𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟏
↬𝖪𝖺𝗉𝗂𝗍𝖾𝗅 𝟣↫
Marian blickte auf die Burg, die vor ihr aufragte. Sie hasste Burgen, ganz besonders diese.
Trotzdem zwang sie sich dazu, langsam näher zu gehen. Immerhin war sie eine Prinzessin, und sie hatte Pflichten.
Nachdem sie ihr Pferd einem der Stallburschen übergeben und ihren Begleitern einen letzten, kummervollen Blick zugeworfen hatte, schritt sie langsam durch das Tor, hinein in die Burg.
Diese war einfach prächtig eingerichtet. Von den Wänden hingen wunderschöne Wandteppiche in allen Farben und Kerzen brannten auf riesigen Kronleuchtern. Für jeden anderen Bürger in ganz England wäre es eine Ehre, hier zu sein, aber Marian wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als einfach wieder zu gehen.
Am besten nach Hause.
Wobei Marian mit Zuhause nicht das Galbury-Castle meinte, jene Burg, in der die Prinzessin neuerdings lebte, sondern das kleine Bauernhaus, in dem Marian ein paar Jahre ihrer Kindheit verbracht hatte.
Ihre Mutter und die anderen hatten dort in Angst gelebt, für die Prinzessin selbst war das aber vermutlich die schönste Zeit ihres Lebens. Natürlich – als vierjährige hatte Marian noch nicht so wirklich verstanden, warum sie, ihre Mutter und ihre Schwester Joan mitten in der Nacht aus dem Beaumont Palace flüchten mussten, um in ein völlig fremdes Land zu ziehen. Auch jetzt, Jahre später, verstand sie den wirklichen Grund dahinter nicht. Vermutlich war es dem Stolz ihrer Mutter oder der Selbstgefälligkeit ihrer Brüder zu verdanken.
„Eure Hoheit, willkommen!" Der Earl von Huntingdon war ihr entgegengetreten. Er war mit seinen 55 Jahren zweifellos nicht mehr der Jüngste. Seine Haarfarbe ging bereits ins Graue über. Auf seinem Gesicht hatten sich bereits zahlreiche Falten gebildet. Und auch sein noch so bunte und edle Kleidung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er viel zu wohlgenährt aussah. „Reich und fett", so hätte Richard ihn genannt.
Die Prinzessin zwang sich zu einem distanzierten Lächeln. Nicht zu freundlich, aber auch nicht eiskalt. Denn obwohl auf dem Gesicht des Earls ein strahlendes Lächeln lag, war er nicht nur einer der reichsten, sondern auch einer der mächtigsten Männer im ganzen Land. Richard hatte stets behauptet, dass Männer wie er nur eines im Sinn hatten: Noch reicher zu werden. „Danke für die Einladung, Mylord! Verzeiht bitte, dass ich mich ein bisschen verspätet habe!"
Der Earl winkte ab. „Ach, da gibt es doch nichts zu entschuldigen, Eure Hoheit. Ich weiß natürlich, dass Ihr auch noch andere wichtige Verpflichtungen hattet. Ihr habt die Messe verpasst, aber der Herrgott wird es Euch schon verzeihen."
Marian nickte.
„Aber zum Glück seid Ihr rechtzeitig zum Essen gekommen, Hoheit", fuhr der Earl fort, „Es ist natürlich nur ein bescheidenes Pfingstessen, aber meine Köche haben sich dennoch jede Menge Mühe gegeben."
„Das glaube ich Euch, Mylord." Ein bescheidenes Essen. Vermutlich würde man damit halb England ernähren können.
„Eure Hoheit", wandte sich der Earl an Marian, während er die junge Frau durch die Gänge seiner Burg führte, „Habt Ihr schon etwas Neues von Eurem Bruder gehört?"
Marians erstarrte. „Nein", meinte sie schließlich, „Zu meinem Bedauern nicht."
Der Earl nickte, seine Miene schien ein wenig zu mitfühlend zu sein. „Ich bete jeden Tag zu Gott, dass unser geliebter König heil zurückkehrt."
„Natürlich tut Ihr das", sagte Marian leise, viel zu leise, als dass ihr Gegenüber sie hören könnte.
„Ich ebenso", fügte sie um einiges lauter hinzu.
Eigentlich hatte sie mit dem Beten schon lange aufgehört. Vier Jahre. Richard war schon seit vier Jahren fort. Vermutlich würde nicht einmal Gott den König zurückbringen können.
„Hier wären wir." Der Earl kam vor den großen Türen des Saals zu stehen. Zwei Diener hielten ihm diese auf.
Huntingdon führte sie hinein.
Wie der Rest der Burg war auch der große Saal verschwenderisch eingerichtet. Fälle hingen an den Wänden. Prächtige Kronleuchter hingen von der Decke. Rote Vorhänge hingen vor den großen Fenstern.
Im ganzen Raum waren Tische verteilt, welche Dutzende Speisen geladen haben.
Die Prinzessin musste sich förmlich zusammenreißen, um weiter zu gehen. Er würde da sein. Natürlich würde er da sein. Und dann würde sie sich nicht mehr verstecken können.
Ob er sich wohl verändert hatte? Oder war er immer noch der überhebliche Adelige, welchen sie in Erinnerung hatte? Der Krieg veränderte die Leute doch. Jeder Mann war doch bisher anders aus dem Krieg zurückgekehrt. Stiller, in sich gekehrt, gebrochen. Er würde doch keine Ausnahme sein. Vielleicht hatte er auch seine Arroganz im Heiligen Land zurückgelassen.
Marians Blick wanderte zum Herrentisch, welcher höher als alle anderen Tische aufragte, auf welchem prächtigere Speisen waren und besser angezogene Menschen saßen.
Die reichsten der Reichen. Die engsten Freunde des Earls.
Prüfend musterte die Prinzessin den Tisch. Sie erkannte den Earl von Surrey, den Erben von Norfolk und den jungen Earl von Leicester. Sie alle schienen in ein wichtiges Gespräch vertieft. Sie erblickte andere Adelige, aus Bedfordshire, Cambridgeshire und selbst der Earl aus Essex war angereist. Aber er war nicht da.
„Wo ist mein Sohn?" Der Earl hatte sein Fehlen offenbar ebenso bemerkt.
„Er wollte an die frische Luft gehen, Mylord", meldete sich ein Diener zu Wort.
Der Earl seufzte. „Hoheit, verzeiht. Aber ich sehe es als meine Pflicht an, dafür zu sorgen, dass mein Sohn am Festessen teilnimmt. Ein bisschen Spaß tut ihm sicher gut. Vor allem nach allem, was er durchgestanden hat."
„Natürlich Mylord." Marian bemühte sich, verständlich zu klingen. Sie biss sich auf die Zunge, um nichts anderes hinzuzufügen. Wenn er nicht hier sein wollte, dann war dies doch sein Problem. Sie würde sich nicht darum kümmern. Hatte er es doch so einfach. Er war immerhin zurückgekehrt.
Zurückgekehrt, nachdem man ihn für tot erklärt hatte. Er, und so viele andere nicht. Marian musste an ihren Bruder denken. Ob es ihm wohl gut ging?
Die Prinzessin hatte viele Geschwister, doch mit Richard hatte sie sich stets am besten verstanden. Sie hatte ihn stets aufgesucht, falls sie ein Problem hatte, oder einfach nur einen Ratschlag brauchte. Und er war stets für sie da gewesen. Die Freundschaft der beiden hatte so weit gereicht, dass Marian von ihrem Bruder sogar zu Turnieren mitgenommen wurde.
Ihre Mutter hatte darüber nur den Kopf geschüttelt und ihrem Vater war Marian eigentlich schon immer egal gewesen. Ihre Geburt war eine reine Enttäuschung für ihn: nur ein weiteres Mädchen. Das Vierte, um genauer zu sein. Ein Junge wäre besser gewesen. Das hatte Marian oft gehört.
Ihre Mutter, Eleonore von Aquitanien, die mächtigste Frau Englands und Marians großes Vorbild hatte sich hingegen manchmal die Zeit genommen, ihr Geschichten zu erzählen. Von den Griechen, und deren Bündnisse gegen die Perser. Und von Karl dem Großen, welchen ihre Mutter immer wieder auch „Pater Europae" genannt hatte.
Am liebsten hatte Marian aber Geschichten über ihrer Urgroßmutter Mathilda gehört, und wie sie zur „Herrin der Engländer" wurde. Marian hatte ihre Vorfahrin förmlich vergöttert. Vielleicht, weil sie in den Geschichten ihre Mutter eine Art Heldin war. Vielleicht auch nur, weil sie ebenfalls rote Haare gehabt hatte.
Damals war sie etwa sieben Jahre alt gewesen. Jetzt – zehn Jahre später – konnte Marian beim besten Willen nicht mehr sagen, wann sie das letzte Mal mit Eleonore von Aquitanien gesprochen hatte. Man entfremdet sich mit der Zeit.
Für Marian war dies eigentlich nicht so schlimm. Ihre Mutter war eine anstrengende Person gewesen, stets auf ihrem Vorteil aus. Die Gegenwart ihres Bruders war Marian dagegen viel angenehmer erschienen. Aber er war nicht hier. Richard Löwenherz, Englands geliebter König, war verraten worden, von Kaisern und Königen, die er für seine Freunde gehalten hatte. Nun ist er meilenweit fort, in Gefangenschaft des Kaisers von Deutschland, und niemand wusste Genaueres. Huntingdons Sohn war einst mit ihm in die Schlacht gezogen. Und nun war er hier, unversehrt. Während Richard meilenweit entfernt war.
„Bitte, Eure Hoheit." Der Earl machte eine ausladende Geste und holte sie damit aus ihren Gedanken. „Setzt Euch doch! Genießt das Fest! Ich werde schon dafür sorgen, dass Euch mein Sohn mit seiner Anwesenheit beehrt."
„Danke Mylord."
Nach einer weiteren Verbeugung verließ der Earl den Saal.
Eigentlich hätte sich Marian nun hinsetzen sollen. Manche der anderen Adeligen sahen sie erwartungsvoll an. Eigentlich hätte sich Marian in die Unterhaltungen einbringen sollen. Natürlich nur mit kurzen Bemerkungen über belanglose Themen. So wie es sich für eine junge Dame gehörte.
„Eure Hoheit." Hugh de Beaumont war aufgestanden. Seit dem Tod seines Vaters im Heiligen Land trug er den Titel des Earls of Leicester. Und das, obwohl er kaum älter als Marian selbst war. „Wie schön, dass Ihr es doch noch geschafft habt." Er stand auf und kam zu ihr. „Verzeiht mir die Frage, Hoheit, aber wie geht es meiner Schwester? Sie ist wohlauf, oder?"
„Natürlich", erwiderte Marian, „Sie ist in Galbury geblieben." Die Prinzessin senkte ihre Stimme. „Mylord, Ihr wisst, seit dem Unfall begibt sie sich nur ungern auf längere Reisen."
„Bitte richtet Ihr meine Grüße aus!", sagte der junge Earl.
„Gewiss doch."
„Darf ich Euch nun zu Tisch geleiten, Hoheit?"
Marian warf einen kurzen Blick zu den anderen Adeligen. Es war zu laut hier. Zu voll. Und er war ohnehin nicht hier.
„Sucht ihr nach Locksley?" Leicester war ihrem Blick offensichtlich gefolgt. „Er meinte, er würde bald kommen, Hoheit. Ich habe vorhin mit ihm gesprochen."
„Natürlich wird er bald kommen. Sagt ihm, dass ich für ein paar Minuten draußen bin, an der frischen Luft."
„Natürlich, Eure Hoheit."
Marian wandte sich ab und ging. Sie konnte die Blicke der anderen Adeligen in ihrem Rücken fühlen. Aber sie drehte sich nicht mehr um. Denn sie wollte nicht, dass irgendjemand sah, wie wütend sie gerade war. Wütend auf Locksley, weil er es nicht als nötig erachtete, zu kommen. Wütend auf ihren Bruder und auf den Kanzler, weil sie für all das verantwortlich waren. Wütend auf sich selbst, weil sie so feige gegangen war.
Aber sie würde nicht auf Locksley warten. Das hatte Marian nun beschlossen.
Wie hatte Richard ihn nur in seiner Gegenwart aushalten können? Mit ihm gemeinsam ins Heilige Land ziehen können? Mit ihm Seite an Seite kämpfen können?
Marian wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie Huntingdons Sohn ohne zu zögern gegen Richard ausgetauscht hätte.
Nicht nur weil er ihr Bruder war. Sondern weil England seinen rechtmäßigen König brauchte.
Marian hatte fünf Brüder gehabt. Drei davon waren Tod. Richard war gefangen. Nur John, der jüngste Bruder, war hier. Obwohl er Richard versprochen hatte, England in seiner Abwesenheit nicht zu betreten, kam er zurück, ehe Richard im Heiligen Land angekommen war. Und ließ sich als sein rechtmäßiger Erbe zum ‚Lord Protektor des Reiches' ernennen. Und damit war er ebenso mächtig, wie Richard es einst gewesen war.
„Eure Hoheit, wie schön Euch hier zu sehen."
Marian drehte sich schlagartig um und blickte in das Gesicht von William de Wendenal, dem Sheriff von Nottingham.
Zweifellos war er das, was die meisten sich als einen Sheriff vorstellen. Er hatte einen kühlen Blick, die Hand stets auf seinem Schwertknauf ruhend. Das einfache Volk fand ihn grausam und skrupellos. Die meisten Adeligen sahen in ihm einen normalen Mann, keinen von ihrer Sorte. John sah in ihm einen wichtigen Verbündeten. Nur Marian selbst war sich nicht sicher, was sie von ihm halten sollte.
„Danke, Sheriff!", entgegnete Marian höflich. Der Sheriff war stets nett zu ihr gewesen. Er hatte sie respektiert, mit ihr geredet und gelacht, gesungen und gefeiert. Er hatte sie gleich wie ihre Brüder behandelt. Marian rechnete ihm dies hoch an.
Allerdings würde er, den Gerüchten zur Folge, die Bürger von Nottingham in Johns Namen ausbeuten und ihnen das letzte bisschen Geld nehmen, das sie noch besaßen.
„Was macht Ihr hier draußen, Sheriff?", fragte Marian.Der Sheriff zuckte nur mit den Schultern. „Im Saal war es mir zu voll. Wisst Ihr, ich halte nicht viel von Festen."
„Und trotzdem seid Ihr hier."
„Genau", der Sheriff lächelte, „Und trotzdem bin ich hier. Aber warum seid Ihr nicht im Saal? Wollt Ihr schon gehen?"
Marian nickte bloß.
„Ach bleibt doch. Der Abend hat doch gerade erst begonnen. Alle meinen, dass der Earl keine Kosten und Mühen gescheut hat. Der Wein ist köstlich, habt Ihr schon probiert?" Wendenal brachte ein fast spitzbübisches Grinsen zustande. Von irgendwo her hatte er zwei Weingläser aufgetrieben, wobei er eines davon mit einer leichten Verbeugung der Prinzessin überreichte.
„Danke Mylord."
„Natürlich doch."
Gedankenverloren blickte Marian auf ihr Glas. Er hatte genau gewusst, warum sie gekommen war. Und dennoch hatte er es vorgezogen, nicht zu erscheinen.
„Hoheit, verzeiht die Frage, aber habt Ihr schon Robert von Locksley begrüßt?"Marian fuhr hoch. „Wie kommt Ihr darauf?"
„Nur so. Wisst Ihr, wenn man hier in den Gängen herumstreift, bekommt man so einiges mit. Zum Beispiel, dass unser heimgekommener Lord unauffindbar ist."
„Huntingdon scheint gar nicht begeistert darüber zu sein." Marian musste lächeln. „Er ist aus dem Saal gestürmt, um ihn zu suchen."
„Zu Recht. Wir wissen doch alle, dass das Pfingstfest eigentlich eine Begrüßungsfeier für ihn ist." Der Sheriff hob sein Glas. „Also trinken wir auf Locksley, unserem heimgekehrten Ritter."
„Auf Locksley." Marian hob ihr Glas, dann leerte sie es in wenigen Zügen. Der Wein war gut. Marian wollte mehr davon.
„Geht es Euch besser, Eure Hoheit?", erkundigte sich der Sheriff nun mit einem etwas besorgtem Gesichtsausdruck.
„Besser", erwiderte Marian, „Ich muss jetzt aber wirklich los. Einen schönen Abend noch." Mit diesen Worten gab Marian ihr Glas einem der Diener und ging schnellen Schrittes davon, den Blick immer energisch geradeaus gerichtet.
✦✦✦
Erst als sie eine ganze Weile im Schloss herumgeirrt war, blieb Marian stehen und nahm sich Zeit, ihre Umgebung genau zu betrachten.
Wie auch überall anders hingen hier Wandteppiche von den Wänden, aber sie wurden weniger, je weiter sie ging. Wo war sie hier? Eigentlich sollte sie zurückgehen, aber dann würde Marian wieder dem Sheriff begegnen, und das wollte sie um jeden Preis verhindern. Langsam ging sie weiter. Endlich endete der Gang vor einer einfachen Holztür.
Ohne weiter darüber nachzudenken, öffnete sie diese.
Dahinter befand sich ein kleiner, dunkler Raum. Wenige Kerzen beleuchteten diesen. Am Rand standen Fässer, etliche Flaschen und Gläser. Auch am Boden lagen leere Flaschen. Ein Weinkeller. Eigentlich wäre dieser nichts Besonderes, und eigentlich wäre Marian wieder gegangen.
Wenn da nicht ein Mann am Boden sitzen würde.
„Wen sucht Ihr?" Er hatte sich aufgerichtet. „Hierhin verirrt sich selten ein Gast."
Marian war zu perplex, um etwas zu erwidern. Sie konnte ihn nur anstarren. Seine blonden, schulterlangen Haare und die dunklen Augen verliehen ihm etwas Wildes. Etwas Abenteuerliches.
„Wen sucht Ihr?", wiederholte sich der Fremde. Er war jung. Er konnte kaum älter sein als sie selbst.
„Niemanden."
„Und was wollt Ihr dann hier? Das Fest ist auf der anderen Seite der Burg." Er sah gut aus. Dies war der Prinzessin natürlich ebenfalls aufgefallen.
„Dasselbe kann ich Euch fragen", erwiderte sie schließlich.
„Ich bin bloß ein Diener des Earls. Bei derlei Festen braucht man meine Wenigkeit nicht." Der junge Mann ließ sich an der Wand entlang auf den Boden sinken und grinste verschmitzt. „Und was tut Ihr hier, Prinzessin?"
Marian seufzte. Dann ließ sie sich neben dem Fremden nieder. „Ich verstecke mich."
„Verstecken? Vor wem denn?"
„Vor allen." Die Prinzessin überlegte kurz. Der Kanzler hatte ihr verboten, auch nur ein Wort an Uneingeweihte zu sagen. Nicht einmal ihre Hofdame wusste davon. „Genauer gesagt will ich Robert von Locksley nicht unbedingt über den Weg laufen." Sollte der Kanzler doch befehlen, was er wollte. Ihre Worte konnte er ihr nicht verbieten.
„Ihr seid hier auf der Burg seines Vaters. Das ist Euch schon klar, oder Prinzessin?" Der junge Mann schmunzelte.
„Bisher hatte er es vorgezogen, nicht zu erscheinen. Und ich werde sicher nicht auf ihn warten. Er war nicht da, und jetzt werde ich ihm sicher nicht hinterherlaufen."
„Soso..." Der Blonde wirkte immer noch belustigt.
„Ich soll ihn heiraten. Ich soll ihn heiraten, verdammt nochmal. Und er war nicht einmal da. Ich wurde extra eingeladen, und er ist nicht da. Ich hätte in Galbury feiern können, mit meinen Leuten, aber stattdessen bin ich hierhergekommen. Weil es meine Pflicht ist. Weil es mir befohlen wurde. Und er ist nicht da." Marian stoppte. Sie war laut geworden, aber es hatte auch viel zu gut getan, endlich zu reden. Endlich über dass zu reden, worüber alle schwiegen.
„Das tut mir leid", meinte ihr Gegenüber.
„Natürlich tut es das." Die Prinzessin richtete sich ein wenig auf. „Aber ich kann nichts daran ändern."
„Ihr könnt einfach gehen", schlug der Fremde vor. „Sagt, dass es irgendetwas Dringendes war. So weit ist Galbury doch nicht von Huntingdon entfernt. Oder aber ..." Er war aufgestanden und kramte etwas aus der Ecke hervor. „Oder aber Ihr bleibt noch etwas, Prinzessin. Und trinkt etwas mit mir."
Zum ersten Mal, seit sie hier war, musste Marian schmunzeln. Etwas mit einem Mann trinken, deren Namen sie nicht einmal kannte, im hintersten Winkel von Huntingdon. John würde toben, wenn er davon erfahren würde. Ihre Mutter würde enttäuscht sein. Schrecklich enttäuscht sein. Richard würde vermutlich darüber lachen.
„Gerne."
Sie sah zu, wie er sich erneut neben sie setzte und die Flasche Met öffnete.
„Na dann, Prinzessin." Er hielt ihr die Flasche hin. „Trinken wir auf Euch. Und darauf, dass uns Robert von Locksley gestohlen bleiben kann."
Marian lächelte. „Klingt gut." Dann setzte sie die Flasche an ihre Lippen und trank.Plötzlich hielt Marian inne. „Ich kenne noch nicht einmal deinen Namen", stellte sie fest. Allerdings klang sie nicht so streng wie beabsichtigt.
Der Fremde schmunzelte. „Nennt mich Robin", sagte er schließlich. „Ich heiße Robin."
„In Ordnung." Marian überreichte ihm die Flasche. „Ich heiße Marian."
„Ich weiß, wie Ihr heißt, Prinzessin."
„Nun denn." Marian stand auf. „Das heurige Pfingstfest war doch ganz annehmlich. Würdest du mich nun hinausbegleiten, bevor ich Locksley über den Weg laufe?"
„Ganz annehmlich?" Robin schmunzelte. Dann stand er ebenfalls auf. „Hier entlang, Prinzessin."
„Da wären wir", Robin kam vor einer schlichten Tür zu stehen. „Ein Dienstboteneingang. Er führt in die Ställe." Er hielt ihr die Tür auf und deutet eine leichte Verbeugung an. „Ich nehme einmal an, dass sich unsere Wege so schnell nicht mehr kreuzen werden, Prinzessin."
„Vermutlich nicht." Marian warf Robin einen letzten Blick zu. „Leb wohl, Robin." Dann ging sie.
Erst als die kühle Nachtluft sie umströmte, wurde Marian ruhiger. Hier draußen waren keine Leute. Keine hektischen Diener und keine lauten Adeligen.
Nur Ben Castell, der Hauptmann ihrer Garde, ein junger Mann Mitte 20, lehnte sich gedankenverloren gegen die Burgmauer. Er hielt nichts von Festen und wartete dementsprechend am liebsten draußen, sollte ein solches stattfinden.
„Eure Hoheit, was macht Ihr hier?", fragte er verwundert, als er Marian näherkommen sah.
„Ich fühle mich nicht wohl", meinte Marian, „Ich werde mich auf den Weg zurück machen."
Die Prinzessin rief nach einem Stallburschen, welcher ihr ihr Pferd brachte. Eine weiße Stute, Paris war ihr Name.
Philippe, der französische König, hatte das Pferd als eines der zahlreichen Geschenke mitgebracht, als er England besuchte. Einige Monate später hatte Marian gehört, wie sich ihre Mutter über die Franzosen beklagte. Und da die Prinzessin zu dem Zeitpunkt gerade in dem Alter war, wo man alles tat, um den Eltern zu widersprechen, beschloss sie das Pferd nach der Hauptstadt des Landes zu benennen, welches ihre Mutter so sehr verabscheute. Paris. „Bitte teile dem Earl, mit, dass ich schon aufgebrochen bin!", trug Marian dem Stallburschen auf und drückte ihm ein paar Münzen in die Hand. Der Junge nickte und machte sich fröhlich auf den Weg.
„Können wir los?", fragte die Prinzessin schließlich.
„Seid Ihr sicher, dass es eine gute Idee ist, jetzt schon zu gehen?" Castell strich sich unruhig über seinen Schnurrbart.
„Ich fühle mich unwohl", erwiderte Marian. Sie wusste, dass der Ritter auf sie hören würde. Denn auch er hätte es vorgezogen, in Galbury zu bleiben.
Und so ritt Marian in Begleitung Castells zurück, während hinter ihnen das Fest noch in vollem Gange war.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro