VI - Lutz / Karin
„Sorry Lutz, aber das ist doch keine Safetür", argumentierte Rüdiger zum wiederholten Male. „Schau dir das an: ein stinknormales Codeschloss." Er klang fast enttäuscht.
„Na, wenn das so einfach ist", konterte er, „dann mach es halt auf."
Tatsächlich war sein Kamerad ein begnadeter Schlossknacker. Seit frühester Jugend Mitglied im „Neuperlacher Lock-Picker e.V.". Ein echter Nerd auf seinem Fachgebiet. Schon damals in der Schule war kein Fahrrad vor ihm sicher. Als ehrliche Haut hat Rüdiger nie etwas gestohlen, aber aus Jux die Schlösser zwischen den Rädern vertauscht. Manchmal hat er auch die Kombinationen neu gesetzt und ein Rätsel mit der Lösung auf einen Zettel auf den Gepäckträger geklemmt. Kein Wunder, dass er nie viele Freunde hatte. Allerdings eine Menge Spaß. Auf seine Art.
„Ohne Strom?", entgegnete Rüdiger.
Ihm kam eine Idee: „Hm ... Zwölf Volt von der Autobatterie sollten reichen, oder?"
Sein Kamerad kratzte sich am Kinn. „Vermutlich. In Ordnung. Ich hole sie. Du wartest?"
„Klar, Rüdi, ansonsten klaut uns die Alte noch den ganzen Zaster", versuchte er sich an einen Scherz.
„Das ist nicht witzig. Mir ist im Grunde nicht wohl dabei, hier allein herumzurennen. Aber die Erscheinung schien ja harmlos zu sein."
Die Erinnerung an den finsteren Blick des Phänomens kam erneut hoch. Als „Geist" wollte er es nicht bezeichnen, denn die existierten nicht. Wie gefahrlos es tatsächlich war, wusste er nicht zu sagen. Rüdiger jetzt zu verunsichern, wäre jedoch nicht hilfreich.
„Ja, genau", versicherte er. „Ich schau mich hier noch etwas um, während du das Teil holst."
Damit kehrte ihm sein Kamerad den Rücken zu und verschwand durch die Zimmertür. Den Metallkasten, Tresor oder was auch immer es war, hatte man offensichtlich nachträglich eingebaut. Vorhin waren sie nur knapp der herabbrechenden Decke durch die Tür entkommen. Erst brach der morsche Balken an der Wand, dann kam der Rest hinterher. Nur seinen Reflexen und ihrer gemeinsamen Erfahrung war es zu verdanken, dass sie es am Ende mit einem Hechtsprung in den Flur geschafft hatten.
Hinter einer hölzernen Geheimtür eine Ecke weiter, hatten sie diese geschlossene Metalltür mit dem Codeschloss gefunden. Mann konnte dort nur eine Zahlenkombination eintippen. Das wars. Keine Karte zum Durchziehen oder Ähnliches. Das versteckte Kabuff vor dem Zugang hatte die Größe einer Besenkammer. Der gepanzerte Raum dahinter musste etwa zwanzig Quadratmeter messen. An der Tür zwei in der Breite und die Wand im anderen Zimmer war rund fünf Schritte lang. Das war verdammt groß für einen Tresor.
Um sich abzulenken, ging er wieder hinaus und bog in Richtung des nächsten Raumes ab, den er noch nicht kannte.
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Die Diskussion der beiden Kerle war nicht zu überhören gewesen. Ein Safe? Darum ging es denen also. Und eine Erscheinung? Offenbar war sie nicht die Einzige, die von Geistern geplagt wurde. Schnell zog sie sich hinter das Türblatt zurück als der Typ namens Rüdi sich mit dumpfen Schritten in ihre Richtung bewegte. Der andere, Lutz, würde vermutlich auch gleich herauskommen, um sich umzuschauen. Aber das war ihre Chance! Falls dieser Rüdi nach draußen ging, konnte sie eventuell mit hinausschlüpfen. Einen der beiden anzusprechen, wäre keine gute Idee. Das waren Safeknacker, Kriminelle, und vorhin hatten die bereits mit der Waffe gedroht.
Zügig schaltete sie ihre Taschenlampe aus. Als die Schritte vor ihrer Tür verklangen, zählte sie bis drei und lugte hinaus. Ein Lichtschein bog linker Hand in einen Korridor ab. Perfekt. Auf leisen Sohlen folgte sie ihm. Warf noch einen kurzen Blick über die Schulter, aber dieser Lutz schien weiterhin in seiner „Besenkammer" beschäftigt zu sein. Dann bog sie auch schon ab. Im Flur sah sie in rund zehn Schritt Entfernung die Silhouette von Rüdi, dessen Licht den Gang vor ihm erhellte. Der vermoderte Teppich war hier ein enormer Vorteil. Solange der Verfolgte sich nicht umdrehte, musste sie sich keine Gedanken machen.
Minutenlang folgte sie dem Lichtschein um Ecken herum, durch kleine Räume mit zerstörtem Mobiliar und über kurze Flure. Während sie ihm hinterher schlich, wunderte sie sich, dass sie draußen kein anderes Auto gesehen hatte, obwohl sie beinahe das gesamte Grundstück auf der Suche nach der Einfahrt umkurvt hatte. Ihr zwanzig Jahre alter Fiesta mit den rostigen Kotflügeln stand unmittelbar vor der Zufahrt mit dem verbogenen, schmiedeeisernen Tor, in das der Familienname „Müller" filigran eingelassen war. Die Karre hatte sie zum achtzehnten Geburtstag von ihrer Tante geschenkt bekommen. Und das war auch schon vier Jahre her.
Egal. Eventuell hatten die hinter der Villa geparkt oder Ähnliches. In den wuchernden Büschen und ungepflegten Zufahrten konnte man leicht ein anderes Fahrzeug übersehen. Und sie hatte nicht bewusst darauf geachtet.
Das Echo von hohlen Schritten hallte zu ihr herüber. Verdammt! Abrupt hielt sie inne, um selbst keine verräterischen Geräusche zu verursachen. Vor ihr öffnete sich die weite Fläche des mit Holz belegten Empfangsbereiches, den sie vor Kurzem durch die beschädigte Eingangstür betreten hatte. Ihre deutlichen Tritte hatten sie bereits vorhin verraten und damit ihre panische Flucht und die nachfolgenden Ereignisse erst heraufbeschworen. Rüdi ging mit knarzenden Schritten geradewegs darauf zu. Warum hatte sie daran vorher nicht gedacht? Die Tür war defekt. Wenn sie irgendwo aus diesem gepanzerten Gebäude hinaus gelangte, dann dort. Aber jetzt musste sie zunächst abwarten, bis der andere hinaus war, um sich nicht erneut zu verraten.
Wenige Sekunden später war es so weit. Rüdis Lampenschein erlosch und die ausufernde Halle wurde in tintenartige Schwärze getaucht. Draußen war Neumond und funktionierende Straßenlaternen suchte man in dieser Gottverlassenen gegen vergebens. Mit geschlossenen Augen zählte sie langsam bis drei, dann schaltete sie ihre eigene Taschenlampe ein, um dem Safeknacker zu folgen.
Ihr scharf umrissener Lichtkegel, mit dem sie die Halle ausleuchtete erfasste eine mädchenhafte Figur, die exakt in der Mitte stand. Anna. In ihrem altertümlichen Kleid, mit zu Fäusten geballten Händen und kraus gezogener Stirn, bot sie einen beinahe niedlichen Anblick. Wäre es eine normale Achtjährige und nicht ein Geist, der sie vorhin in eine hinterhältige Falle hatte tappen lassen. Dass sie selbst keine gebrochenen Gliedmaßen oder Schlimmeres zu verzeichnen hatte, war pures Glück gewesen.
Und jetzt?
„Anna", sprach sie die Kleine im mütterlichen Tonfall an, „ich will da raus. Das verstehst du doch, oder?"
„Nein." Entschlossen schüttelte sie ihren Kopf, sodass die Haare um ihr Haupt wirbelten. „Ich will helfen. Und brauche dich."
Schon wieder sprach der kindliche Geist in Rätseln. Dennoch versuchte sie es mit Vernunft. Karin hatte die Hoffnung, dass die Erscheinung doch irgendwie nur eine Achtjährige war. „Anna. Vorhin hätte ich mich beinahe sehr schwer verletzt. Du hast mich in dem Raum mit der eingebrochenen Decke gelockt. Ohne mich zu warnen."
Während sie sprach, bewegte sie sich schrittweise in Richtung des Ausgangs. Im schrägen Winkel am Geist vorbei. Es waren mindestens dreißig Meter. Eine gefühlte Endlosigkeit.
Die Kleine schien sich von ihrer Erstsemester-Psychologie nicht beeindrucken zu lassen und verfolgte jeden ihrer Schritte, aufmerksam wie ein lauernder Panther.
„Selbst Schuld. Pass halt besser auf. Zumindest warst du noch rechtzeitig dort. Und du wirst mir helfen." Die letzten Worte spie der Geist flüsternd aus und hegte offenbar keinen Zweifel daran.
Sie wäre auch ein Stockwerk tiefer früh genug vor Ort gewesen, um den Dialog zu hören, falls es ihr darum ging. Ganz ohne sich den Hals zu brechen. Aber diese Bemerkung verkniff sie sich und bemühte sich, den Geist, ohne weitere Provokationen zu umrunden. Die Hälfte war geschafft.
„Warum sagst du mir nicht, wobei ich helfen soll?", fragte sie. Im Grunde wollte sie nur Zeit schinden. Sobald sie zur Tür hinausschlüpfte, konnte ihr Anna mal den Buckel runterrutschen.
„NEIN!"
Aus der wutverzerrten Fratze Annas erklang keine feine Mädchenstimme. Dieses eine Wort brüllten tausend Stimmen in allen Tonlagen gleichzeitig. Eine Kakophonie wie ein Orkan schlug ihr entgegen, durchdrang ihre Gliedmaßen, warf sie zu Boden und ließ sie meterweit über die Dielen nach hinten schlittern.
„Nein." Jetzt war es der verzweifelte Klang eines jungen Mädchens. „Bitte. Du darfst nicht gehen. Ich lasse dich nicht gehen. Ich muss helfen. Bleib und schau es dir an. Finde einen Weg."
Furcht durchströmte ihre Glieder wie ein eisiger Sturzbach. Für wenige Augenblicke hatte die Erscheinung ihr wahres Ich gezeigt. Kein leidender Geist eines tragisch gestorbenen, achtjährigen Kindes, sondern eine unbezwingbare Entität, deren aufblitzende Energie sie jederzeit auslöschen konnte. Wie die Flamme einer Kerze, die man gedankenlos mit einem Hauch erlöschen ließ. Falls dieses uralte Wesen nicht wollte, dass sie das Haus verließ – dann würde sie das Haus nicht verlassen. Dessen allumfassende Macht war jedoch nicht ausreichend, um ohne Hilfe dessen Ziele zu erreichen. Auch das war klar. Ansonsten würde sie nicht mit aufgerissenen Augen die Erscheinung eines kleinen Mädchens anstarren und hoffen, dass ihr Herz nicht in ihrer Brust zerplatzte.
„Also, gut", lenkte Karin schwer atmend ein und rappelte sich mit defensiv erhobenen Händen auf, denn eine andere Wahl bliebt ihr offenbar nicht, „ich schaue es mir an. Was auch immer."
Damit entfernte sie sich von der rettenden Außentür, schritt in einen der seitlichen Korridore und wartete ab, was sich in der Halle ereignete. Wenige Minuten später erleuchtete ein flackernder Lichtschein den Boden von dem Ausgang, dann trat Rüdi mit Taschenlampe und unter dem Arm geklemmter Autobatterie schnaufend herein. Von der Anna-Entität keine Spur. Der untersetzte Kerl war offenbar auf dem Weg zur Besenkammer, in der sein Kumpel wartete.
Kurz spielte sie mit dem Gedanken, es doch mit einem Sprint zur Außentür zu versuchen. Aber die rohe Energie des Geistes, die vermutlich auch alle Fenster wie Panzerglas versiegelt hatte, würde es ihr ganz sicher nicht erlauben die Villa zu verlassen. Ein letztes Mal tief durchatmend machte sie sich daher daran, erneut dem schwankenden Schein von Rüdis Taschenlampe durch die Korridore zu folgen.
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