tat." Ich schluckte. „Jedenfalls war er es damals, der mich davon abhielt, zu springen."
Ein flüchtiger Blick in die Richtung meiner Familie ließ meinen Herzschlag kurz aussetzten. Dads Gesichtsausdruck konnte ich nicht lesen, aber der von Mom und Olivia war eindeutig mehr als geschockt. Hoffentlich würden sie nicht von Stuhl fallen.
„Und von da an, war Auden überall, wo ich auch war, ob ich wollte oder nicht. Er ließ mich nicht in Ruhe und was soll ich sagen? Ich bin ihm unglaublich dankbar dafür. Ich wusste nie, dass ich jemanden wie ihn in meinem Leben brauchte, bis er da war." Ich überlegte kurz, ob ich weiterreden sollte, entschied mich aber, es einfach zu sagen. Was hatte ich schließlich noch zu verlieren? „Genauer gesagt wurde mir das bewusst, als wir in Portland waren." Diese Aussage würde mir noch Ärger mit meinen Eltern bereiten. „Auden brachte mich zu einen unglaublich schönen Wasserfall, Multnomah Falls. Noch nie hatte ich so etwas Schönes gesehen, doch Auden interessierte sich nicht dafür. Er hatte nur Augen für mich." Beim Gedanken daran, wie er zu mir sagte, dass ich genauso wunderschön sei wie dieser Wasserfall und an unseren darauffolgenden Kuss, musste ich lächeln. „Das war einer der schönsten Tage, die ich jemals hatte. Von da an war jeder Tag nur halb so beschissen, weil er da war. Weil Auden da war und mein Leben besser gemacht hat." Ich spürte Tränen in meiner Kehle hochsteigen. „Er... Ihm habe ich mehr vertraut als jemand anderem. Er war der erste, dem ich alles erzählt habe. Er hat mir unglaublich geholfen, genau wie seine Familie."
Mein Blick schwebte zu Ben und seinen Eltern, die in der ersten Reihe saßen. Bens Blick war versteinert, genau wie der seinen Onkels. Nur Lisa hielt sich ein Taschentuch vors Gesicht. Ich schaute schnell weg, sonst hätte ich noch mit ihr geheult.
„Ähm... Auden erzählte mir, was mit seiner Familie passiert war. Wir standen auf der Golden Gate Bridge, als er mir von seiner Mom erzählte. Das war das erste Mal, dass mir bewusst wurde, dass er nicht so war, wie ich dachte. Audens Schmerz saß viel tiefer, als ich auch nur hätte ahnen können." Meine Stimme brach und heiße Tränen liefen über meine Wangen. „Ich habe wirklich versucht, ihm zu helfen. Aber... aber ich..." Ich konnte den Satz nicht beenden. Ich räusperte mich, bevor ich weitersprach. „Auden Rivers war der erste Junge, den ich jemals geliebt habe. Und er wird immer der erste bleiben. Und... ich weiß nicht, ob es einen Himmel gibt, oder... was auch immer, jedenfalls hoffe ich..."
Meine Sicht verschwamm. Ich versuchte die Tränen wegzublinzeln, doch es waren zu viele. Ich hob meine Hand und wischte sie mit dem Handrücken weg. Plötzlich wehte ein kleiner Luftzug an meinen nackten Beinen vorbei und ich bekam das Gefühl, dass er da war. Ich wusste nicht genau, was es war, aber ich wusste einfach, das Auden bei mir war. Typisch. Selbst tot ließ er mich nicht im Stich. Ich lächelte schwach und sprach weiter.
„Wo auch immer Auden jetzt ist, ich weiß, dass er uns gerade zuschaut und sich freut, uns irgendwann wiederzusehen, wenn die Zeit kommt." Ich hob meinen Blick und schaute in den grauen Himmel. Wie sehr ich mir in diesem Moment wünschte, dass der Himmel blau wäre, so wie Audens Augen. „Und wir werden uns auf jeden Fall wiedersehen, Auden Rivers, mein Lieblingsidiot. Ich weiß, dass du auf mich wartest und ich freue mich, dich irgendwann wiederzusehen. Ich hoffe... ich hoffe, wo auch immer du bist, dass es dir dort gut geht. Vielleicht bist du bei deinen Eltern und erzählst ihnen von mir. Ich würde nämlich am liebsten der ganzen Welt von dir erzählen. Ich liebe dich, Auden. Für immer."
Nachdem ich das letzte Wort ausgesprochen hatte, konnte ich mich nicht mehr ruhig halten und weinte. Gott, ich bekam vor allen Trauergästen einen verdammten Heulkrampf.
Kurz darauf spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und drehte mich um. Olivia stand neben mir und hielt mir wieder ein Taschentuch hin. Ich nahm es an und putzte mir die Nase.
„Wir sind für dich da, Cassie", flüsterte sie mir zu. Meine Schwester legte einen Arm um mich und zog mich sanft zurück auf unsere Plätze.
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