
𝟎𝟒 | 𝐮𝐧𝐞𝐱𝐩𝐞𝐜𝐭𝐞𝐝 𝐫𝐞𝐮𝐧𝐢𝐨𝐧
· • —– ٠ ✤ ٠ —– • ·
Jahre sind seit diesem Tag vergangen. Nicht einmal vierundzwanzig Stunden hatte Levi mit der der Frau verbracht, doch trotz dessen wollte sie einfach nie ganz aus seinen Erinnerungen verschwinden. Die Zeit tat jedoch sein Übriges.
Ihre Erscheinung suchte ihn in seinen Träumen immer weniger Heim, die erfolglose Suche nach ihr wurde immer seltener, bis er es letztendlich ganz aufgab. Ihre Wege trafen sich nie wieder. Vielleicht war es so gewollt, aus irgendeinem Grund schien ihm das Universum mitteilen zu wollen, dass es so besser war. Irgendwann akzeptiere Levi, dass sie nur eine weitere Person in seinem Leben war, dessen Gesicht von Jahr zu Jahr mehr verschwand. Er konnte sich nie ganz erklären, warum ihn diese Begegnung so lang verfolgte, wie ein Schleier der ihn umhüllte.
Selbst Furlan offenbarte er irgendwann seine Zerrissenheit, obwohl nein, das war gelogen. Furlan nervte ihn eher solang, bis Levi es nicht mehr aushielt. Doch auch ihr stundenlanges Gespräch gab ihm keine Klarheit. Es war nicht so, dass er romantische Gefühle für sie hegte, so wie es sein Freund zuerst vermutete.
Natürlich war Levi nicht blind, für eine Frau im Untergrund war sie gepflegt, sah weder krank noch unterernährt aus, ihre Erscheinung würde von manchen vielleicht sogar als Schönheit betitelt werden. Auch ihre Persönlichkeit hatte ihm eher Kopfschmerzen bereitet, was war es also dann?
Der Verlust ihrer Geschwister hatte sie menschlich gemacht, eine andere Seite offenbart, für die Levi Sympathie und Mitgefühl spürte. Aber war das wirklich der Grund, warum diese verdammte Göre ihn nicht einfach in Ruhe lassen konnte?
Levi verstand kaum, warum er ausgerechnet in diesem Moment wieder an Y/N dachte. Das alles war Jahre her, mittlerweile war so viel in seinem Leben vorgefallen, dass dieser Tag ihm eigentlich unwichtig erscheinen sollte. Spätestens als Levi, Furlan und Isabel dem Aufklärungstrupp beitraten, hätte er den Untergrund und all seine Dämonen dort zurücklassen sollen.
,,Captain? Was sollen wir tun?" rief Petra ihm einige Meter entfernt von einem Häuserdach zu, riss ihn damit aus seinen Gedanken. Richtig, dass alles war Vergangenheit, er musste sich auf das Schlachtfeld vor sich konzentrieren.
Was ein verdammt beschissener Anblick der sich vor ihn erstreckte. Zerstörte Häuser, duzend tote Zivilisten und Soldaten und dazu noch diese widerlichen Titanen die vereinzelt durch die Straßen wanderten.
Er hatte sich damals immer vorgestellt wie unbeschwert und leicht sich doch das Leben oberhalb der Erddecke anfühlen musste. Blauer Himmel, blühende Wiesen, frische Luft. Solch selbstverständliche Dinge die damals für Levi und seine Freunde unerreichbar schienen. Doch diese Welt war einzig und allein nur eine Wunschvorstellung. Ein Paradies, an welches sie geglaubt hatten.
Doch auch hier waren die Menschen nicht vor der Grausamkeit der Welt verschont. Schon seine erste Mission, der Tag an dem sie die Mauern zum ersten Mal verließen, bewies ihm, wie falsch sie doch all die Jahre lagen. Spätestens als die Mauern von Shiganshina ein Jahr später durchbrochen wurden war der letzte Zweifel daran verschwunden, dass die Menschen hier ein unbeschwerten Leben hatten. Zwar waren sie weniger von Krankheit und Schmutz betroffen, doch eine andere Gefahr war hier umso präsenter.
Früher im Untergrund dachte Levi kaum über Titanen nach. Sie waren beinahe nur Fabelwesen für ihn. Riesige, menschenähnliche Wesen die auf der gesamten Welt herumliefen, dessen Ziel es war Menschen zu fressen? Eine absurde Vorstellung, die sehr schnell bittere Wahrheit wurde.
Er wusste nicht wie viele er mittlerweile von ihnen getötet hatte, es war ihm ehrlich gesagt auch egal. Es war nur eine seiner vielen Aufgaben als Captain der Spezialeinheit, er versuchte wenig Gedanken daran zu verschwenden wer sie wirklich waren.. dies überließ er lieber seinen Kameraden. Seine Mission war es zu kämpfen und die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten.
,,Captain?", rief Petra ein weiteres Mal, diesmal war ihrer Stimme um einiges angespannter als noch zuvor. Levi entfernte sorgsam das Blut an seinen Klingen, bevor er seiner Untergebenen antwortete.
,,Gib Eld, Gunther und Olou die Anweisung weiter, dass ihr dabei helft die restlichen Titanen innerhalb von Trost zu erledigen. Wenn ihr fertig seid, dann sucht mich auf", rief er ihr zu, woraufhin die Soldatin mithilfe des 3D-Manöverapparates über die Häuser flog. Als Petra aus seiner Sicht verschwand, begann Levi sich zu konzentrieren, schärfte seine Sinne um die Umgebung genaustens zu analysieren.
Ein einzelner Titan im Osten wäre das einfachste und schnellste Ziel gewesen, doch seine Aufmerksamkeit zog sich hingegen auf das Szenario einige Straßen entfernt von Ihm. Seine Muskeln spannten sich an als er beobachtete wie ein einzelner Soldat gegen eine Gruppe von drei Titanen kämpfte.
Obwohl dieser nicht ungeübt wirkte, war die Anzahl der Gegner eine zu große Gefahr. Selbst ein einziger Titan konnte für erfahrene Soldaten tödlich enden, denn nur eine einzige Unachtsamkeit könnte den Kampf schneller beenden als gewollt.
Levi dachte nicht weiter über sein Handeln nach, umklammerte seine Griffe und nutzte die Greifhaken um sich über die Häuser zu schwingen. Ein eigentlich befreiendes Gefühl so weit oben im Himmel zu schweben, doch sein einziger Gedanke war es die Titanen zu töten und den Soldaten rechtzeitig zu retten bevor es zu spät war. In wenigen Sekunden schaffte es Levi mithilfe des Gases, welches aus dem Tank an seiner Hüfte schoss, die Szenerie zu erreichen.
Der Soldat erwies sich als eine weibliche Rekrutin, ihr Haar zu einem Zopf gebunden, ihr Körper und die Uniform von Titanenblut rot gefärbt. Ihr Gesicht konnte er aufgrund ihrer schnellen und präzisen Bewegungen nicht erkennen, doch an ihrer Körpersprache war zu erkennen, dass sie keine einfache Rekrutin sein konnte.
Levi konnte sich sogar vorstellen, dass sie unter den besten zehn sein musste, diejenigen, die der Militärpolizei beitreten konnten. Selbst jetzt verachtete er diese Arschlöcher noch immer.
Die Frau hatte es gerade geschafft den Nacken des ersten Titanen durchzutrennen, als ein weiterer nach den Seilen ihres 3D-Manöverapparates griff, sie somit aus dem Gleichgewicht brachte. Ohne eine Chance auf Gegenwehr wurde sie durch die Luft geschleudert, sämtliche Versuche sich zu retten blieben ohne Erfolg. Dieser Zustand veränderte sich erst, als der dritte Titan nach der Frau griff, ihren Körper mit seinen riesigen Händen umschloss. Es war eine unausweichliche Situation für sie, durch den wenigen Platz innerhalb der Titanenhand war es ihr unmöglich ihre Klingen zu benutzen.
,,Fuck.. lass mich endlich los du Mistvieh", schrie sie, versuchte irgendeine Lücke zu finden, doch sie war zu fest verschlossen worden. Das konnte auf kein Fall ihr Ende sein, sie hatte nicht so lang um ihr Überleben gekämpft und so hart an sich gearbeitet, nur um dann so jämmerlich zu krepieren.
Die Luft zum Atmen wurde immer geringer, die Schmerzen immer unerträglicher. Es blieben ihr nur noch wenige Sekunden um sich zu befreien, sonst würde ihr Körper wie eine Tomate zerquetscht werden.
Doch bevor der immer festere Griff ihre Knochen brechen konnte, verschwand das beklemmende Gefühl plötzlich. Die Fläche der Hand öffnete sich erst langsam, dann verschwand der Druck auf ihrem Körper schlagartig. In letzter Sekunde schoss die Frau einen Greifhaken in ein nahegelegenes Haus, flüchtete, bevor sie gemeinsam mit der Hand mehrere Meter zu Boden gefallen wäre.
Als sie auf dem Dach landete und ihr Herzschlag sich wieder etwas normalisierte, beobachtete sie einen Soldaten des Aufklärungstrupps dabei, wie er beinahe mit kaum einem Anzeichen von Anstrengung die Nacken der beiden Titanen durchtrennte, sie somit zu Fall brachte. Er musste es auch gewesen sein, der sie aus dem Griff befreit hatte.
Seine Bewegungen wirkten beinahe übermenschlich – weit entfernt von den Techniken, die man ihnen im Training beigebracht hatte. Die Art wie er seine Klingen hielt, wie er sich beinahe wie ein Kreisel durch die Luft bewegte. Dies war also ein Elite Soldat des Aufklärungstrupps, ein ganz anderes Level als das ihres.
Als aus den Leichen der Titanen weißer Rauch aufstieg und auch im Umkreis keine weitere Gefahr mehr zu erkennen war, konnte die Frau zum ersten Mal, seit dem der Colossale Titan die Mauer durchbrochen hatte, aufatmen. Mittlerweile konnten nicht mehr viele von diesen Viechern übrig geblieben sein und da nicht nur Eren das Loch mithilfe eines Felsbrockens versiegelt hatte, sondern nun weitere Verstärkung eingetroffen war, würde dieses Horror bald endlich ein Ende haben.
Die Frau beobachtete den Soldaten dabei, wie er die Klingen seiner Schwertes mit einem weißen Tuch säuberte, seine dunklen Haare wurden dabei durch den Wind ein wenig zerzaust. Die Augen der Frau weiteten sich ein wenig, als das Gesicht des noch zu weit entfernten Mannes begann klarer zu werden.
Nein, ihr Kopf wollte ihr nur einen Streich spielen. Dieser Soldat hatte nur Ähnlichkeiten mit ihm, auf keinen Fall konnte es sich um ihn handeln. Was, dieser arrogante Kleinkriminelle aus dem Untergrund wurde zu einem Teil des Aufklärungstrupps? Das sie nicht lachte. Doch als der Mann sich mithilfe seines 3D-Manöverapparates plötzlich näherte, konnte sie sich nicht mehr selbst belügen.
Das musste ein schlechter Scherz sein. Nein, nein das konnte nicht wahr sein. Sie bildete sich Levi nur ein. Auf keinen Fall konnte er es sein, warum hier? Warum jetzt?
,,Ist dein Teamleiter in der Nähe? Du solltest zurück zu ihm gehen bevor-", doch Levis Worte verstummten, als er direkt vor der Frau stand. Seine Augen aufgerissen, seine Lippen leicht geöffnet. Das konnte doch nicht wahr sein. D-Die Person vor ihm war nur eine Illusion, nichts weiter. War er Tod? War er zu irgendeinem Zeitpunkt gestorben und wurde nun für all die grausamen Dinge die er in seinem Leben getan hatte bestraft?
Er blinzelte einmal, dann noch einmal, doch die Frau stand noch immer vor ihm. Nein, sie war real. Die Frau stand gerade wirklich vor ihm. All die Zeit hatte er wie ein Wahnsinniger nach ihr gesucht, nur um ihr dann zufällig auf dem Schlachtfeld zu begegnen? Kein Zweifel, dass vor ihm war wirklich Y/N.
Wie zu erwarten war sie ein wenig älter geworden, doch sonst hatte sie sich kaum verändert. Ihre Haare waren durch das Sonnenlicht heller geworden, ihr vorher zierlicher Körper wies mehr Muskeln durch das Training auf. Außer diesen kaum erkennbaren Merkmalen war sie noch immer die selbe Person.. zumindest augenscheinlich.
Levi schossen sofort tausend Fragen in den Kopf. Was zur Hölle machte sie hier? Wohin war sie nach ihrer Begegnung verschwunden? Wie konnte sie aus dem Untergrund flüchten? Wie hatte sie die Jahre über gelebt und wie wurde sie zu einer verdammten Soldatin?
Y/N starrte den Mann ihr gegenüber mit dem exakt gleichen Gesichtsausdruck an, auch in ihrem Kopf herrschte ein völliges Chaos. Welche Entscheidungen in ihrem Leben hatte sie getroffen, damit sie in genau diese Situation kommen musste? Während Levi noch immer in seinem Zustand voller Schock und Überforderung gefangen war, konnte Y/N sich endlich aus ihrer Starre befreien.
,,Ich muss von hier verschwinden..", flüsterte sie mit brüchiger Stimme, drehte sich um und wollte gerade ihr 3D-Manöver benutzen um den Ort so schnell wie möglich zu verlassen, doch bevor sie ihre Hände an den Apparat legen konnte, griff Levi nach ihrem Arm, hielt sie somit auf. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper spannte sich aufgrund der plötzlichen Berührung an. Sofort wandte sie sich zurück zu Levi, ihr Blick dabei gefährlich auf den Mann gerichtet. Doch auch sein vorher unsicher Ausdruck war verschwunden, sein Gesicht nun gezeichnet durch ein Gefühl, dass selbst er nicht ganz benennen konnte.
Die Frau war ihm nie etwas schuldig gewesen, selbst nach all der Scheiße die sie abgezogen hatte. Sie waren Quitt gewesen, trotzdem fühlte es sich falsch an sie jetzt einfach gehen zu lassen. Aber was zur Hölle sollte er zu ihr sagen? Als ihr Blick so durchdringend auf ihm lag war es beinahe so, als wäre sein Kopf vollkommen leer. All die Fragen die er ihr stellen wollte verschwanden plötzlich aus seinem Gedächtnis.
,,Tss, lass mich endlich los verdammt", fauchte Y/N und versuchte ihren Arm aus seinem Griff zu befreien. Doch Levi reagierte nicht sofort. Seine Finger umklammerten sie nicht grob, aber bestimmt, fest genug, um sie davon abzuhalten zu fliehen. Sie konnte sich jetzt einfach nicht rausnehmen abzuhauen. Es war so als wäre sein Verstand endlich von diesem dichten Schleier befreit. Endlich hatte er sich wieder selbst im Griff.
„Was zur Hölle machst du hier?", brachte er schließlich heraus. Eine Frage, die zumindest nicht allzu viel von seiner eigentliche Neugierde preisgab. Y/Ns Gesicht verzog sich kaum merklich. Sie hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde. Dies musste jedoch nicht bedeuten, dass sie ihm diese auch beantworten musste.
Was nahm sich dieses Arschloch eigentlich heraus? Scheinbar hatte er sich all die Jahre über kein bisschen verändert. Sie war ihm dankbar dafür, was er und Furlan damals für sie getan hatten, aber das bedeutete nicht, dass er sich aus diesem Grund etwas herausnehmen konnte.
Verdammt, das Treffen zwischen ihnen war mittlerweile schon so lang her, warum interessierte er sich überhaupt noch für sie? Die Frau war doch nie mehr als eine Fremde, eine flüchtige Bekanntschaft gewesen. Ihr verdammtes Leben ging ihn einen Scheiß an.
,,Ich wüsste nicht warum ich dir das erzählen müsste, also lass mich endlich los", sprach sie, diesmal von Unverständnis und Frust getrieben, bereit, sich notfalls mit Gewalt aus seinem Griff zu lösen. Doch zu ihrer Verwunderung war dies nicht mehr Notwendig. Sein Griff um ihrem Arm löste sich erst zögerlich, bis er seine Hände ganz zurück nahm.
„Du hast recht..", murmelte er leise, fast tonlos. Doch anstatt endlich die Chance zu nutzen um von diesem Ort zu verschwinden, war es Y/N die sich plötzlich nicht mehr bewegen wollte. Warum interessierte er sich für sie? Warum war es fast so, als wäre es ihm wichtig? Als würde ihn ihre Reaktion verletzen?
Levis kühler Blick, der ihr so markant im Gedächtnis geblieben war, war nicht zu erkennen. Eher erinnerte er sie gerade an die Situation im Untergrund, als er ihr seine Hilfe anbot. Mitgefühl und aufrichtiges Interesse. Jemand, der vielleicht mehr Gefühle in sich trug als er die, die er augenscheinlich zeigte. Damals dachte sie, es wäre allein der Situation geschuldet, doch nun war es genauso. Ob auch er sich über die Jahre eine Maske aufgesetzt hatte, um besser mit all der Scheiße klarzukommen?
Nein, unmöglich. Levi war nicht wie sie. Im Gegensatz zu ihr war er nie allein, hatte für die damaligen Verhältnisse ein angenehmes Leben. Und wie es aussah, hatte er es geschafft einen hohen Rang im Aufklärungstrupp zu ergattern, wahrscheinlich lebte er nur so in Ehre und Ruhm. Sie waren nicht gleich, zumindest dachte sie das.
Das Zischen von ausweichendem Gas durchbrach plötzlich die angespannte Stille, woraufhin im nächsten Augenblick Olous Stimme hinter ihm erklang.
,,Caaaaptain! Alle Titanen innerhalb von Trost wurden beseitigt. Wie sollen wir weiter vorgehen?", Levi drehte sich nicht sofort zu ihm um. Sein Blick haftete für einen Moment länger an Y/N, doch dann wandte er sich mit einem leisen Seufzen ab und trat ein paar Schritte auf Olou zu.
Der Geruch von Rauch und dampfendem Titanenfleisch hing schwer in der Luft, mischte sich mit dem metallischen Beigeschmack von Blut. Levis Gedanken durften nicht weiter von Y/N Präsenz vernebelt werden, immerhin war er noch immer der Captain einer Spezialeinheit, Mitten auf einem Schlachtfeld auf dem er Verantwortung trug.
,,Versammelt die anderen Teams und beginnt mit der Bergung der Leichen. Verletze Soldaten und Zivilisten bringt ihr umgehend zu den Krankenstationen, über den restlichen Ablauf müssen die Kommandanten entscheiden", ordnete er dem junge Mann an.
Es würde Monate, vielleicht sogar Jahre dauern, bis sie dieses Chaos wieder beseitigen konnten. Die etlichen zerstörten Häuser waren einst das Zuhause von Menschen gewesen, die den Angriff wahrscheinlich nicht einmal überlebt hatten.
So eine verdammte Scheiße. Warum musste der gleiche Horror wie schon fünf Jahre zuvor ein weiteres Mal geschehen? Warum ausgerechnet heute, als der Aufklärungstrupp sich gerade aufgrund einer Expedition innerhalb von Mauer Maria befand? Wären sie zu dieser Zeit in der Nähe gewesen, hätte solch ein katastrophales Ausmaß verhindert werden können. Weniger Zerstörung, weniger Tote und Verletzte. Zufälle, die eigentlich kaum welche sein konnten. Doch es war nicht Levis Aufgabe jetzt Theorien aufzustellen. Dies überließ er lieber schlauen Köpfen wie Erwin oder Hange.
,,Verstanden Captain", antwortete Olou ihm, doch bevor er seinem Befehl folge leistete, brannte ihm eine Frage auf den Lippen, die er nicht zurückhalten konnte.
,,Sag mal, wer war die Rekrutin eigentlich gerade?", während er die Worte noch nicht ganz ausgesprochen hatte, wandte sich Levi wieder zurück zu der Stelle an der Y/N gerade eben noch stand, doch von ihr zeigte sich keine Spur mehr. Verdammt, sie musste seine Unaufmerksamkeit genutzt haben um zu verschwinden. Aber hatte er etwas anderes erwartetet? Er musste sich mit der Realität zufrieden geben.
Sie wollte die Vergangenheit hinter sich lassen und dazu gehörte auch Levi und ihre Begegnung damals im Untergrund. Gut, wenn das ihr Wunsch war dann akzeptierte er das auch. Levi hatte kein Problem sein Leben so fortzuführen wie zuvor, sie war sowieso nie ein unwichtiger Mensch für ihn gewesen, keine Ahnung warum sie so ein Drama machen musste. Sie war und blieb die gleiche arrogante Göre.
,,Niemand, nur eine selbst überschätzende Rekrutin die ohne meine Hilfe zu Titanenfutter geworden wäre", antwortete er ihm ausdruckslos, dennoch etwas bitter.
„Alles klar Captain, wir sehen uns später!" Olous Stimme hallte über das zerstörte Pflaster, ehe er wieder in Richtung der anderen verschwand.
Levi blieb noch für einen Moment an Ort und Stelle, atmete tief ein und versuchte sich endlich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Er musste genau jetzt funktionieren, wieder der beinahe gefühlskalte und unerschütterbare Captain des Aufklärungstrupps werden um zu funktionieren. Seine Aufgaben mit der Disziplin erfüllen wie sonst auch immer. Wie schon immer, ohne dass ihn etwas aus der Ruhe bringen konnte.
Sonst gab es doch auch nichts, was ihn aus der Fassung brachte. Keine Schmerzen, keine riesigen Titanen, keine ermordeten Kammeraden und ganz sicher keine Y/N. Zuerst musste er bei der Bergung und Rettung der verletzten und verstorbenen Menschen helfen, bevor er sich um das eigentlich größte Geheimnis kümmern musste.
Wer zu Hölle war Eren Jäger und warum konnte dieser Kerl sich in einen Titanen verwandeln?
٠ ✤ ٠
Y/N war kaum aus der Situation geflohen, als sie spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte. Der Griff von Levis Hand schien noch immer auf ihrem Arm zu brennen, obwohl er sie längst losgelassen hatte. Ihre Atmung war flach, ihr Blick starr nach vorn gerichtet, während sie sich durch die schmalen Gassen der zerstörten Stadt bewegte.
Sie hätte sich unter keinen Umständen jemals vorstellen können, diesem Mann noch einmal gegenüberzustehen. Es waren beinahe sieben Jahre seit diesem Tag vergangen. Es war sieben Jahr her, als sie ihre Geschwister verlor. Sieben Jahre, in denen es kaum einen Tag gab, an dem sie nicht um sie trauerte. Kaum einen Moment, an dem sie nicht darüber nachdachte, welche Entscheidung den Lauf der Dinge verändert hätte. Was sie hätte anders machen können, damit es nicht zu diesem Albtraum hätte kommen müssen.
Man sagt Zeit heilt alle Wunden, also wann war sie endlich dran? Wann würde diese Schmerz endlich aufhören? Wann könnte sie endlich nach Vorne schauen, anstatt nur zurück zu dem was einmal war. War das der Grund, warum das Wiedersehen mit Levi beinahe unerträglich war? Das sein Ausdruck sie zurück an den Moment führte, als sie ihm ihre Geschichte erzählte, während neben ihr die Leichen ihrer Geschwister langsam immer weiter verwesten?
Verdammt, warum musste er auch ausgerechnet jetzt auftauchen? Auch wenn der Weg schwer war, hatte sie es letztendlich geschafft aus dieser Hölle zu flüchten, sich irgendwie ein neues Leben aufzubauen. Und jetzt? Es war so als hätte sie diese kurze Begegnung wieder zurück zum Anfang gebracht. Unsicher, ängstlich, überfordert.. als wäre all ihrer Entwicklung umsonst gewesen.
Y/N blieb hinter einer der eingestürzten Hauswände stehen, lehnte sich mit dem Rücken an die kalten, brüchigen Steine und fuhr sich mit der Hand durch das verschwitzte Haar. Ihre Finger zitterten. Sie musste sich jetzt verdammt nochmal beruhigen. Sie hatte in ihrem Leben schlimmere Dinge gesehen und erlebt. Es war nur Levi, verdammt. Es war so, als als hätte er es fast geschafft die Mauern zu durchbrechen, die sie sich über Jahre aufgebaut hatte. Das würde sie nicht zulassen. Niemand würden das. Sie brauchte Abstand von ihm, am Liebsten würde sie ihn nie wiedersehen, doch ihr war bewusst, dass dies wohl unmöglich war.
Schon zu Beginn ihrer Ausbildung war ihr klar gewesen, welcher Division sie sich eines Tages anschließen würde und auch wenn Levi scheinbar der Captain des Aufklärungstrupp war, eine hohe Position die so in keiner sonst vergeben wurde, würde dies nichts an ihrer Entscheidung ändern.
„Reiß dich endlich zusammen, Y/N", murmelte sie rau, während ihr Blick zum Himmel wanderte. Noch vor wenigen Stunden war er klar und wolkenlos gewesen, ein stilles Versprechen auf eine bessere Zukunft. Nicht nur für sie selbst, sondern für all die Neuankömmlinge, die sich morgen für eine Division entscheiden sollten. Doch wie viele von ihnen würden diese Wahl überhaupt noch treffen können?
Mittlerweile erstreckte sich der Himmel mit Flammen und Rauch. Bei dem Angriff waren nicht nur unzählige Zivilisten ums Leben gekommen, sondern auch viele Soldaten, darunter Kameraden, mit denen sie drei lange Jahre Seite an Seite trainiert hatte. Auch wenn die meisten jünger gewesen waren als sie, hatte sie diese als gleichwertig geschätzt.
Ihr Tod war ein weiterer, bitterer Verlust. Es war nicht fair. Der Tod klebte an ihren Fersen, lauerte hinter jeder Ecke. Egal, wie weit sie lief, wie sehr sie sich bemühte.. sie konnte ihm einfach nicht entkommen.
Y/N hatte sich gerade wieder in Bewegung gesetzt, als sie das vertraute Zischen eines 3D-Manöverapparats hörte. Für einen Moment überkam sie die Sorge, dass Levi sie entdeckt hatte, doch es waren zu ihrem Glück nur ihre Kammeraden Reiner und Berthold. Sie hatte die Beiden seit einiger Zeit nicht mehr gesehen, weshalb sie umso beruhigter war sie unverletzt wiederzusehen. Beide wirkten erschöpft, ihre Gesichter verschwitzt und von Ruß verschmiert, doch sie lebten noch. Ein seltenes Privileg nach einem Tag wie diesem.
„Da bist du ja", sagte Reiner mit einem Hauch von Erleichterung in der Stimme, legte dabei eine Hand auf ihrer Schulter ab. „Wir sollen uns wieder beim Sammelpunkt melden. Scheinbar wurden alle Titanen mithilfe des Aufklärungstrupps beseitigt, fürs Erste scheint es erstmal sicher zu sein", sprach er optimistisch, doch Y/N war zu erschöpft um die Geschehnisse noch weiter in Frage zu stellen.
Auch sie war froh, dass dieser Albtraum vorerst ein Ende gefunden hatte. Was danach passieren würde war vorerst nicht die Priorität. Eren hatte es geschafft, den Felsen in die Bresche der Mauer zu bringen. Der Strom der Titanen war gestoppt, zumindest fürs Erste. Das sie dieses Wunder einem Rekruten verdankten, der sich zudem zu einem Titanen verwandeln konnte, machte es nicht weniger unglaublich. Berthold nickte nur stumm, sein Blick streifte flüchtig über Y/N, bevor er zum rauchverhangenen Himmel von Trost wanderte.
„Wie viele.. haben es geschafft?", fragte sie schließlich, die Stimme leise. Sie wollte die Antwort eigentlich nicht hören, doch die Realität würde sie sowieso irgendwann einholen. Sie war fast eine Soldatin, sie musste mit diesen Verlusten zurechtkommen können.
„Wir haben viele Kameraden verloren, genauso wie viele erfahrene Soldaten der Mauergarnision.. leider war dies nicht zu verhindern", sagte Reiner und sah sie dabei ernst an. Auch wenn er versuchte die Geschehnisse nicht zu sehr an sich heranzulassen, war ihm die Frustration durch die zahlreichen Tode anzusehen.
„Aber es hätten auch um einiges mehr Verlusten geben können. Ohne Eren wären wir wohl alle tot", ein Hauch von Dankbarkeit war aus seiner Stimme zu lesen. Ja, auch sie müsste Eren für seinen Einsatz danken. Zwar verstand sie noch immer nicht welche Auswirkungen seine Verwandlung zu bedeuten hatte, doch vielleicht würde es dafür irgendwann eine Antwort geben. Ob Eren von seinen Kräften schon vorher etwas wusste und wie er überhaupt dazu in der Lage sein konnte würde vorerst wohl nur eine Frage bleiben. Sie hoffte jedoch aufrichtig, dass ihm aufgrund dessen keine Strafe ereilen würde.
Bertholds Blick konzentrierte sich wieder auf die Beiden vor sich, der sonst so stille junge Mann war es nun, der das Wort ergriff. „Die Kommandanten lassen gerade die Umgebung sichern. Die Titanen innerhalb der Mauer sind zwar beseitigt, aber wir sollen uns bereithalten. Der Titan, der die Mauer durchbrochen hatte könnte wiederkommen, mit der Wahrscheinlich ist noch immer zu rechnen. Deshalb sollen wir vorerst auf neue Befehle warten", sprach Berthold nervös, auch er schien sichtlich bewegt von den Ereignissen zu sein.
Verdammt, sie waren beinahe noch Kinder. Kinder die irgendwie gelernt hatten mit solch unmenschlichen Situationen umzugehen. Was war das nur für eine beschissene Welt in der sie alle leben mussten?
Der Gedanke daran ließ Y/N unbewusst ihre Hände zu Fäusten ballen. Ihre Fingernägel bohrten sich leicht in die schmutzige Haut ihrer Handflächen, doch der Schmerz war kaum spürbar.. nicht im Vergleich zu dem, was sie gesehen hatten. Zu dem, was sie verloren hatten.
Aber was blieb ihr anderes übrig? Dies war das Leben, zudem sie sich bewusst entschied. Sie wusste, welche Möglichkeit sie hatte, welche ihr gestellt wurden. Aber das war sie nicht. Sie war niemand, der einfach still sitzen bleiben konnte und alles um sich herum einfach geschehen ließ. Auch wenn solche Momente sie in dem Glauben lassen wollte, dass sie sich damals für das falsche Entschieden hatte. Nein, daran durfte sie erst gar nicht denken. Sie tat das Richtige, auch wenn es sie beinahe zerfraß, mit in den Abgrund zog.
Ein Windstoß wirbelte Staub auf und ließ ein loses Stück Stoff durch die Luft treiben. Das zerrissene Stück eines Umhangs, wahrscheinlich eines ihrer gefallenen Kameraden. Y/Ns Blick folgte dem Stoff, bis er zu Boden sank.
„Dann lasst uns von hier verschwinden", sagte sie schließlich knapp. „Je schneller wir dort sind, desto besser", beschloss sie, bewegte dann ihren Körper endlich um in Richtung des Sammelplatzes zu gehen. Mittlerweile hatte sie scheinbar all ihr Gas verbraucht, doch ihr Ziel war zum Glück nicht allzu weit entfernt.
Während Reiner einige Meter von ihr vorausging, war es Berthold, der plötzlich ihre Gesellschaft suchte. „Ist alles in Ordnung mit dir?", fragte er, seine Stimme gedämpft, fast als hätte er Angst, sie mit der Frage aus der Fassung zu bringen. Berthold kannte diese Frau immerhin seit drei Jahren und konnte mittlerweile recht gut einschätzen wie sie auf bestimmte Dinge reagierte. Deshalb war er auch so über ihr Verhalten verwundert.
Y/N blinzelte überrascht und wandte daraufhin leicht den Kopf zu ihm. Bertholds Blick war ernst, doch umso mehr besorgt.. auf diese leise, fast schüchterne Art, die so typisch für ihn war. Y/N sah ihn einen Moment lang sprachlos an, ihre Stirn leicht gerunzelt.
„Warum fragst du?", erwiderte sie schließlich, nicht unfreundlich, aber spürbar erschöpft. Der Mann neben ihr schluckte schwer, wusste nicht so recht, ober er ihr seine Beobachtung beichten sollte. Doch er war derjenige der das Gespräch begonnen hatte, also musste er nun auch die Konsequenzen dafür tragen.
,,Naja.. du wirkst irgendwie anders als sonst.. ist irgendetwas passiert?", fragte er sie zögerlich. Es war selbst für ihn eine unnötige Frage. Natürlich war etwas passiert, immerhin wurde Trost angegriffen und sie hatte etliche Kameraden verloren, schwebte wahrscheinlich zu irgendeinem Zeitpunkt selbst in Gefahr. Doch irgendwie konnte er sich ihr Verhalten dadurch allein nicht erklären.
Y/N war sonst nie aus der Ruhe zu bringen. Egal wie hart das Training war, egal vor welcher schwierigen Situation sie gestanden hatten, war immer sie diejenige, die das Ruder übernahm, beinahe auf sie wie ein Schutzengel aufpasste. Damals, als durch den Schneesturm während des Trainings drei ihrer Kameraden verschollen waren, war sie es, die sie alle beruhigten und einen Plan zusammen mit Armin erstellte. Als ihre Gruppe während einer Expeditionssimulation von Räubern attackiert und überfallen wurden, leitete sie die anderen durch einen gefährlichen Versuch Christa zu befreien.
Zu jedem Zeitpunkt war sie unerschütterlich, doch jetzt wirkte sie beinahe wie ausgewechselt. Y/N war nachdenklich, ruhig und beinahe.. ängstlich?
Berthold hatte sich all die Jahre gefragt, welches Schicksal sie früher wohl ereilt hatte, dass sie zu solch einer tapferen Frau wurde. Y/N hatte nie viel von sich preisgegeben, nie von ihrer Kindheit oder Jugend erzählt. Das Einzige was sie wussten war, dass sie sich während des Angriffs in Shiganshina befand und aufgrund ihrer Erlebnisse eine Soldatin werden wollte. War der Angriff der Titanen wirklich der alleinige Grund für ihr Verhalten? Bei jeder anderen Person hätte er diese Antwort wohl akzeptiert, doch bei ihr fühlte es sich einfach falsch an.
Y/Ns Körper verkrampfte sich bei seiner Frage. Wie aufmerksam war dieser Junge eigentlich? Doch insgeheim wusste sie, dass sie damit hätte rechnen müssen. Während andere sich wahrscheinlich keine weiteren Gedanken über ihr Verhalten gemacht hätten, war Berthold bemerkenswert scharfsinnig, etwas, das sie bereits mehrmals hatte beobachten können. Er war kein gewöhnlicher Beobachter, er nahm Dinge wahr, die vielen entgingen. Seine zurückhaltende und schüchterne Art ließ ihn oft unscheinbar wirken, doch er war nicht ohne Grund der viertbeste Rekrut seines Jahrgangs.
Ob er etwa sie und Levi beobachtet hatte? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Es war eher seine Natur, aufmerksam zu sein, mehr nicht. Von ihr und Levi konnte er nichts ahnen. Niemand von ihnen wusste von ihrer Vergangenheit.
Trotzdem war seine Frage eine Erinnerung daran, sich weiterhin besser unter Kontrolle zu halten. Wenn schon dieses kurze Wiedersehen mit ihm sie so aus der Fassung brachte, wollte sie sich erst gar nicht vorstellen wie es wäre, wenn sie Levi öfter über den Weg laufen würde. Es war eine Art Weckruf, wieder die eigentlich undurchdringbare Mauer um sie herum aufzubauen. Es war erschreckend, wie diese eigentlich harmlose Frage sie so erschütterte.
„Es ist alles in Ordnung Berthold, mach dir keine Sorgen um mich. Das Alles setzt mir einfach mehr zu als ich gedacht hätte", antwortete sie, dabei ein leichtes Lächeln auf ihrem Lippen, bei dem sie hoffte, dass es für ihn natürlich wirkte. Ihre Stimme klang ruhig, beinahe gelassen, doch innerlich fühlte es sich an, als würde sie jede Silbe mit Bedacht setzen, um die bröckelnde Fassade zu wahren. Sie wollte ihn nicht anlügen... aber die Wahrheit war keine Option.
Berthold war ein guter Mensch und genau deshalb durfte er nicht anfangen, sich um sie zu sorgen. Ihre Kameraden hatten gerade genug mit sich selbst zu kämpfen. Mitgefühl war ein Luxus, für den niemand Zeit hatte. Vor allem nicht in dieser Situation. Stattdessen versuchte sie ihre Haltung zu festigen, das Zittern in ihren Gedanken zu ersticken. Je schneller sie die Kontrolle zurückgewann, desto schneller würde alles wieder so wirken, als wäre nichts geschehen.
Berthold schien etwas sagen zu wollen, doch er verkniff es sich, lief hingegen wieder stumm neben der Frau her. Auch wenn er ihren Worten kaum glauben schenken wollte, beließ er es dabei. Er nahm es ihr nicht übel, dass sie nicht darüber reden wollte. Vor allem nicht in diesem Moment.
Am Horizont färbte sich der Himmel langsam orange. Ein neuer Tag würde bald über den Ruinen von Trost, über einem Schlachtfeld, das zu viele Leben gekostet hatte anbrechen. Y/N hatte das mulmige Gefühl, dass dies nur der Anfang war. In der nahen Zukunft würde wohl etwas auf sie zukommen, wofür sie noch nicht bereit war.
٠ ✤ ٠
Der Raum war von Dunkelheit erfüllt, der Geruch von kaltem Stein und rostigem Eisen hing in der Luft. Eine einzelne Fackel an der Wand warf flackerndes Licht auf die grob gemauerten Wände. Eren saß auf einer einfachen Holzbank, die Hände mit schweren Eisenfesseln an den Tisch vor ihm gebunden. Der junge Mann war still, seine Augen starrten geradeaus, auch wenn sich in ihnen noch immer der Sturm des Erlebten widerspiegelte.
Plötzlich öffnete sich die Tür mit einem Knarren, Schritte hallten daraufhin durch den Raum. Er beobachtete die beiden Männer, Erwin Smith, Kommandant des Aufklärungstrupps, mit dem gewohnt ruhigen, aber undurchdringlichen Blick, dicht gefolgt von Captain Levi, dessen Haltung noch kühler als sonst wirkte.
Während Levi sich ruhig gegenüber von Eren hinter den Gittern niederließ, die Beine dabei übereinander schlug und die Arme verschränkte, blieb Erwin hingegen stehen, blickte den braunhaarigen eine Weile schweigend an, als würde er jeden Ausdruck in seinem Gesicht analysieren.
„Du hast heute Leben gerettet", begann Erwin schließlich mit ruhiger Stimme. „Aber auch für Angst gesorgt. Viele sehen dich als Bedrohung", sprach er weiter, seine tiefe Stimme hallte dabei durch den verschlossenen Raum. Eren schluckte, antwortete aber nicht sofort. Er war nicht dumm, wusste, dass dies kein normales Gespräch war.. sondern ein Verhör. Auch wenn der Mann vor ihm versuchte so vorwurfslos wie nur möglich die Unterhaltung zu führen, änderte dies nichts an dem Fakt. Er saß trotz dessen angekettet in einer unterirdischen Zelle, wartend darauf was mit ihm geschehen würde.
„Erzähl uns, Eren", begann Erwin ruhig, doch mit einem unnachgiebigen Unterton. „Wann genau hast du zum ersten Mal gespürt, dass du dich verwandeln kannst? Was ist wirklich passiert?", fragte er, seine eigene Neugierde war dabei kaum zu überhören.
Eren atmete tief ein. Wie konnte es nur zu solch einer Situation kommen? Er selbst wusste doch kaum etwas, war mit allem mehr überfordert als wohl jeder andere. Wie sollte er dann überhaupt richtig antworten können?
„I-Ich... ich weiß es nicht genau. Beim ersten Mal geschah es, als ich Armin retten wollte. Ich dachte zuerst dass ich tot wäre, aber dann verwandelte ich mich plötzlich. Bei den anderen Malen verletzte ich mich selbst um zu einem Titanen zu werden, vielleicht hängt es damit zusammen.. aber genau kann ich das nicht sagen. Was der genaue Auslöser dafür war weiß ich also nicht, genauso wenig wie ich überhaupt die Fähigkeiten eines Titanen bekommen konnte", Erens Antworten waren nur vage, doch etwas besseres konnte er ihnen nicht bieten, so sehr es auch wollte.
Levi beobachtete ihn währenddessen aufmerksam, sein Gesicht blieb dabei nahezu unbewegt. Obwohl das Gespräch eigentlich von großer Bedeutung war, wirkte es fast wie eine Zeitverschwendung. Der Junge hatte offensichtlich keine Ahnung — also, was sollte diese Befragung überhaupt bringen? Warum bestand Erwin darauf, dass er dabei war? Um Druck auszuüben? Das hätte der Kerl auch ganz ohne ihn geschafft.
Verdammt, wann war endlich der Moment gekommen, an dem Levi sich zurück in sein Büro verziehen und mit einer Tasse Tee etwas Ruhe finden konnte? War das nach diesem Tag überhaupt möglich? Der Angriff auf Trost, die Erkenntnis dass sich Eren Jäger in einen Titanen verwandeln konnte und das Wiedersehen mit Y/N setzten ihm mehr zu, als er sich eingestehen wollte. Vor allem letzteres schien ihn einfach nicht loszulassen. Diese verdammte Göre machte ihn noch wahnsinnig.
„Du hast also überhaupt keine Ahnung, wie du zu diesem Ding wurdest?", fragte Levi nachdem er seine Gedanken wieder sortiert hatte, seine Stimme dabei schneidend ruhig.
„N-Nein.. tut mir Leid.. ich erinnere mich nur an das Gefühl von Wut und Schmerz.. mehr nicht. Es wirkte so als wäre ich in einem Traum gefangen", erwiderte Eren, seine Unsicherheit war dabei kaum zu übersehen. Levi fragte sich wirklich wie sie sich diesen Junge zu Nutzen machen sollten. Die Fähigkeiten waren zwar unschlagbar, wenn er diese jedoch weder kontrollieren würde, noch wusste wie er sie überhaupt einsetzten konnte, dann war er doch eher eine Gefahr für die Menschheit.
Danach trat ein kurzes Schweigen ein. Vielleicht war es einfach noch zu früh gewesen, immerhin hatte Eren sich erst vor wenigen Stunden in einen Titanen verwandelt. Am heutigen Tag würden sie wohl keine nützlichen Informationen mehr von ihm bekommen. Erwin wandte sich zu Levi, seine Stimme gedämpft, doch noch so laut, dass Eren ihn verstehen konnte.
„Wir müssen entscheiden, ob wir ihm vertrauen können. Die nächste Kommandantenversammlung findet morgen statt." Seine Worte klangen wie eine indirekte Frage – war Levi bereit, die Verantwortung zu übernehmen? Levi verspürte weder Furcht vor einem pubertierenden Fünfzehnjährigen noch vor einem Titanen. Er wusste genau, was zu tun war, sollte es zum Äußersten kommen.
„Wenn er außer Kontrolle gerät, bringe ich ihn um. Ohne zu zögern", antwortete er Erwin ohne ein Hauch von Ironie, sein Blick dabei auf Eren gerichtet. Dessen Augen weiteten sich für einen Moment, doch er nickte langsam. Er war kein normaler Rekrut mehr, wahrscheinlich war er nicht einmal mehr ganz menschlich.
„Verstanden..", murmelte er, konnte dem Captain seine Entscheinung dabei kaum übel nehmen. Eren war doch selbst derjenige der sich geschworen hatte, all diese verdammten Titanen zu töten und jetzt war er selbst einer von ihnen? Was für ein kranker Scherz sollte das nur sein?
Erwin ließ seinen Blick ruhig zwischen Eren und Levi hin und her wandern, als würde er jede Regung, jeden Atemzug sorgfältig abwägen. Einen Moment lang herrschte Stille im Raum, nur das leise Knistern der Fackel war zu hören. „Gut, dann wird sich morgen zeigen, ob Eren eine Hoffnung für uns ist... oder ein Risiko", sprach er schließlich mit ruhiger, fast kalter Stimme.
Seine Worte hallten in der Stille nach, schwer wie ein Urteil. Sie beinhalteten keinen Zorn, keine Drohung, sondern waren lediglich eine nüchterne Einschätzung der Situation. Erwin selbst war der Auffassung, dass Eren bei der Zurückeroberung von Mauer Maria als auch bei der Entschlüsselung der wahren Herkunft der Titan eine große Rolle spielen könnte. Vielleicht sogar der Schlüssel war den sie brauchten. Doch nicht er allein konnte diese Entscheidung treffen, deshalb hoffte er umso mehr, dass sein Plan morgen aufgehen würde.
Die beiden Männer verabschiedeten sich daraufhin von Eren, ließen ihn somit wieder allein in der kalten Zelle zurück, gemeinsam mit der Furcht und Ungewissheit die ihn plagten. So gern Erwin vorab noch weitere Informationen von ihm erhalten hätte, hier kamen sie nicht mehr weiter. Zu welchem Ergebnis sie morgen kommen würden hing dabei ganz von ihnen selbst ab.
Die dicken Steintüren fielen hinter ihnen ins Schloss, als Erwin und Levi ihren Weg fortführten. Der Gang war ruhig, nur das Geräusch von gedämpfte Stimmen drang durch die Wände. Levi lief ein paar Schritte voraus, konnte es kaum erwarten diesen Tag endlich mit einer Tasse Tee ausklingen zu lassen. Er hatte erwartet, dass das Gespräch mit Eren ihn ablenken würde, ihn wieder zurück zum Wesentlichen brachte. Warum kreiste dann aber nicht der Titanenwandler in seinen Gedanken, sondern noch immer Y/N? Diese verdammte Göre und ihre Sturheit. Eigentlich war Levi nicht der Typ dafür, aber vielleicht brauchte er heute etwas stärkeres als Tee.
Erwin folgte ihm währenddessen schweigend, seine Augenbrauen dabei leicht gerunzelt. Er war niemand dem etwas leicht entging, ebenso war er Niemand, der dies nicht auch ansprechen würde. „Levi", sprach er plötzlich den Namen des Dunkelhaarigen aus, woraufhin dieser stehen blieb und über seine Schulter sah.
„Was?", seine Stimme klang kühl wie immer, doch in der Art, wie er stehen blieb, lag ein Hauch von Erwartung. Fast so, als wüsste er, dass Erwin auf irgendetwas hinaus wollte. Der Kommandant trat näher, langsam und gezielt, als wolle er vermeiden, dass seine Stimme in der Weite der Halle verhallte oder von den Wänden zurückgeworfen wurde.
„Du warst ungewöhnlich still heute", stellte er fest, sein Blick ruhte prüfend auf Levis Gesicht, als wolle er jede Regung, jedes Zögern in dessen Miene deuten. Doch dieser zuckte nur kaum merklich mit den Schultern, ließ sich seine Anspannung nicht anmerken. „Ich dachte es ging darum Eren zu befragen und nicht mich", seine Stimme wirkte dabei ungewollt gereizt. Auf was zur Hölle wollte er hinaus?
„Das meinte ich nicht", Erwin konnte sich ein Schmunzeln nur mühsam verkneifen. Levi wusste ganz genau, worauf er hinaus wollte, musste selbst bemerkt haben, dass sein Verhalten heute anders war als sonst. Doch der Blondhaarige ließ sich dadurch nicht verunsichern. „Seit dem Einsatz in Trost wirkst du irgendwie abwesend, als wärst du mit den Gedanken ganz woanders. Ist etwas passiert von dem ich wissen sollte?", seine Stimme nun ernster als noch zuvor. Auch wenn er und Levi eher ein freundschaftliches Verhältnis pflegten, wer er noch immer sein Vorgesetzter. Wenn etwas geschehen war, dass Levi in dem ausführen seiner Missionen beeinträchtigte, musste er das wissen.
Levis Augen weiteten sich kaum merklich. Hatte er wirklich erwartet, dass er vor Erwin seine Zerrissenheit verbergen konnte? Jeder andere hätte an seiner eigentlich kühlen Persönlichkeit keinen Unterscheid erkannt, aber dieser viel zu aufmerksame Bastard war eben nicht wie jeder andere. Sein Gespür war beinahe unheimlich. Trotz dessen wollte er die Fassade weiter wahren, musste diesem Gespräch um jeden Preis aus dem Weg gehen. Sein Gesicht blieb unverändert, doch jeder seiner Muskeln war angespannt.
„Erwin, dass heute war ein verdammt beschissener Tag.. das ist alles. Hör auf irgendwelche Theorien aufzustellen, es ist nichts passiert, außer das dieser Scheiß scheinbar nie ein Ende haben wird", entgegnete er ihm, seine Stimme mittlerweile um einiges schärfer. Es war keine Lüge gewesen, der Angriff auf Trost ließ auch Levi nicht kalt, aber es war beinahe so, als würde jede Mission, jeder weitere Verlust ihn unbewusst immer weiter abstumpfen. Vielleicht wünschte sich Levi dies auch nur, um nicht irgendwann verrückt zu werden.
Der Dunkelhaarige bemerkte, dass Erwin ihn weiter ausfragen wollte, deshalb sprach er weiter, ohne ihm eine Chance zu geben. ,,Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen. Also lass mich endlich in Ruhe", murmelte Levi, drehte sich daraufhin um und setzte seinen Weg fort. Erwin nickte langsam, ließ damit ebenfalls das Thema fallen.. zumindest nach außen hin. Doch die Art, wie Levi sich von ihm abwandte und mit leicht verkrampften Schultern davonging, ließ ihn mit einer unbequemen Ahnung zurück.
Etwas war geschehen – daran bestand kein Zweifel. Doch Levi war anscheinend noch nicht bereit, darüber zu sprechen. Erwin würde schon irgendwann herausfinden, was der Captain ihm so unbedingt verschwiegen wollte. Aber jetzt war nicht die Zeit dafür. Im Augenblick gab es Dringenderes zu tun.
· • —– ٠ ✤ ٠ —– • ·
Hallihallo, ja es gibt wieder ein neues Update! *schwitz* Ich war lange Zeit unzufrieden mit meinem Schreibstil, deshalb habe ich diese gesamte Story bearbeitet. Falls ihr diese also vorher schon verfolgt habt, lohnt es sich nochmal von Vorn zu lesen. Ich denke ich werde in nächster Zeit auch andere Geschichten von mir überarbeiten. :)
Ich habe übrigens auch einen Englischen Account auf Wattpad, falls ihr das lieber lesen wollt: comebackandstay ebenso könnt ihr mich jetzt auch auf AO3 unter luminablue finden.
Ich hoffe natürlich euch hat das Kapitel gefallen, lasst mir gern eure Meinung da. :)
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro