K A P I T E L 1
𝓛𝓲𝓿𝓪𝓷𝓪
Meine Arme schmerzten bis in die Schultergelenke und ich konnte spüren, wie meine Fingerspitzen bereits taub wurden. Ich saß in der Falle und meine Aussichten waren nicht besonders rosig.
Das sagte ich nicht, weil man mir gerade unfreiwillig eine dunkelblonde Haarsträhne abgetrennt hatte und deshalb nun sicherlich zwanzig Zentimeter meiner Haare auf dem Boden lagen. Oh nein. Das sagte ich, weil in dieser Sekunde eine Faust direkt auf mein Gesicht zuraste und ich nicht in der Lage war, mich zu verteidigen.
Hart kollidierte besagte Faust mit meinem Wangenknochen. Mein Kopf wurde zur Seite geschleudert und mit ziemlicher Sicherheit hätte der Schlag mich zu Boden geworfen, wenn mich nicht eine zweite Person festhalten würde.
Obwohl er mir beide Arme auf den Rücken drehte, war ich Daniel noch nie so dankbar für seine Anwesenheit. Denn die Blöße, auf dem dreckigen Boden, mit dem Gesicht in der braunen Pfütze zu landen, wollte ich mir nicht geben. Ganz zu schweigen von der Genugtuung, die Walentin dann verspüren würde.
Eine Flüssigkeit vermischte sich in meinem Mund mit dem Speichel und als ich schluckte, konnte ich deutlich das eiserne Blut herausschmecken. Verdammt, ich konnte nicht schon wieder einen Zahn verlieren. Den letzten kleinen Backenzahn unbemerkt zu ersetzen, war alles andere als einfach.
Die Erinnerung daran ließ die Wut in mir noch höher lodern. So hatte ich mir meinen Spätnachmittag nicht vorgestellt. Ganz im Gegenteil. Meinen Eltern gegenüber hatte ich eine Lernsession mit meinen Kommilitoninnen als Ausrede für mein ausgedehntes Training im Fitnessstudio verwendet. Ganz sicher jedoch beinhaltete diese Ausrede nicht, auf dem Weg nach Hause verprügelt zu werden. Ich funkelte Walentin an und konnte spüren, wie sich meine Nasenflügel aufblähten, als ich zitternd ausatmete.
Noch vor fünf Minuten hatte ein höhnisches Lächeln die Lippen des Russen umspielt. Jetzt jedoch waren seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Schweiß bildete sich auf seiner hohen Stirn, obwohl er mir nur mehrmals in den Magen, die Rippen und naja ... mein Gesicht geschlagen hatte.
»Ich wiederhole mich nicht gern. Aber ich frage dich nochmal: Weißt du, wo dein Platz ist?« Seine Worte wurden von einem tiefen Knurren begleitet und würde Daniel mich nicht so verflucht fest im Griff haben, würde ich sicherlich ein paar Meter Sicherheitsabstand zwischen uns bringen. In den letzten Jahren habe ich eines über Walentin gelernt: Man sollte sich besser nicht in Walentins Nähe aufhalten, wenn er wütend war. Der Russe neigte dazu, alles in Reichweite kurz und klein zu schlagen. Deshalb eignete er sich als rechte Hand des Bosses auch so gut.
Natürlich wusste ich, wo mein Platz war. Trotz meiner guten Leistungen nämlich ziemlich weit unten in der Nahrungskette. Leider nicht weit genug von den Augen der Geschäftsführenden entfernt, um unauffällig zu verschwinden. Und sei es nur für eine Nacht. Ich mochte nur ein Springer sein, aber das genügte bereits.
Die sinnvollste Antwort bestand deshalb aus einem Wort mit zwei Buchstaben. Ich sollte ihm die Antwort geben, die er hören wollte. Mein Kopf schrie mich mehr als deutlich an, es zu tun. Doch absolut alles in mir, jede einzelne Faser meines Körpers, sträubte sich dagegen. Ich hasste diese Form der Unterdrückung. Ich hasste es, auf diese Art dominiert zu werden.
Sie behandelten mich schon verflucht lange wie einen Gegenstand. Wie eine Wasserflasche, die man von einem Ort zum anderen stellen konnte. Doch genau das war ich nicht. Und es ging mir bereits seit Monaten gegen den Strich, dass es niemanden interessierte und ich weiter von einem Ort zum anderen geschoben wurde.
Genau deshalb tat ich das vermutlich Dümmste, was ich an diesem Mittag hätte tun können. Ich funkelte Walentin an und blaffte: »Es interessiert mich aber nicht!«
Wieder traf seine Faust mich in den Magen und drückte mir saure Galle die Speiseröhre nach oben. Ich biss mir auf die Lippe, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Niemals würde ich der rechten Hand des Bosses diese Genugtuung geben.
»Du hast uns gestern eine ganze Stange Geld gekostet«, knurrte Walentin mich an, während sich eine Zornesfalte auf seiner Stirn bildete. Seine Wangen glichen überreifen Tomaten und der wilde Ausdruck in seinen hellen Augen zeigte mir, dass ich ihn mit meiner patzigen und vor allem uneinsichtigen Art bis aufs Blut reizte.
Verdammt, machte mich das glücklich. Auch wenn ich mich damit zweifelsohne noch unbeliebter machte. Da der Russe mich jedoch ohnehin noch nie leiden konnte, störte mich das nicht besonders.
Das mit uns war vom ersten Moment an schwierig. Er war es, der mich beim Spionieren entdeckt hatte und wegen dem ich heute überhaupt in der Klemme steckte. Hätte er damals nicht hinter den Stapel Paletten geblickt, wäre ich unerkannt wieder verschwunden. Doch so war es nicht. Das langweilige Leben, welches ich bis vor sechs Jahren führte, gab es nicht mehr. Livana Benett gab es nur noch am Tag. In der Nacht wurde ich zu jemand anderem. Wann immer mich Walentin zu sich rief oder mir einen seiner weiteren Lakaien auf den Hals hetzte, kramte ich das Monster aus meinen Tiefen hervor und verwandelte mich in Pandora.
»Das gefällt Ricky und mir nicht«, knurrte der Russe mich weiter an und trat einen Schritt auf mich zu. Gut, denn so schien es, als hätte er nicht mehr vor, mich wieder zu boxen. Ich wusste nämlich nicht sicher, wie lange ich seine Schläge noch aushalten konnte.
Die illegalen Kämpfe, an denen ich seit Jahren teilnahm, hatten mich zwar abgehärtet und auch das Kickboxtraining, mit dem ich an der Middle School begonnen hatte, hatte mich stärker gemacht. Doch wenn auf einen mit verdrehten Armen eingeschlagen wurde, dann konnte das niemand allzu lang aushalten.
Diese verfluchten Kämpfe. Früher hatte ich es beinahe schon geliebt, meinen Namen auf den Listen zu sehen. Ich hatte den Nächten entgegengefiebert, in denen ich mich aus meinem Elternhaus schlich und in die nächste Großstadt fuhr. Damals war ich dumm und naiv. Es ging mir nicht um das Preisgeld, über welches ich nicht klagen konnte und welches ich durchaus zu schätzen wusste. Es ging mir um den Adrenalinkick. Heute ist die Sache eine andere. Ich hatte begriffen, dass es bei alledem nicht wirklich um mich ging. Ich war nur ein kleiner Fisch in einem großen Netz. Denn das Geld, welches ich am Ende jeden Kampfes bekam, war nur ein Bruchteil von dem, welches Walentin und der restliche Haufen von Taurus mit mir verdiente. Ich war wie eine Maschine. Dazu geschaffen, ihre Gewinne zu steigern.
Und wenn die Obersten des Untergrundes eines liebten, dann war es Geld. Sie schnüffelten daran, badeten darin und putzten sich die Hintern damit. Es war das Einzige, was sie wirklich interessierte. Und ich hatte ihnen gestern einen ziemlichen Verlust beschert.
Der Gedanke, wie sie alle über der Frage brüteten, wo ich war und sie die Geldscheine förmlich vor ihren Augen schwinden sahen, ließ mich grinsen. Ich spürte, wie mir das Blut zwischen den Zähnen hervortrat und sich an meinen Lippen sammelte.
Vermutlich glich mein Gesichtsausdruck einer beängstigenden Fratze, doch Walentin ließ sich davon nicht stören. Er beugte sich noch weiter zu mir herunter, bis sein Gesicht direkt vor meinem schwebte. »Du wirst den verpassten Kampf heute Abend nachholen.« Er zischte, wie eine Schlange, wobei feine Tropfen seines Speichels die geschundene Haut meines Gesichts benetzten. Ich widerstand dem Drang mich zu schütteln, denn Daniel hielt mich so fest, dass ich Sorge hatte, mir dabei die Schulter vollends auszukugeln. Ganz besonders nach seinen Worten war dies keine ratsame Idee. »Und als Entschädigung für dein Fehlen gestern, wirst du verlieren.«
Wie bitte?
Mir entwich ein entsetztes Keuchen und ich riss die Augen auf. Was Walentin da von mir verlangte, war absolut nicht möglich. Nein, ich konnte nicht verlieren.
Seit mich Walentin vor etwas mehr als fünf Jahren hinter der Palette hervorgezerrt und mich der Boss des Untergrundes in den Ring geschickt hatte, hatte ich keinen einzigen meiner Kämpfe verloren. Meine Vita war also tadellos. Ich würde nicht damit beginnen, meine Kämpfe zu verlieren – absichtlich, wohl bemerkt.
»Vergiss es«, schnaufte ich und versuchte gar nicht, den verärgerten Ausdruck auf meinem Gesicht zu verbergen. Der Russe sollte sehen, wie wenig begeistert ich von seinem Vorschlag war. »Ich werde nicht verlieren. Nicht gegen Jacky und ganz sicher nicht gegen einen der anderen Fighter. Das kannst du vergessen!«
Das war einfach nur beleidigend.
Walentin zog die Mundwinkel ein und in seinen hellen Augen konnte ich die tiefe Schwärze seiner Seele erkennen. Er hatte kein Gewissen. Bei all den schrecklichen Taten, die auf sein Konto gingen, war das jedoch auch kein Wunder. Doch genau deshalb würde er nicht davor zurückschrecken, mir seinen Willen aufzuzwingen. Das hatte er schon früher getan.
»Du wirst heute Abend pünktlich sein. Du wirst kämpfen und du wirst verlieren. Denn wenn nicht, dann wird Blut fließen.« Es war mehr als eine Drohung, die er mir schon oft an den Kopf geworfen hatte, wann immer ich nicht nach seiner Pfeife tanzen wollte. Heute war es ein Versprechen, das konnte ich an der Dunkelheit in seiner Stimme erkennen.
Und dennoch war es mir egal. Was wollten sie tun? Mich grün und blau schlagen? Da war er jetzt schon auf dem besten Wege, dass konnte ich ihm versichern. Aber es war mir egal. Ich würde keinen Kampf verlieren, vollkommen egal, was er mir versprach. Die Maske, welche ich mir für die illegalen Kämpfe und alle damit verbundenen Aktivitäten zugelegt hatte, würde keinen Riss erhalten. Das brachte ich nicht übers Herz. Zugegeben, ich liebte es als unbesiegbar zu gelten. Es verlieh mir Stärke und Macht, auch wenn beides nur meinem Ego nutzte.
»Und ich kann dir versichern, dass es nicht dein Blut sein wird.«
Übelkeit erfasste meinen Körper und mein Magen hob sich beunruhigend. Seine Worte ließen augenblicklich Angstschweiß in meinem Nacken entstehen und brachten mein Herz zum Rasen. Das hier war ohnehin schon nicht die perfekte Situation und doch ging sie noch weiter bergab. Etwas, das ich bisher nicht für möglich gehalten hatte.
Walentin richtete sich auf und ließ die Hand hinter dem Rücken verschwinden. Stumm wartete ich ab, bis er mir ein Bild unter die Nase hielt. Es war im Sonnenschein aufgenommen worden und so konnte ich bestens erkennen, was darauf zu sehen war.
Mein Herz setzte einen Schlag aus, um dann doppelt so schnell zu pochen. Ein wütendes Knurren entwich mir und ich begann, mich gegen Daniels Griff zu wehren, ohne die Augen von der Fotografie abzuwenden. Es war mir egal, ob ich mir dabei die Schulter auskugelte und mich damit nur noch weiter verletzte.
Auf dem Bild sah man ein blondes Mädchen, das in einem roten Sommerkleid eine Straße überquerte. Sie trug schwarze Ballerina an den Füßen und eine Lederhandtasche über der Schulter. Ihr langes Haar wurde vom Wind über die Schulter geweht und ihre drei Begleiterinnen verblassten neben ihrer natürlichen Schönheit vollkommen. Holly Benett alias meine kleine Schwester.
Nein, das durfte nicht wahr sein. Ich hatte es geschafft, meine Familie in den letzten fünf Jahren vor Taurus zu schützen. Ich hatte es geschafft, dass niemand aus der Untergrund-Organisation sie mit mir in Verbindung brachte. Und doch hatten sie meine kleine Schwester gefunden. Das Sommerkleid war neu. Sie hatte es mir heute Morgen erst präsentiert, ehe sie sich mit ihren Freundinnen in der Stadt getroffen hatte. Sie hatten mir bereits meinen Freund genommen. Sie durften mir nicht auch noch meine Schwester nehmen.
Der Name Pandora war aus einem Geistesblitz heraus entstanden. Einzig und allein dazu gemacht, mich vor Taurus zu schützen. Es war ein Deckname, der meine Anonymität im Untergrund sichern sollte. Wir hatten im Jahr zuvor über die ›Büchse der Pandora‹ im Philosophie-Unterricht gesprochen und so war es unter Druck mein erster Gedanke.
Ich konnte spüren, wie sich alles in mir vor Panik zusammenzog und wand mich deshalb stärker in Daniels Griff.
Walentin zerriss das Bild vor mir in zwei Hälften und grinste mich über das Papier hinweg an. »Wir werden sie finden. Und wir werden keine Gnade zeigen. Verlier den Kampf heute und wir sehen weiter.«
Ich musste von hier verschwinden. Walentin, sein Boss Ricky und generell jeder aus der Organisation würde nicht damit aufhören. Sie würden immer einen Weg finden, mir ihren Willen aufzuzwingen. Egal, ob mit meinem eigenen Leben oder dem meiner Familie. Ich hatte es in den letzten Wochen zu weit getrieben. Hatte zu viele Befehle ignoriert und mich zu oft quer gestellt. Nur so konnte ich mir das plötzliche Interesse an meiner Schwester erklären. Holly war mein wunder Punkt. Mein Ein und Alles.
Es gab nur einen Weg, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Schon vor Wochen habe ich überlegt, wie ich Taurus entkommen konnte. Mein Studium gefiel mir absolut nicht, hatte es noch nie, und nach fünf Jahren gingen mir zusätzlich die Ausreden für meine plötzlichen blauen Flecke und Wunden aus. Außerdem sehnte ich mich nach Ruhe in meinem Leben. Weniger Adrenalin, weniger Kämpfe. Weniger von allem. Als hätten sich meine Prioritäten verschoben. Vielleicht wurde ich einfach erwachsen.
Bei meinem Versuch auszusteigen hatte ich schnell bemerkt, dass man der Organisation nicht so einfach entkommen konnte. Es war kein Abo, das man einfach kündigte. Oder eine Bahn, aus der man ausstieg. Der Untergrund und alles, was damit zu tun hatte, war eine einzige Abwärtsspirale. Und es gab keine Tür, durch die man sie verlassen konnte.
Walentin hatte es gerade eben erst gesagt. Ich hatte die Untergrundorganisation in der vergangenen Nacht viel Geld gekostet. Allein damit, dass ich zu dem angesetzten Kampf nicht aufgetaucht war. Sie würden mich nicht einfach aufhören lassen. Sie würden es mir niemals gestatten, zu gehen. Obwohl mir das schon früher bewusst war, hatte ich meine Augen davor verschlossen. Und nun hatte ich den Salat. Nun hatten sie meine Familie gefunden. Meine kleine Schwester, die für mich über absolut allem stand.
Tausend Gedankenblitze jagten durch meinen Kopf. Kaum einen von ihnen konnte ich lange genug greifen, um ihn zu erkennen. Doch eines war mir mehr als bewusst: Ich musste von hier verschwinden. Nur so konnte ich meine Familie, Holly, retten.
»Wir werden sie finden. Und wir werden keine Gnade zeigen. Du wirst diesen Kampf verlieren und danach wirst du deine Loyalität beweisen. Oder du wirst dafür verantwortlich sein, was wir mit diesem süßen Püppchen tun werden.« Unter den Worten des Russen bäumte ich mich auf und versuchte, Daniels Händen zu entkommen. Doch er umfasste meine Arme nur fester, völlig unbeeindruckt von meinem Versuch, gegen ihn anzukämpfen. Kein Wunder, immerhin war der Gleichaltrige beinahe zwei Meter groß und überragte mich um mehr als einen Kopf.
Eine meiner blonden Haarsträhnen fiel in mein Blickfeld, doch sie hielt mich nicht davon ab, den Russen hasserfüllt anzufunkeln. Denn genau das war es, was ich in dieser Sekunde fühlte. Wo ich sonst so kühl und unberührt blieb, war nur noch flammender Hass. Ich brannte innerlich.
»Fick dich, Walentin«, spie ich dem Mann vor mir entgegen. Er hatte mich an der Angel. Ich würde alles tun, um meine Schwester zu beschützen. Um meine Familie nicht in Gefahr zu bringen. Denn egal, wie schwierig das Verhältnis zu meinen Eltern auch war, ich würde auch sie immer beschützen. »Ich werde da sein.«
Doch ich würde nicht verlieren. Unter keinen Umständen.
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