
𝟎𝟒 | 𝐮𝐧𝐜𝐨𝐦𝐟𝐨𝐫𝐭𝐚𝐛𝐥𝐞
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Als Leila verstand, dass die Person vor ihr nicht der Einbrecher, sondern Michael war, brach sie weinend zusammen. Ihre Beine gaben einfach nach, als hätte sich all die aufgestaute Anspannung der letzten Minuten explosionsartig entladen. Tränen rannen in Strömen über ihr Gesicht, ihre Schultern zuckten unkontrolliert, während ihr Körper sich gegen die Überforderung zu wehren schien. Die ganze Panik, die sie in den letzten zwanzig Minuten verspürt hatte — das Zittern, die Angst, der Adrenalinschub, die schneidende Ungewissheit — fiel in einem Moment von ihr ab, wie eine schwere Last, die man viel zu lange getragen hatte.
Michael stand noch einen Moment regungslos da, wie eingefroren in der Bewegung. Dann bemerkte er, wie Leilas Körper langsam zur Seite kippte, und sofort ging er zu ihr hinunter, setzte sich neben sie auf den kalten Boden. Unsicher, beinahe unbeholfen, legte er seine Hand auf ihre. Sein Griff war zögerlich, fast schüchtern, als wäre er sich nicht sicher, ob sie seine Berührung zulassen würde. Er wollte etwas sagen, irgendetwas Tröstendes, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Alles, was er empfand, war eine dumpfe Ohnmacht gegenüber ihrer Verletzlichkeit.
Doch das brauchte er auch nicht. Leila hob langsam ihren Kopf, ihre Augen gerötet und verschleiert von Tränen, doch voller Lebendigkeit. In der Dunkelheit konnte sie nicht erkennen, ob Michael sie direkt ansah, aber sie spürte seine Aufmerksamkeit, seine präsente Stille.
„B-bist du okay?" fragte sie mit brüchiger Stimme, ihre Worte begleitet von einem weiteren Schluchzen. Die Frage war leise, fast flehend, als wolle sie die Angst mit einer Antwort vertreiben.
Michael zögerte. Sein Blick war abwesend, als würde er in Gedanken durch die letzten Minuten wandern, durch das, was er gerade erlebt hatte, durch das, was sie hätte verlieren können. „Warum weinst du?" fragte er schließlich, seine Stimme kaum mehr als ein gehauchtes Echo ihrer Sorge. Es war keine Abweisung, keine Kaltherzigkeit in seinen Worten, sondern pure Ratlosigkeit. Er konnte nicht verstehen, warum sie so sehr reagierte. Es war doch nichts passiert, oder?
Leila stieß ein kurzes, halbherziges Lachen aus. Es klang wie ein Aufatmen, befremdlich in seiner Mischung aus Erleichterung und Überforderung. Dann beugte sie sich vor, umarmte ihn ohne zu zögern. Ihre Arme legten sich fest um seinen Körper, als könnte sie ihn damit festhalten, an diesen Moment binden, ihn vor allem beschützen, was da draußen lauerte.
Michael spürte ihre Wärme, obwohl der Raum um sie herum noch immer von einer eisigen Kälte durchzogen war. Erstarrt saß er da, seine Arme hingen einen Moment regungslos an seinen Seiten. Doch dann bewegte er sich. Langsam, beinahe zärtlich, hob er seinen Arm und legte ihn um ihre Taille. Er drückte sie vorsichtig etwas dichter an sich, als wäre er sich nicht sicher, ob es richtig war. Ihr Atem strich gegen seinen Hals, und für einen Moment lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken.
„Ich dachte, du wärst tot. Ich bin einfach nur erleichtert," sagte Leila leise, als sie sich wieder löste. Ihre Stimme bebte, doch es lag eine Klarheit in ihr, eine Aufrichtigkeit, die Michael für einen Moment sprachlos machte.
Er sah sie einen langen Moment an. Nicht weil er wusste, was er sagen sollte, sondern weil er es nicht wusste. Dann stand er langsam auf, bot ihr seine Hand an. Leila griff zögerlich danach, und er half ihr, sich vom Boden zu erheben. Ihr Blick fiel für einen Moment auf die Pistole, die einige Meter weiter auf dem Boden lag. Sie drehte sich nicht danach um.
„Du brauchst keine Angst haben," sagte Michael ruhig, seine Stimme diesmal etwas fester, fast beschwörend. „Er kommt nicht wieder."
,,W-was hast du mit ihm gemacht?", fragte sie ihn unsicher. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch, ein zitterndes Flüstern in der Stille der Nacht. Leila konnte in der Dunkelheit sein Gesicht nicht ganz erkennen, die wenigen Lichtstrahlen, die durch das Fenster fielen, reichten kaum aus, um seine Züge zu deuten. Doch sie hätte schwören können, dass sich für einen winzigen Augenblick seine Lippen zu einem Lächeln verzogen hatten. Kein kaltes, hämisches Grinsen. Nein, eher ein erschreckend zufriedenes, beinahe friedliches Lächeln.
Sie hatte ihn vorher noch nie lächeln sehen. Und genau das machte es für sie umso unheimlicher.
,,Ich habe ihn verschreckt", antwortete Michael schließlich mit ruhiger Stimme, die so kontrolliert klang, als hätte er die Situation von Anfang an beherrscht. Seine knappe Antwort hätte ebenso gut eine Schutzmauer sein können, eine Barriere gegen weitere Fragen. Auch wenn Leila nicht verstand, wie er das geschafft hatte, fragte sie nicht weiter nach. Nicht jetzt. Ihre Gedanken waren wirr, der Schreck hing ihr noch in den Knochen und eine erdrückende Müdigkeit breitete sich in ihr aus.
Für einen Moment standen sie sich einfach nur gegenüber. Schweigend. Keine Bewegung, kein Wort. Die Dunkelheit legte sich wie ein dichter Schleier über sie, nur das schwache Summen der Straßenlaterne vor dem Fenster durchbrach die Stille.
Die Kälte des Raumes kroch langsam durch den dünnen Stoff ihres Schlafshirts und ließ sie frösteln. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und trat einen kleinen Schritt zur Seite, als würde sie sich von der Kälte wegbewegen wollen. Doch sie wusste, dass sie von innen kam. Nicht nur der Raum war kalt. Etwas zwischen ihnen war es auch. Etwas, das sie nicht benennen konnte.
,,Könntest du vielleicht diese Nacht bei mir schlafen... also wenn es für dich okay ist...", fragte sie leise und verlegen, während sie seinen Blick mied. Ihre Worte waren stockend, von Unsicherheit durchzogen, beinahe kindlich. Ihre Finger spielten nervös mit dem Saum ihres Shirts, ihre Wangen wurden heiß, obwohl ihr Körper zitterte.
Normalerweise hätte sie so etwas nie getan. Einen Mann, den sie kaum kannte, in ihr Bett einzuladen – das passte einfach nicht zu ihr. Aber heute war nichts normal. Heute war eine Ausnahme. Heute hatte sich die Welt auf den Kopf gestellt.
Michael reagierte nicht sofort. Er starrte sie an, als hätte sie ihn mit dieser Bitte überrumpelt. Seine Miene war undurchdringlich, doch in seinen Augen blitzte kurz etwas auf. Verwirrung? Unsicherheit? Vielleicht sogar Angst?
Er sagte nichts. Kein Ja, kein Nein. Stattdessen nickte er nur leicht, fast unmerklich, als wäre auch ihm die Situation unangenehm. Dann folgte er ihr schweigend in das Schlafzimmer. Seine Schritte waren leise, vorsichtig, als wäre jeder Tritt auf dem Boden ein Risiko.
Warum war Michael so unsicher? Nicht einmal, als der Einbrecher in ihrer Wohnung gewesen war, hatte er so gewirkt. In diesem Moment war er ruhig, bestimmt, fast unerschütterlich gewesen. Doch jetzt wirkte er beinahe unbeholfen. Als wäre ihm das, was gerade geschah, fremder als jede Bedrohung da draußen.
Leila spürte, wie sich die Spannung zwischen ihnen verdichtete, als sie gemeinsam das Schlafzimmer betraten. Das Licht blieb aus, nur der bläuliche Schimmer der Straßenlaterne fiel durch die halb geschlossenen Vorhänge auf das Bett. Sie hob die Decke an, rutschte vorsichtig auf ihre Seite und machte ihm schweigend Platz.
Michael blieb für einen Moment am Rand des Betts stehen. Er blickte auf das Bett, als wäre es eine Schwelle, die er nicht ohne weiteres überschreiten durfte. Dann, zögerlich, setzte er sich auf die Bettkante, zog sich die Schuhe aus und legte sich langsam hin, wobei er darauf achtete, einen kleinen Abstand zwischen ihnen zu lassen.
Leila lag auf der Seite, den Rücken zu ihm gewandt, ihr Herz schlug laut in ihrer Brust. Sie spürte seine Anwesenheit, jede Bewegung, jeden Atemzug. Die Matratze gab unter seinem Gewicht leicht nach, und doch lag eine Distanz zwischen ihnen, die mehr als nur physisch war.
Sie fragte sich, was in seinem Kopf vorging. Ob er ebenso angespannt war wie sie. Ob er die Stille ebenso drückend empfand. Ob er sich überhaupt sicher fühlte.
Sie konnte nicht schlafen. Nicht wirklich. Ihre Gedanken kreisten um ihn, um das, was geschehen war, um das, was noch geschehen könnte. Michael lag still neben ihr, bewegte sich kaum. Nur manchmal hörte sie seinen Atem, gleichmäßig, ruhig. Oder war er nur so ruhig, wie er wirkte?
Sie drehte sich vorsichtig um, lag nun auf dem Rücken und wagte einen kurzen Blick zu ihm. Seine Augen waren offen. Er starrte an die Decke, seine Hände auf der Brust verschränkt. Als spürte er ihren Blick, wandte er den Kopf leicht zu ihr.
Keiner von beiden sagte etwas. Sie sahen sich nur an, in der Dunkelheit, ohne Worte. Die Nacht war still, doch in ihren Köpfen war ein Sturm. Gedanken, Ängste, Hoffnungen.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn zu bitten zu bleiben. Vielleicht auch nicht. Vielleicht brauchten sie beide in dieser Nacht einfach nur das Gefühl, nicht allein zu sein.
Der Raum war kalt. Doch unter der Decke war es warm. Und für einen Moment, nur einen winzigen Moment, fühlte sich Leila nicht mehr ganz so verloren an.
Auch wenn sie ihn kaum zwei Tage kannte.
Und auch wenn sie noch immer nicht wusste, wer er wirklich war.
„Warum sorgst du dich so um mich?", fragte der junge Mann plötzlich, seine Stimme durchbrach die bedrückende Stille, die sich wie ein dichter Schleier über das Schlafzimmer gelegt hatte. Es war eine dieser stillen Minuten in der Nacht, in denen alles lauter zu werden schien: das Ticken der Wanduhr, der schwache Wind, der durch das gekippte Fenster streifte, das gelegentliche Knacken des alten Parketts. Leila richtete sich auf, ihre Bewegungen langsam und vorsichtig, als fürchtete sie, das Gleichgewicht der Nacht zu stören.
Verwirrt sah sie ihn an. „I-ich weiß es nicht ... ich will dir einfach nur helfen ... und ich will nicht, dass dich jemand tötet", stammelte sie, ehrlich, aber dennoch verunsichert über die plötzliche Intimität des Gesprächs. Ihre Stimme war brüchig, sie klang beinahe wie ein Flüstern, das sich zwischen den Wänden verlor.
Michael sah sie mit einem Ausdruck an, den sie nicht ganz deuten konnte. Etwas Zartes mischte sich mit seinem sonst so kalten Blick. „Ich will auch nicht, dass du stirbst", erwiderte er leise, fast zärtlich, und seine Lippen verzogen sich zu einem leichten, kaum merklichen Lächeln.
Es war das erste Mal, dass sie ihn so sah. Ein echtes Lächeln. Kein gespielter Ausdruck, keine Maske, sondern ein Moment der Offenheit. Und dieses kleine, flüchtige Detail reichte, um Leilas Herz einen Schlag überspringen zu lassen.
Sie wusste selbst nicht, was sie dazu trieb, aber der Schock der vergangenen Stunde, die anhaltende Angst und die plötzliche emotionale Nähe zwischen ihnen ließen ihre Vernunft in den Hintergrund treten. Ihr Körper handelte, bevor ihr Verstand ihn aufhalten konnte.
Langsam beugte sie sich zu ihm hinüber, ihre Bewegungen vorsichtig, tastend. Ihre Finger glitten durch seine blonden, leicht zerzausten Haare, spürten die Weichheit, die man ihm auf den ersten Blick gar nicht zugetraut hätte. Ihre Lippen fanden die seinen, berührten sie sanft, zögernd, ehe sie sich entschlossener dagegen presste.
Doch etwas stimmte nicht.
Sein Körper reagierte nicht. Kein Zurückweichen, kein Entgegenkommen. Keine Erwiderung. Als hätte sie gegen eine Mauer geküsst.
Erschrocken zog sie sich zurück, ihre Augen suchten in seinem Gesicht nach einer Reaktion, doch was sie dort fand, verwirrte sie zutiefst. Sein Blick war eine seltsame Mischung aus Überforderung, Misstrauen und einer Spur von Traurigkeit.
„Oh Gott ... e-es t-tut mir so Leid, ich ...", stammelte sie, ihre Stimme brach mitten im Satz ab, von der aufkeimenden Scham erstickt. Ehe Michael etwas erwidern konnte, stand sie hastig auf, stolperte fast über die Bettkante und lief mit fliegenden Schritten ins Badezimmer, dessen Tür sie hinter sich schloss.
Dort stand sie einen Moment lang einfach nur da. Ihre Brust hob und senkte sich schnell, ihr Herz raste, als hätte sie einen Marathon gelaufen.
„Fuck, fuck, fuck", murmelte sie leise und presste die Hände gegen ihr Gesicht. Ihre Finger zitterten, als hätten sie gerade jemanden verletzt. Wieso hatte sie das getan? Warum hatte sie ihn geküsst? Sie kannte ihn kaum. Wusste fast nichts über ihn. Und doch hatte sich etwas zwischen ihnen aufgebaut, ein unsichtbares Band, das sich nun wie eine Schlinge um ihr Herz legte.
Sie atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen. Es war passiert. Sie konnte es nicht rückgängig machen. Aber vielleicht konnte sie sich wenigstens wieder fangen. Leila tastete nach dem Lichtschalter, ihre Finger fanden ihn nach kurzem Suchen, und sie drückte ihn herunter.
Grelles Licht flutete das kleine Badezimmer. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihre Augen sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten. Sie blinzelte ein paar Mal, trat langsam zum Spiegel – und schrie auf.
Was sie dort sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Ihre Kleidung – das weiße T-Shirt, die hellgraue Jogginghose – war übersät mit dunklen, rätlichen Flecken. Es war getrocknetes Blut, das sich wie eine makabre Zeichnung über ihren Körper zog. Brust, Bauch, selbst der Saum ihres Shirts waren befleckt.
Ein sekundenlanger Moment der Leere durchfuhr sie. Ihr Blick starrte fassungslos in den Spiegel. Es war nicht ihr Blut. Sie spürte keinen Schmerz, keine Wunde. Kein Stechen, kein Brennen. Es war fremdes Blut.
Aber wessen?
Michael war nicht verletzt gewesen, zumindest nicht sichtbar. Auch sie hatte ihn nicht bluten sehen, als er zurück ins Schlafzimmer gekommen war. Hatte sie sich getäuscht? Oder war in den Minuten, in denen er allein im Wohnzimmer gewesen war, etwas passiert, von dem sie nichts wusste?
Sie hob langsam ihre Hand, betrachtete die Flecken an ihren Fingern. Die Verteilung des Blutes war chaotisch, wild, als wäre jemand sehr nah an ihr gewesen, als es gespritzt war. Ihr wurde übel.
Ein kalter Schauer überzog ihre Haut, als sie sich langsam von ihrem Spiegelbild abwandte. Sie tastete zurück zur Wand, schaltete das Licht wieder aus, als könnte sie dadurch vergessen, was sie gesehen hatte.
Aber es war da. Auf ihrer Haut. Auf ihrer Kleidung. In ihrem Gedächtnis.
Sie stand stocksteif da, unfähig zu denken. Alles in ihr schrie danach, etwas zu tun – sich umzuziehen, die Kleidung zu verbrennen, Michael zu konfrontieren, wegzulaufen – doch sie konnte sich nicht rühren.
Sie konnte nur noch hoffen, dass sie endlich aufwachen würde. Dass das hier ein Albtraum war. Aber das war es nicht.
Das Blut war echt. Und es war nicht ihres.
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Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen.
Über Likes und vor allem Kommentare würde ich mich sehr freuen!
lea <3
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