
𝟗: 𝐂𝐈𝐍𝐍𝐀𝐌𝐎𝐍 𝐑𝐎𝐋𝐋𝐒
𝟗: 𝐂𝐈𝐍𝐍𝐀𝐌𝐎𝐍 𝐑𝐎𝐋𝐋𝐒
»𝐆𝐔𝐓𝐄𝐍 𝐌𝐎𝐑𝐆𝐄𝐍!«, flötete Judy mir entgegen und richtete sich für meine Verhältnisse viel zu fit wieder auf.
Sie sah aus wie das blühende Leben, während ich mich so fühlte, als wäre eine Dampfwalze über mich hinüber gerollt.
Dennoch brummte ich ihr einen Morgengruß entgegen und schob mich Stück für Stück von meiner durchgelegenen Matratze.
Mein Kopf war zentnerschwer, der Schwindel vom Vorabend immer noch präsent und die Übelkeit stärker denn je.
»Ich bringe ihn um.«, zischte ich leise und schickte tausend Flüche an Eddie.
Warum nur hat er dieses sahnige Gesöff geholt.
Davon kotzen zu müssen, nachdem man auch noch fettige Pizza gegessen hat, glich einem Höllenritt.
Als ich in die Küche ging, schwankte ich unstet hin und her.
Nicht mehr so planlos wie gestern, aber vernebelt genug, um eine der Götterstatuen um zu schmeißen.
Seufzend kniete ich mich hin, nahm die Statur zwischen meine schwitzigen Hände und küsste ihren Kopf.
An die zehn Mal. Das musste reichen.
Eine erboste Gottheit konnte ich mir nach der Nacht und den Erkenntnissen wirklich nicht mehr leisten.
Judy und Eddie hatten sich geküsst? Ich konnte es immer noch nicht glauben.
Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht.
Aber vielleicht stimmte es und Gegensätze zogen sich an.
Unachtsam stellte ich die Götterfigur an seinen ursprünglichen Platz zurück.
Meine Aufmerksamkeit lag viel eher auf dem leeren Pappteller, auf dem ich die Pizzastücke für Mom und Dad hinterlassen hatte.
Zu meiner kleinen Notiz hatte sich eine Antwort meiner Mutter gesellt.
Sie bedankte sich herrlich für die Pizza und schwor darauf, dass sie nie eine bessere gegessen hatte.
Ihre Wortwahl entlockte mir ein sanftes Lächeln.
Ich vermisste sie.
In den letzten Wochen hatten wir uns kaum zu Gesicht bekommen.
Sie rackerte sich den Arsch ab. Genauso wie Dad.
Vielleicht würden Eddie und ich doch einmal im Lotto gewinnen und Onkel Wayne und meinen Eltern das zurückgeben können, was sie verdient hatten.
»Aaaal.«, rief Judy aus dem Badezimmer und im nächsten Moment sah ich sie mit zusammengekniffenen Augen aus dem Türrahmen ragen.
»Ich fass es nicht, dass du immer noch diese ekelhafte Zahnpasta mit Kaugummigeschmack hast. Wie alt bist du?«, beschwerte sie sich.
»Für Zahnpasta mit Kaugummigeschmack ist man nie zu alt.«, antwortete eine dritte Stimme, die ich sofort erkannte.
Judy riss erschrocken ihre Augen auf und bedeckte ihre nackten Knie mit ihrer freistehenden Hand.
Als ob das was brachte.
Ich hingegen rollte mit den Augen und ließ mich auf einem der Stühle am Esstisch fallen.
»Ich gebe dir zwar Recht. Aber du musst aufhören hier einfach reinzukommen. Was ist, wenn ich mal Männerbesuch habe?«, beklagte ich mich und warf meinem besten Freund einen vernichtenden Blick zu.
Dieser brach in schallendes Gelächter aus, in das Judy einstimmte, sobald sie die Zahnpastareste ausgespuckt hatte.
»Entschuldigung?«, warf ich entgeistert in den Raum und stand sofort wieder auf.
»Ist das so unglaubwürdig?«, fragte ich die beiden und verschränkte stoischen Blickes meine Arme vor der Brust.
»Nicht völlig. Aber doch schon.«, erklärte mir Judy und lächelte entschuldigend.
»Es passt einfach nicht zu dir.«, stimmte ihr Eddie zu.
Warum auch immer, ihre Worte verletzten mich.
Mir war schon klar, dass sie es nicht böswillig meinten, aber es kam für mich so rüber, als war ich es nicht wert, gemocht zu werden.
War meine Heißheitsskala doch niedriger als gedacht? War ich nicht vögelbar?
Nicht, dass ich es sein wollte - trotzdem.
Oft genug bekam ich nochmal die Kurve und lächelte Ungerechtigkeit einfach weg.
Aber in diesem Moment ging das Divengen in mir über.
Das musste ich von meiner Tante abbekommen haben, denn sie war eine noch viel größere Diva als ich es jemals sein könnte.
»Außerdem gibt es nichts was ich noch nicht gesehen habe, oder? Ich meine ich kenne deine diversen krankhaften Schlafanzüge zu Genüge, Allybear.«, piesackte Eddie mich weiter.
»Hey. Du trägst gar keinen.", stellte er schockiert fest.
Ich sah flüchtig an mir herunter.
Ich trug immer noch den dämlichen Jeansrock und die Bluse.
»Nope.«, murmelte ich.
»Dafür war keine Zeit mehr, nachdem sie dir vor die Füße gekotzt hat.«, erklärte Judy grinsend, dann verzog sie das Gesicht.
Und auch ich sah angewidert zu der Türschwelle und vergrub mein Gesicht in den Händen.
»Fuck. Mom wird mich umbringen.«
»Nope.«, wiederholte Eddie mich.
Irritiert sah ich zwischen meinen Fingern zu ihm hoch.
»Hab's weggemacht. Kenne dich ja und dein betrunkenes Hirn.«, zog er mich auf.
Ich ließ ein erleichtertes Seufzen los und stand auf, um ihm dankend die Schulter zu tätscheln.
Aber eine unsichtbare Barriere hinderte mich daran.
Ihm nahe zu kommen, fühlte sich nicht richtig an. Nicht, nach der Offenbarung von Judy und nicht, nachdem ich ihn nach einem weiteren Kuss gefragt hatte.
Also bedankte ich mich schlicht und einfach mit Worten und trottete zurück in mein Zimmer.
Wir hatten heute zwar erst die Mittagsschicht, aber das bedeutete nicht, dass bis dahin, wie ein Lump herumlaufen musste.
Diesmal hatte ich keine große Lust mir viele Gedanken über mein Äußeres zu machen.
Einmal, weil das Einräumen von Platten nicht danach verlangte und auch, weil ich befürchtete wieder begrabscht zu werden.
So ansehnlich war ich vielleicht nicht, aber wenn die Dorfkneipe quasi nebenan lag, war es einfach eine Sache des Möglichen.
»Soll ich dich mitnehmen? Ich wollte mir vorher eine dieser ekelhaft süßen, aber unheimlich großartigen Zimtschnecken genehmigen.«, sagte Eddie verträumt.
Er war mir nachgegangen und stand hinter mir. Schätzungsweise eine Millionen Male zuvor hatte ich mich vor ihm umgezogen, mich über meine großen Brüste bei ihm beschwert und ihm eine meiner krankhaften Schlafanzüge präsentiert.
Die überhaupt nicht krankhaft waren. Kitschig vielleicht. Omamäßig.
Aber bequem und sehr süß.
Plötzlich war es mir unangenehm.
Ich konnte mich nicht vor ihm umziehen.
Aber ich konnte ihm genauso wenig anvertrauen, wieso das nicht ging.
Also griff ich nach der sinnvollsten Notlüge, dir mir einfiel.
»Hab Besuch der roten Dame und du weißt ja wie unwohl ich mich dann fühle.«, entschuldigte ich mich lächelnd und verschwand mitsamt meiner Kleidung zu Judy ins Bad.
Sie war gerade dabei sich zu schminken, ihre Wimpern waren so voluminös, dass ich vor Neid fast erblindete.
Sie war einfach wunderschön und das war auch Eddie nicht entgangen.
Argh.
Wütend schlug ich mit der flachen Hand auf den Waschbeckenrand und bereute es sofort.
Meine Hand brannte und ich wedelte fluchend damit vor mir her.
𝐉𝐔𝐃𝐘 𝐒𝐀𝐇 𝐌𝐈𝐂𝐇 Ü𝐁𝐄𝐑𝐑𝐀𝐒𝐂𝐇𝐓 𝐀𝐍.
Sie hatte schon viele meiner Stimmungsschwankungen miterlebt, aber keine die so übertrieben war.
»Mir...ist gerade eingefallen, dass ich zur falschen Gottheit gebetet habe. Hoffen wir, dass ich jetzt nicht mit einem Damenbart verflucht werde.«, witzelte ich und verschränkte Zeige- und Mittelfinger zu einem Kreuz.
Judy sah mich noch einen weiteren Moment mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Dann gab sie es auf.
Machte auch keinen Sinn mich zu verstehen.
Sonst nicht und heute ganz besonders nicht.
»Hey Aly, wie sieht es jetzt aus mit den Zimtschnecken?«, rief Eddie quer durch den Trailer.
In Windeseile zog ich mich an und putzte mir die Zähne.
Dann stiefelte ich mit einem wütenden Ausdruck auf ihn zu.
»Schrei nicht so, du Holzkopf. Dad schläft.«
Eddie warf entschuldigend die Arme in die Höhe und wackelte fragend mit dem Kopf.
Ich schüttelte meinen Kopf, band mir die Haare zu einem hohen Zopf und lehnte ab.
»Ich nehme den Bus. Ich hab noch was zu erledigen.«
Das stimmte zwar nicht, aber nach der Nacht musste ich ein wenig Abstand halten.
Zumindest so lange, bis ich mit ihm Stunden lang auf kleinsten Raum zusammenarbeiten musste.
Ich Witzbold.
»Den Bus?«, wiederholte er mich irritiert.
Ich nickte. »Ja...ich...muss noch ein neues Notizbuch besorgen. Muss ja festhalten, wofür ich das viele Geld ausgeben will.«, log ich.
Eddie glaubte mir nicht.
Oder war zumindest argwöhnisch, das erkannte ich an seinem intensiven Blick.
Ich schluckte schwer und wandte mich schnell von ihm ab.
Sonst würde ich ihm noch von Judy's Plauderei erzählen.
»Du kannst mich mitnehmen!«, rief Judy aus dem Badezimmer und verließ selbiges endlich.
Ihre Schönheit war unglaublich und gleichzeitig so mühelos.
Sie strahlte und das nur durch etwas Mascara und Rouge.
Wenn ich Rouge benutzte sah man es entweder gar nicht oder ich musste so sehr übertreiben, dass ich eher einem Clown ähnelte.
»Okay.«, stimmte Eddie zu und klimperte mit seinen Autoschlüsseln.
Mein Blick wanderte zwischen meinem besten Freund und meiner besten Freundin hin und her.
Und wenn ich an ihre Autofahrt zu zweit dachte, verkrampfte sich etwas in mir.
Das war so untypisch und so lächerlich, dass ich nicht weiter drüber nachdenken wollte.
»Schön.«, brummte ich und griff nach meiner Tasche, die an der Stuhllenge hing.
»Einfach zuschlagen, wisst ihr ja.«, fügte ich abgeklärt hinzu und ging vor.
Divengen, sagte ich ja bereits.
Aber ich ertrug die komische Stimmung im Trailer einfach nicht mehr.
Eddie und Judy verstanden sich plötzlich wieder so gut, dass sie Dr. Jekyll und Mr. Hyde den Platz streitig machen konnten.
Sie wechselten zwischen einem Machtkampf aus dem Kindergarten und totaler Nettigkeit zueinander hin und her.
Und das hasste ich. Weil ich jetzt den Grund dafür kannte.
Ohne einen Blick zurückzuwerfen stiefelte ich der Bushaltestellte entgegen.
Vorgestern noch war ich hier gewesen, um zu Nancy zu fahren.
Nancy. Konnte ich – nein. Das wäre komisch, oder? Aber warum eigentlich nicht? Sie hatte mir schließlich angeboten zu ihr zu kommen, wenn ich Fragen hatte.
Nun, ich hatte Fragen.
Nicht über die Schülerzeitung, aber ich hatte Fragen.
Kurzerhand entschloss ich mich dafür, sie aufzusuchen und stieg in den Bus, der in ihren Stadtteil fuhr.
Ich warf ihnen keinen Blick zu, aber das stotternde Motorengeräusch des Vans war auch innerhalb des Buses zu hören.
Gute Fahrt euch beiden.
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