
𝟎𝟓 | 𝐤𝐢𝐥𝐥𝐞𝐫
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Sofort stürmte Michael in das Badezimmer. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er Leila sah. Ihre Kleidung war von Blutflecken durchtränkt, und obwohl er die Dunkelheit der Wohnung gewohnt war, traf ihn das Bild wie ein Faustschlag. Für einen Moment schien es, als hielte die Zeit an. Der metallische Geruch stieg ihm in die Nase, schwer, beißend, real. Sein Blick glitt an ihr herunter, suchte nach Wunden, nach offenen Verletzungen, doch es war kein Tropfen ihres eigenen Blutes.
Leila stand wie versteinert da, ihre Augen weit aufgerissen, ihre Atmung flach. Sie konnte keinen Laut hervorbringen. Der peinliche Kussversuch, der noch wenige Minuten zuvor für eine hitzige Peinlichkeit gesorgt hatte, war längst vergessen. Jetzt war da nur noch Angst. Nicht nur die Angst vor dem, was passiert war – sondern auch vor Michael.
Denn auch auf seinem Shirt haftete Blut. Frisch, dunkelrot, angetrocknet an den Rändern. Nicht in Tropfenform, sondern verschmiert, als hätte er jemanden angefasst, vielleicht festgehalten, vielleicht... schlimmeres. Leila wich unwillkürlich einen Schritt zurück, ihr Blick suchte panisch nach einem Ausweg. Sie musste hier raus, musste verstehen, was passiert war, was sie da vor sich hatte. Ohne weiter nachzudenken, stieß sie Michael unsanft zur Seite, lief an ihm vorbei aus dem Bad.
Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, als wäre es ein eigenes Wesen. Ihre Schritte hallten durch die stille Wohnung. Alles war so leise. Unnatürlich leise. Als sie das Wohnzimmer erreichte, tastete ihre Hand nach dem Lichtschalter. Ein Klicken, dann flackerte die grelle Deckenlampe auf.
Und dann sah sie es.
Der Boden war übersät mit Blut. Die rote Flüssigkeit hatte sich in dunklen Pützen auf dem Holz verteilt, zog sich in Streifen über die Dielen, verlief in feinen Rinnsalen zu den Wänden. Ihre Beine gaben beinahe nach, als sie begriff, dass das Blut dort gewesen war, wo sie vorhin zusammengesackt war. Dort, wo Michael sich zu ihr gesetzt hatte. Dort, wo sie sich sicher gefühlt hatte. Sie trat einen Schritt zurück, ihre Füße glitten beinahe auf dem nassen Boden aus.
Sie wollte schreien. Alles in ihr drängte nach einem Ausdruck dieser Furcht, dieser Verwirrung, dieser schieren Panik. Doch kein Laut kam über ihre Lippen. Ihre Stimme blieb ihr im Hals stecken, zugeschnürt von einem unsichtbaren Band. Stattdessen zitterte ihr ganzer Körper.
Dann betrat Michael langsam den Raum. Sein Blick war leer, beinahe so entsetzt wie ihrer. Als er die Blutlache sah, blieb er abrupt stehen, als hätte ihn etwas getroffen. Sein Atem beschleunigte sich, und doch sagte er nichts. Keine Erklärung, keine Rechtfertigung.
Leila ging mehrere Schritte zurück, ihr Blick veränderte sich von Panik zu Verzweiflung. Sie hob die Arme leicht, als wolle sie sich vor ihm schützen, als müsse sie sich auf einen Angriff vorbereiten, den sie mit ihrem eigenen Verstand nicht akzeptieren konnte. Tränen stiegen ihr in die Augen.
"Was hast du getan?!" schrie sie dann endlich, ihre Stimme riss, war brüchig und bebte vor aufgestauter Angst. Sie klang nicht einmal wie sie selbst. "Was... hast du getan?!"
Doch Michael sagte nichts. Seine Augen waren auf den Boden gerichtet, dort, wo sich das Blut mit dem Licht spiegelte. Es wirkte, als würde auch er nicht begreifen, was hier geschehen war. Seine Schultern hingen herab, sein Kiefer war angespannt.
Er wirkte in diesem Moment so ausgewechselt. So fremd. Bisher war er distanziert, verschlossen wie eine Festung, sagte nicht viel, schien innerlich leer, wie jemand, der aus einer anderen, dunkleren Welt gekommen war. Seine Bewegungen waren meist kontrolliert, seine Stimme nüchtern, seine Mimik regungslos. Doch jetzt... war alles anders. So viel anders.
Zum ersten Mal sah sie die Emotionen, die bisher hinter dieser dicken, undurchdringlichen Mauer verborgen gewesen waren. Und sie trafen sie wie ein Schlag in die Magengrube. Schock. Trauer. Wut. Verzweiflung. All das spiegelte sich in seinem Gesicht wider, so intensiv, dass es ihr fast den Atem raubte.
Seine Augen glänzten im flackernden Licht der Wohnzimmerlampe, das von der Blutlache am Boden matt zurückgeworfen wurde. Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln, schwer und zitternd, bevor sie lautlos seine Wangen hinunterliefen. Jede einzelne schien ein Teil von etwas, das er sich selbst zu lange verboten hatte.
Und dann, bevor sie überhaupt reagieren konnte, trat er einen Schritt auf sie zu. Leila wollte zurückweichen, instinktiv, aus Selbstschutz. Doch irgendetwas in ihr ließ sie stehen bleiben. Vielleicht war es das Zittern in seinen Schultern. Vielleicht das kindlich gebrochene in seinem Blick. Vielleicht war es einfach der Schock, der sie lähmte.
Er legte seine Arme um sie, vorsichtig, beinahe schüchtern, wie jemand, der nicht wusste, ob er das überhaupt durfte. Dann drückte er seinen Kopf gegen ihre Schulter, schloss die Augen, und sie spürte, wie ein Zittern durch seinen Körper ging. Er atmete schnell, gepresst, unregelmäßig, als würde ihn ein Sturm innerlich zerreißen.
Und dann hörte sie es.
Ein ersticktes Schluchzen, das sich aus seiner Kehle löste. Und noch eins. Und dann noch eins.
Michael schluchzte. Kein leises, heimliches Weinen, sondern ein ehrliches, schmerzhaftes Aufschluchzen. So roh und ehrlich, dass sie nicht anders konnte, als ihre Arme ebenfalls vorsichtig um ihn zu legen. Sie hielt ihn, stützte ihn, ohne zu wissen warum. Ohne zu wissen, ob sie es überhaupt sollte.
War das der echte Michael?
War dieser zerbrechliche, gebrochene Mensch in ihren Armen der Junge, den sie halbtot auf der Straße gefunden hatte? Der Junge, der kein Zuhause hatte, keine Freunde, keine Erinnerung an das, was ihn wirklich ausmachte?
Seine Stimme, rau und zitternd, erklang ganz nah an ihrem Ohr. Sie spürte seinen Atem, warm und feucht an ihrer Haut, während seine Worte sich wie heiße Nadeln in ihre Gedanken bohrten.
„E-es tut mir so leid... Ich... ich musste es tun, Leila. Wirklich. Er hätte dir sonst wehgetan! Ich schwöre es! Ich... ich hatte keine andere Wahl!" Seine Stimme überschlug sich beinahe, er sprach so schnell, so aufgeregt, dass sie kaum folgen konnte.
Ein Schauer kroch ihr den Rücken hinab, langsam, kalt, kriechend. Er hatte ihn also wirklich getötet?
Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden, wie sich ihr Magen umdrehte, doch sie zwang sich dazu, nicht zu zittern. Nicht jetzt. Noch nicht.
Vorsichtig löste sie sich aus seiner Umarmung. Nicht grob, nicht abweisend, nur langsam und bedacht. Sie wollte ihn nicht verletzen – zumindest nicht jetzt – aber sie musste ihn sehen. Musste in sein Gesicht schauen.
Sein Blick war gebrochen, wie zersplittertes Glas. Und es schmerzte sie, ihn so zu sehen. Trotz allem.
„Warum hast du es getan?", fragte sie – so ruhig sie konnte. Doch ihre Stimme war kaum mehr als ein gehauchtes Flüstern, brüchig wie feines Porzellan. In ihrem Inneren tobte ein Sturm, wild und ungezähmt, doch nach außen hin hielt sie sich zusammen. Nur ein leichtes Zittern durchlief ihre Schultern, ein kaum wahrnehmbares Beben, das verriet, wie viel Kraft sie aufbrachte, um nicht zu zerbrechen.
Michael hob langsam den Blick. Seine Augen waren rot, glasig vor ungeweinten Tränen, als hätte er Nächte damit verbracht, gegen eine Flut anzukämpfen, die ihn nun still zu verschlingen drohte. In seinem Blick lag etwas Widersprüchliches – ein unentschlüsselbares Gemisch aus Reue, Trotz und einer tiefen, alten Müdigkeit. Und als er endlich sprach, war es nicht laut, nicht leise – sondern von einer schneidenden Klarheit, die ihr bis ins Mark schnitt.
„Er wollte dir etwas antun, verstehst du?" Seine Stimme schwankte kurz, als kämpfte sie mit einem Kloß aus Erinnerungen, dann fand sie wieder Halt. „Ich... ich hab es gesehen. In seinen Augen. Da war nur Hass. Kein Zögern, kein Zweifel. Er war ein böser Mensch, Leila." Er machte eine kurze Pause, rang sichtbar um Fassung, um Worte, die gerecht erklären könnten, was er selbst kaum zu fassen vermochte. „Und ich konnte nicht einfach zusehen. Ich konnte es nicht zulassen."
Die Wut, die in ihm aufflackerte, war wie ein Streichholz, das sich in einer letzten Geste der Selbstbehauptung aufbäumt – hell, heiß, verzweifelt – bevor es verlöscht. Seine Stimme wurde schärfer, bebte vor einer inneren Hitze. Doch in dem Moment, als sie einen Schritt zurückwich, sich dem Raum, den seine Worte durchdrangen, entzog, sank etwas in ihm zusammen. Wie ein Zelt, das plötzlich seine Stütze verliert.
Die Wut fiel von ihm ab wie eine zu große Jacke. Schwer. Nutzlos. Und zurück blieb nur der Mann, wie er wirklich war: erschöpft, verletzt, verloren.
Langsam trat er einen Schritt zurück, als spüre er selbst, wie sehr er sie bedrängte – wie sehr er sie vielleicht schon verloren hatte. Seine Schultern senkten sich, als laste eine Welt auf ihnen, und seine Augen... seine Augen waren jetzt nicht mehr zornig. Sie flehten. Zitterten. Sie waren feucht von Tränen, die er nicht mehr zurückhalten konnte.
„Bitte... bitte verlass mich nicht...", hauchte er, kaum hörbar, als spräche er nicht zu ihr, sondern zu einem Schatten aus seiner Kindheit, zu einer Angst, die immer schon in ihm gehaust hatte. Seine Stimme brach. „Ich... ich will mich ändern. Ich schwöre es dir. Ich will das nicht sein." Seine Finger bewegten sich leicht, als würden sie sich nach ihr ausstrecken wollen, doch er hielt sie zurück, ließ sie wieder sinken. „Ich werde dir nie wehtun, Leila. Nie. Bitte..."
Er trat zögernd näher, doch jede Bewegung wirkte wie durch zähen Nebel – tastend, vorsichtig, ohne jedes Selbstvertrauen. Seine Hände hingen kraftlos an seinen Seiten, als dürfe er sie nicht mehr einsetzen. Als hätte er sich selbst das Recht genommen, sie nach ihr auszustrecken. Und sein Blick – dieser Blick – war voller nackter Angst. Aber nicht vor ihr. Vor dem Alleinsein. Vor dem Verlassenwerden. Vor dem endgültigen Zerfall.
Und vielleicht war es genau diese Angst, dachte sie, die ihn all die Jahre so hart gemacht hatte. So unnahbar. So unberechenbar. Die Angst, nicht dazuzugehören. Nicht zu genügen. Nicht geliebt zu werden.
Verängstigt sah sie in seine Augen. Und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, wirklich hineinzusehen.
Die sonst so kalten, undurchdringlichen Augen, die Leila in den letzten Tagen immer wieder beobachtet hatte, wirkten plötzlich wie verwandelt. Ein kaum greifbarer Glanz lag in ihnen – flüchtig wie ein Sonnenstrahl, der durch eine dunkle Wolkendecke bricht. Da war etwas, das ihr bisher fremd gewesen war. Wärme. Und vielleicht... Hoffnung. Für einen Moment glaubte sie, den Menschen hinter der Mauer aus Wut und Angst zu erkennen. Den Teil von ihm, den er so lange vor ihr – vielleicht vor der ganzen Welt – verborgen hatte.
Doch noch ehe sie einen klaren Gedanken fassen konnte, spürte sie seine Lippen auf ihren.
Der Kuss traf sie unvorbereitet, wie eine Welle, die über sie hinwegrollte, bevor sie lernen konnte, zu schwimmen. Ihr Körper erstarrte, ihre Gedanken rasten. Für eine Sekunde war alles in ihr Chaos. Michael hatte getötet. Diese Wahrheit bohrte sich wie ein Widerhaken in ihr Bewusstsein, unnachgiebig und schmerzhaft. Wie konnte man jemanden küssen, der Blut an seinen Händen hatte?
Aber... wenn er es nicht getan hätte – was wäre dann geschehen? Vielleicht wäre sie tot. Oder beide. Vielleicht war der Mord ein verzweifelter Akt gewesen, aus Angst geboren, nicht aus Hass. Und vielleicht, so schrecklich es klang, war es in diesem Moment seine Art gewesen, sie zu beschützen.
Während diese Gedanken wie Nebelschwaden durch ihr Innerstes zogen, merkte sie kaum, dass sie den Kuss längst erwiderte. Sanft, zögerlich – doch mit wachsender Intensität. Seine Hand glitt vorsichtig über ihren Rücken, als fürchte er, sie könnte jeden Moment zerbrechen. Er zog sie näher an sich, aber nicht fordernd – eher wie jemand, der selbst Halt suchte. Und für einen Augenblick existierte nichts mehr außer ihnen. Kein Gestern, kein Morgen. Kein Blut, kein Tod. Nur dieser Kuss, dieser eine Moment inmitten eines zerbrochenen Universums.
Leila wollte denken, wirklich – doch der Kuss fühlte sich zu echt an. Zu menschlich. Wie ein verzweifelter Versuch, aus all dem Schmerz eine Brücke zu bauen. Etwas in ihr antwortete darauf, instinktiv, verletzlich, offen. Als würde auch sie etwas in ihm sehen, das noch zu retten war.
Warum war er jetzt so anders? Warum fiel ihm plötzlich all das aus dem Mund, was er zuvor verschwiegen hatte? Vielleicht, dachte sie, hatte der Bruch – der Mord, die Angst, ihr Rückzug – etwas in ihm aufgerissen. Eine alte, vernarbte Wunde, die nun endlich Luft bekam. Vielleicht war dieser Mann vor ihr nichts weiter als ein zutiefst verletzter Junge, der nie gelernt hatte, wie man geliebt wird. Der nie geglaubt hatte, dass er es verdient hätte.
Doch genau in dem Moment, in dem sie sich fast in diesem Gedanken verlor, schob sich die Realität zurück in ihr Bewusstsein. Wie eine kalte Hand, die sich auf ihr Herz legte. Sie konnte nicht einfach vergessen. Nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen. Die Schuld wog zu schwer, das Bild der Tat zu deutlich in ihrem Kopf.
Langsam, beinahe widerstrebend, löste sie sich von ihm. Ihre Lippen zitterten noch, ihre Haut prickelte, aber in ihren Augen spiegelte sich nun etwas anderes – Verwirrung. Zweifel. Angst.
„Ich... ich sollte jetzt wirklich schlafen gehen", sagte sie leise, kaum hörbar, als hätte sie Angst, die Worte könnten etwas zerstören. Ihre Stimme war matt, benommen vom Rausch des Moments, doch ihr Blick wich dem seinen aus. Sie wollte seine Reaktion nicht sehen. Nicht jetzt.
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verschwand in ihrem Zimmer. Die Tür fiel mit einem sanften Klicken ins Schloss – und mit ihr verschwand auch das letzte bisschen Wärme aus dem Raum.
Michael blieb stehen, wie eingefroren. Noch ein Schritt, und er hätte sie vielleicht halten können. Noch ein Wort, und sie hätte sich vielleicht umgedreht. Doch er tat weder das eine noch das andere.
Stattdessen ließ er sich schwer auf die Couch sinken, als hätten seine Beine den Dienst versagt. Seine Ellbogen stützten sich auf die Knie, die Hände bedeckten sein Gesicht. Ein raues, brüchiges Seufzen entrang sich seiner Kehle, mehr ein Laut des Erschöpfens als des Erleichterns.
Die Dunkelheit im Raum war tief und still, durchdrungen nur von seinem unregelmäßigen Atem. Alles in ihm fühlte sich leer an. Aufgebraucht. Wie eine Hülle, aus der das Leben entwichen war. Der Kuss hatte ihn berührt – tiefer, als er zugeben wollte. Er hatte etwas in ihm angerührt, das lange verschüttet gewesen war: Hoffnung. Das Gefühl, dass es vielleicht doch einen Weg zurück geben konnte. Zu sich selbst. Zu ihr.
Aber nun war da nur Stille. Und die Fragen, die ihn auffraßen. Hatte er sie verloren? Hatte er zu viel zerstört?
Michael wusste nicht, was der nächste Tag bringen würde. Doch in diesem Moment war er einfach nur müde. Müde vom Kämpfen. Vom Schweigen. Vom Wegsehen. Müde davon, ein Mensch zu sein, der er nie hatte werden wollen.
Und so saß er da – allein, inmitten der Nacht –, und hoffte, dass irgendwo im Dunkel doch noch ein Licht wartete. Ein Funke. Ein Anfang.
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Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen, über Feedback würde ich mich sehr freuen! c:
lea <3
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