
„Lerenzima?"
Lucy hatte ein wenig Angst, doch gleichzeitig war sie sehr neugierig. Sie drehte sich um und sah zwischen den Baumstämmen die geöffene Tür des Kleiderschranks. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht und sie setzte sich in Bewegung. Es knirschte unter ihren Füßen. Sie ging auf das andere Licht zu. Nach etwa fünf Minuten stand sie vor einer Straßenlaterne. Völlig fasziniert von der Landschaft, bemerkte sie erst, dass jemand auf sie zukam, als sie ganz nahe trippelnde Schritte hörte. Suchend drehte sie sich um. Dann kam hinter den Bäumen ein seltsames Wesen hervor. Es hielt einen Regenschirm, der vor Schnee ganz weiß war. Eigentlich sah er fast normal aus - aber er hatte Ziegenbeine. Um den Oberkörper, der der eines Menschen war, trug er einen roten Schal und aus seinen Locken ragten kleine Hörner heraus.
Als Lucy ihn sah, schrie sie auf, genau wie der Faun, der seine Päckchen in den Schnee fallen ließ und sich hinter dem nächsten Baum versteckte. Lucy rannte hinter die Laterne. Nach ein paar Schrecksekunden kam sie langsam wieder hervor und begann die Päckchen einzusammeln. Auch der Faun traute sich langsam hervor. „Haben Sie sich vor mir versteckt?“, fragte Lucy unsicher. „Äh, nein, ich... Ich wollte... Ich wollte dich nicht... erschrecken!“, sagte der Faun, während er die restlichen Päckchen einsammelte.
„Darf ich Sie was fragen?“, sagte Lucy, als der Faun alle Päckchen wieder in den Händen hielt. „Was sind Sie?“
„Was ich bin?“, fragte der Faun verwirrt. „Ich bin ein Faun! Und was bist du? Bist du sowas wie ein bartloser Zwerg?“
„Ich bin ein Mädchen und kein Zwerg!“, sagte Lucy kichernd. „Eigentlich bin ich sogar die Allergrößte in meiner Klasse!“
„Soll das heißen“, sagte der Faun, „dass du eine Evastochter bist?“ „Meine Mutter heißt Helen-“, sagte Lucy verwirrt. „Ja, mag sein, aber... Du bist ein Mensch!“, sagte der Faun ernst. Lucy nickte. „Natürlich bin ich ein Mensch!“
„Was tust du hier?“, fragte der Faun, fast schon besorgt.
„Also, das war so. Ich hab ein tolles Versteck im Kleiderschrank im leeren Zimmer gefunden- “, sagte Lucy. „Lerenzima? Liegt das in Narnia?“, fragte der Faun. „Narnia? Was ist das?“, fragte Lucy. „Nun, wir sind hier in Narnia. Alles hier ist Narnia, von der Straßenlaterne, bis zum großen Schloss Cair Paravel am östlichen Meer. Jeder Stock und jeder Stein, jeder Eiszapfen, ist Narnia!“, sagte der Faun und zeigte mit seinem Regenschirm um sich. „Dann ist das aber ein großer Kleiderschrank“, sagte Lucy, während sie nach Osten schaute. „Claidasch-Rank“, murmelte der Faun verwirrt.
„Oh, ähm, ich möchte mich vorstellen. Mein Name ist Tumnus!“, sagte er dann. „Es ist mir eine große Ehre, sie kennenzulernen, Herr Tumnus! Ich bin Lucy Pevensie!“, sagte Lucy und hielt ihm die Hand hin. Allerdings sah er nur verwirrt darauf. „Oh, man schüttelt die Hand!“, erklärte Lucy. „Warum?“, fragte Herr Tumnus. „Ich...ich weiß nicht“, sagte Lucy. „Man macht das einfach so, wen man sich trifft!“
Der Faun fasste ihre Finger leicht mit seinen an und drehte seine Hand hin und her, aber Lucy zeigte ihm, wie man es richtig machte und kicherte.
„Also, na gut, Lucy Pevensie, aus der strahlenden Stadt Claidasch-Rank aus dem wundersamen Land Lerenzima, wäre es zu keck“, er spannte seinen Regenschirm mit einer eleganten Bewegung auf, „dich einzuladen, zu Tee und Gebäck?“ Er hob verschmitzt die Augenbrauen. „Das finde ich sehr nett von ihnen“, sagte Lucy. „Aver meine Geschwister machen sich bestimmt Sorgen!“ „Es ist gleich hier um die Ecke und es gibt ein prasseln des Feuer, und Toast und Tee und Kuchen. Und wer weiß, vielleicht werden wir sogar die Sardinen aufmachen!“ „Ich denke, kurz kann ich schon mitkommen“, sagte Lucy schließlich. „Wenn ich Sardinen kriege.“ „Eimerweise wenn du willst!“, sagte Herr Tumnus.
Dann liefen sie los, durch die verschneite Winterlandschaft, wobei Herr Tumnus sich manchmal misstrauisch umblickte. Lucy bekam davon allerdings nichts mit. Herr Tumnus hatte den Regenschirm über sie beide gespannt und Lucy hielt sich an seinem Arm fest, um nicht im tiefen Schnee zu versinken. Trotzdem wurde es kalt und sie begann, zu zittern. „Es ist nicht mehr weit“, sagte Herr Tumnus. „Dann haben wir es warm und gemütlich. Geht's noch?“
Lucy nickte und lächelte ihn an. Herr Tumnus lief zielstrebig auf eine Felswand zu, aber Lucy blieb verwirrt stehen. Keine Tür war zu sehen, kein Eingang. Dann fiel ihr eine eiserne Tür im Fels auf, die perfekt getarnt war. Herr Tumnus drehte sich zu ihr um.
„So, da sind wir. Wollen wir?“, sagte er. Lucy ergriff lächelnd seine Hand und ging als Erste in die kleine Höhle. Sie war zwar aus Stein, aber sehr gemütlich eingerichtet. Ein paar Stufen führten zum Kamin und zwei Sesseln und einem Tisch herunter. Vor den Stufen führte eine Treppe nach oben. Überall standen Kerzen herum und den meisten Platz nahmen wohl die Bücherregale ein. Herr Tumnus trippelte mit seinen Hufen schnell auf dem Boden herum, um den restlichen Schnee abzuschütteln und seine Füße aufzuwärmen, während Lucy das Paket, das sie getragen hatte, auf einen Tisch ablegte und ein Gemälde auf einer Staffelei betrachtete. „Oh, also das“, sagte Herr Tumnus, als er das bemerkte, „das ist mein Vater.“
Während er den Schlüssel auf einen Schrank neben der Tür legte, sagte Lucy:„Er hat ein freundliches Gesicht. Und er sieht ihnen sehr ähnlich!“ „Nein“, sagte Herr Tumnus ernst. „Ich bin meinem Vater überhaupt nicht ähnlich.“
„Mein Vater kämpft gerade im Krieg“, erzählte Lucy traurig. Überrascht drehte Herr Tumnus sich zu ihr um. „Mein Vater war auf im Krieg und hat gekämpft! Aber das ist schon lange, lange her. Schon bevor diesem furchtbaren Winter.“ „Ich mag den Winter ganz gerne“, sagte Lucy, während sie die Buchtitel im Bücherregal betrachtete.
Ist der Mensch ein Mythos?
„Da kann man Eislaufen und es gibt Schneeballschlachten...oh! Und Weihnachten!“ „Nicht hier, nein. Wir hatten kein Weihnachten mehr seit 100 Jahren“, sagte Herr Tumnus während er ein Tablett auf den Tisch bei dem Kamin stellte.
„Was?“, rief Lucy. „Hundert Jahre ohne Geschenke?“ „Immer Winter, aber niemals Weihnachten. Und es ist ein langer Winter “, sagte Herr Tumnus und setzte sich in den einen Sessel. Lucy setzte sich in den anderen. Herr Tumnus reichte ihr eine Tasse mit Tee. „Aber Narnia im Sommer hätte dir sehr gefallen“, begann Herr Tumnus zu erzählen. Er erzählte vom Sommer, von langen Jagden auf den Weißen Hirsch, der Wünsche erfüllte, wenn man ihn fing, von Abenteuern und Helden. „Wir Faune haben die ganze Nacht mit den Nymphen getanzt und... wir wurden nie müde! Und die Musik, oh!“
Lucy sah ihm lächelnd zu.
„Möchtest du...möchtest du etwas hören?“, fragte Herr Tumnus sie auf einmal. Lucy nickte. „Ja, bitte!“
Herr Tumnus nahm eine Flöte von einem Regal, die zwei Enden hatte. „Kennst du... Irgendwelche narnianischen Schlaflieder?“, fragte er Lucy. Lucy schüttelte den Kopf. „Tut mir leid“, sagte sie entschuldigend. „Das ist gut“, antwortete Herr Tumnus. „Weil sich das hier...vermutlich nicht nach einem anhören wird.“
Er begann zu spielen. Der erste Ton war ein tiefer, holziger Klang, der Dank der zwei Enden zweistimmig war. Darauf folgten vier schnelle Töne. Der Klang des Instruments war beinahe hypnotisierend. Lucy schaute in das Feuer, das im Kamin vor sich hinprasselte. Als sich aus den Flammen eine Figur erhob, zuckte sie zusammen. Es war ein Mann mit einem Schwert, der sich in einen gejagten Hirsch verwandelte. Die Musik wurde immer drängender, aber Lucy bemerkte das gar nicht. Sie wurde immer müder, je länger sie denn tanzenden Flammen zuschaute, die sich in lachende Faune verwandelt hatten. Dann kippte ihr Kopf nach unten, die Tasse mit dem Tee fiel auf den Boden und zersprang. Herr Tumnus spielte weiter und schaute ebenfalls gebannt auf das Feuer.
Die Musik wurde noch drängender, als auf einmal ein riesiger Löwenkopf im Feuer auftauchte, brüllte und alle Kerzen in der Höhle ausbließ. Herr Tumnus zuckte zusammen, ließ die Flöte sinken und blinzelte, um Tränen zurückzuhalten. Lucy schlief immer noch.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro