𝟑: 𝐌𝐎𝐌𝐌𝐘, 𝐏𝐋𝐄𝐀𝐒𝐄 𝐃𝐎𝐍'𝐓

»𝐄𝐃𝐃𝐈𝐄. 𝐙𝐈𝐄𝐇. 𝐃𝐄𝐈𝐍𝐄. 𝐒𝐂𝐇𝐔𝐇𝐄. 𝐀𝐔𝐒.«, schrie ich frustriert und schlug ihm das Fliegengitter vor der Nase zu.
»Ich schenke dir zu Weihnachten einen Coupon aus der Mall, für diesen zwielichtigen Ohrenarzt. Denn anscheinend bist du taub! Wenn Mom sieht, dass du deine Schuhe angelassen hast, bist du tot. Und glaub mir, du wirst als Wanze wiedergeboren.«

»Dann werde ich dir auflauern und dich piesacken, bis du draufgehst. Und du kommst als Kakerlake wieder.«
»Ekelhaft, komm mir nicht mit Kakerlaken. Kafka hat mir Alpträume beschert.«.
Allein bei dem Gedanken an Kafkas Werk spürte ich eine gewaltige Gänsehaut.
Nicht nur die Vorstellung des Ungeziefers war widerlich, auch die Verwesung von Georg Samsa's Psyche ließ mich erschaudern.
Wenn ich eine erfolgreiche Journalistin und Autorin geworden war, würde ich frohe Bücher schreiben. Nichts, was einem Angst bereitete.

»Ich tue jetzt einfach mal so, als wüsste ich ganz genau, wovon du sprichst und frage daher: Was ist das?«
Eddie deutete auf einen Teller mit ausgebackenen Fladenbroten.
»Paratha«, diagnostizierte ich die übelriechenden Brotfladen.
Mom versuchte es jede Woche aufs Neue, aber sie war einfach unfähig was das Kochen anging. Oder Backen. Oder Zutaten in einer Schüssel zu einem Dip zu verrühren.
Ich fand es wirklich süß, wie sie es immer wieder probierte, aber wenn Mom kochte, war mir sogar das Haggis von Dad's in Schottland lebenden Bruder lieber.
Und das bestand aus Schafsmagen.

Trotzdem setzte ich mich an den kleinen Holztisch und nahm eines der Brote.
Sie waren mit Kartoffeln gefüllt, die so überwürzt waren, dass meine gesamte Zunge davon brannte.
Ich sah Eddie leidend an, setzte dann ein gezwungenes Lächeln auf und seufzte genüsslich.
»Mhh, köstlich.«, sagte ich mit vollem Mund und schluckte den trockenen, säuerlichen Teig herunter.
Als ich den Rest des Brotes wieder auf den großen Teller ablegte, fiel mein Blick auf einen handgeschriebenen Zettel.

𝙢𝙤 𝙧é𝙖𝙡𝙩𝙖 (𝙢𝙚𝙞𝙣 𝙨𝙩𝙚𝙧𝙣)
𝙞𝙘𝙝 𝙝𝙖𝙗𝙚 𝙫𝙚𝙧𝙨𝙪𝙘𝙝𝙩 𝙙𝙚𝙞𝙣𝙚 𝙢𝙪𝙩𝙩𝙚𝙧 𝙖𝙪𝙛𝙯𝙪𝙝𝙖𝙡𝙩𝙚𝙣.
𝙖𝙗𝙚𝙧 𝙙𝙪 𝙠𝙚𝙣𝙣𝙨𝙩 𝙨𝙞𝙚 𝙟𝙖.
𝙜𝙞𝙗 𝙚𝙨 𝙚𝙞𝙣𝙛𝙖𝙘𝙝 𝙚𝙙𝙙𝙞𝙚, 𝙨𝙖𝙜 𝙚𝙨 𝙞𝙨𝙩 𝙠ö𝙨𝙩𝙡𝙞𝙘𝙝.
𝙥𝙖𝙨𝙨 𝙖𝙪𝙛 𝙙𝙞𝙘𝙝 𝙖𝙪𝙛 𝙪𝙣𝙙 𝙩𝙪𝙚 𝙣𝙞𝙘𝙝𝙩𝙨,
𝙬𝙖𝙨 𝙞𝙘𝙝 𝙣𝙞𝙘𝙝𝙩 𝙖𝙪𝙘𝙝 𝙩𝙪𝙣 𝙬ü𝙧𝙙𝙚.
𝙪𝙣𝙙 𝙙𝙖𝙢𝙞𝙩 𝙢𝙚𝙞𝙣𝙚 𝙞𝙘𝙝: 𝙬𝙖𝙣𝙙𝙚𝙧𝙚 𝙗𝙞𝙩𝙩𝙚 𝙣𝙞𝙘𝙝𝙩 𝙖𝙪𝙨
𝙬𝙞𝙧 𝙡𝙞𝙚𝙗𝙚𝙣 𝙙𝙞𝙘𝙝
𝙙𝙖𝙙

Ich lachte höhnisch auf.
Wenn mir die Chance geboten wurde auszuwandern, hätte ich sie, ohne mit der Wimper zu zucken, ergriffen.
Aber wohl eher mit einem riesigen Heulkrampf verbunden, weil ich meine Eltern und Eddie verlassen musste.
Ich wollte gar nicht zwangsläufig auswandern, nur weg von hier.
Irgendwo hin, wo ich nicht die Attraktion schlechthin war, weil ich ausgefallene Gene hatte.

Ich war nicht das einzige Mädchen mit einem dunklen Teint in Hawkins und es war auch nicht unbedingt so, dass Afroamerikaner immer noch stark differenziert behandelt wurden.
Aber Indien war nicht gleich Afrika und dann irgendwie doch noch zu speziell.
Zumindest ließen mich das die Blicke der Mitschüler fühlen.
Rassismus hatte eine so lange Tradition in der amerikanischen Geschichte, dass ich mir sicher war, in den nächsten vierzig Jahren noch davon lesen zu müssen.
Vielleicht würde ich etwas bewirken müssen.
Eine Ansammlung von Artikeln über Rassismus mit Erfahrungsberichten und Ausarbeitungen, weshalb es total unnötig war, einen Unterschied zwischen Hautfarben und Herkünften zu machen.

Ich keuchte aufgeregt auf, schob den Stuhl von mir weg und lief zu meinem Rucksack.
Dass der Stuhl mit einem ohrenbetäubenden Lärm zu Boden fiel, ignorierte ich gekonnt.
Hastig griff ich nach dem Kugelschreiber in meinem Rucksack und zog meine Notizbücher heraus.
Wo war es denn nur?
Erleichtert atmete ich auf, als ich das richtige Buch in den Händen hielt.
Artikel, die die Welt verändern werden.

Lächelnd schlug ich eine freie Seite auf und notierte mir ein paar Knotenpunkte, aus denen ich vielleicht eine Ausgabe zusammenstellen konnte.
Gesetzt dem Fall, dass ich die Stelle als Redakteurin bekam.
Ich schlug das Notizheft zu, verstaute es zurück in meinem Rucksack und warf einen zufriedenen Blick auf Eddie.
Dieser saß mit geweiteten Augen am Küchentisch, der auch als Couchtisch fungierte.
Ein Stück Brot hing ihm aus dem Mund, währenddessen er mit der ausgebreiteten Hand auf den Stuhl zeigte.
»Aber angezogene Schuhe sind schlimm?«, nuschelte er mit vollem Mund.
Lachend ging ich zu dem umgeworfenen Stuhl, stellte ihn wieder auf und trommelte aufgeregt gegen seinen Brustkorb.

»𝐖𝐈𝐄𝐒𝐎 𝐇𝐀𝐓 𝐌𝐈𝐂𝐇 𝐄𝐈𝐆𝐄𝐍𝐓𝐋𝐈𝐂𝐇 𝐊𝐄𝐈𝐍𝐄𝐑 𝐆𝐄𝐖𝐀𝐑𝐍𝐓?«, frage er aus dem Nichts und sah mich argwöhnisch an.
»Wovor?«, wollte ich gerne wissen und stoppte sichtlich verwirrt in meinen Bewegungen.
»Mich mit einem Nerd anzufreunden.«, lachte er.
»Ich bin kein Nerd.«, gab ich mit geschürzten Lippen zurück und funkelte ihn unter zusammengekniffenen Augenbrauen böse an.
»Du bist gut in der Schule.«
»Außer in Mathe.«, warf ich ein.
»Du lässt mich dir ja keine Nachhilfe geben.«, beschwerte er sich grinsend.
»So sehr vertraue ich dir dann doch nicht.«, ich schmunzelte bei meinen Worten und sah ihn herausfordernd an.

»Autsch.«, japste Eddie, hielt sich eine Hand auf die Stelle, an der sich sein Herz befand, und ließ sich unter einem Wimmern zu Boden fallen.
Ich verdrehte glucksend die Augen. So ein Trottel.

Weil er selbst nach einer kleinen Ewigkeit immer noch auf dem Boden lag, erbarmte ich mich und streckte die Hand nach ihm aus.
Er griff beherzt zu und zog mich zu sich auf den Boden.
Ich kam unbequem mit den Knien zuerst auf und wollte mich schon beschweren, da begann er mich zu kitzeln.
Wenn ich mich anstrengte, war ich nicht einmal an den Füßen kitzelig.
Aber seine Attacke kam so völlig unvorbereitet, dass ich lauthals zu quietschen begann.
Ich ließ mich auf den Hintern fallen und trat nach ihm, aber das Einzige was ich traf, war das blöde Stuhlbein. Stöhnend streichelte ich die schmerzende Stelle meines Schienbeins.

Eddie hörte mit dem Kitzeln auf und sah mich grinsend an.
»Eins zu Null für den Freak!«, triumphierte er.
»Penner.«, maulte ich lachend und rieb mir weiterhin die schmerzende Stelle.
»Schläfst du heute hier?«, fragte ich ihn.
Es kam nicht selten vor, dass er es tat.
Witzigerweise war meine Mom dabei entspannter als mein Dad.
Der zwang uns immer die Tür einen Spalt weit aufzulassen, während meine Mom mir mehr Vertrauen schenkte.
Sehr inkonsequent für eine indische Frau.

Brahma, der Gott der Schöpfung würde sich freudestrahlend im Kreis drehen, wenn er mit ansah, wie Eddie neben mir lag.
Wobei das nicht ganz den Tatsachen entsprach.
Er lag neben mir, anfangs.
Aber im Laufe der Nacht wälzte er sich so oft hin und her, dass er morgens entweder direkt auf dem Boden oder ein einer unmöglichen Position erwachte.
Nicht selten, dass ich mit seinen Füßen in meinem Gesicht geweckt wurde.

Eddie schüttelte den Kopf und sah mich entschuldigend an. »Ich hab noch Bandprobe.«, erklärte er mir.
Ich warf einen unsicheren Blick auf meine Armbanduhr. Es war schon nach Neun.
»Wenn du morgen zu spät kommst, bist du einen Kopf kürzer.«, drohte ich ihm, woraufhin er lachend mit den Schultern zuckte. »Entspann dich, Al. Ich hab mir einen Wecker gestellt. Zwei sogar.«

»Für wieviel Uhr?«, stellte ich ihn auf die Probe. Er duckte sich und murmelte: »Halb Zehn?«
»Halb Zehn?«, rief ich aufgebracht und schlug ihm auf die Schulter. »Halb Neun wäre realistischer.«, meckerte ich. Ich hasste Unpünktlichkeit.
Früher war ich immer mindestens zwanzig Minuten eher am vereinbarten Treffpunkt gewesen.
Mit Eddie zusammen war meine Verspätungsquote linear angestiegen.

»Okay, okay.«, beschwichtigte er mich, was ehrlicherweise nur minimal half. Ich konnte mir nicht sicher sein, dass er pünktlich war, bis ich es mit eignen Augen gesehen hatte.
»Onkel Wayne lässt dir was ausrichten.«, sagte er, als er in Richtung Tür trottete. »B3 und damit Bye-Bye Flotte.«

Ich hob meine linke Augenbraue zweifelnd an.
Eddies Onkel und ich hatten mit der Zeit ein ungewöhnliches gemeinsames Hobby erschaffen.
Wir spielten zusammen Schiffe versenken.
Und, weil er nachts in der Fabrik arbeitete und wir uns dadurch bis zum Wochenende kaum zu Gesicht bekamen, schrieben wir unseren nächsten Spielzug auf einen kleinen Notizzettel.
Oder ließen sie uns durch Eddie ausrichten.

»Nichts zu ungut, aber ich vertraue deinem Onkel nicht. Er hat das Spielbrett bei sich, woher soll ich wissen, dass er nicht betrügt?«, fragte ich mit verschränkten Armen.
»Weil du jedes Mal das Spielfeld in dein Notizheft zeichnest, wenn du bei uns bist?«, warf er in den Raum.
»Touché. Trotzdem. Es steht zu viel auf dem Spiel.«

»Worum habt ihr gewettet?«, fragte er neugierig und verschränkte seine Arme ebenfalls.
»Deine Dio-Kassetten.«, gab ich kleinlaut zu.
Eddie warf die Hände fassungslos in die Luft.
»Du hasst Dio!«, schrie er aufgebracht. Ich nickte zustimmend und grinste frech.
»Ich weiß, ich spiele ja auch um zu verlieren. Was soll ich mit deiner schrecklichen Musik?«
»Das war's McCain.«, schluchzte er spielerisch und öffnete das Fliegengitter. »Wir sind geschiedene Leute.«

Schmunzelnd nickte ich und wischte mir eine nicht vorhandene Träne aus dem Augenwinkel. »Ich werde dich vermissen und bitte tu mir noch einen Gefallen.«, flüsterte ich affektiert. Eddie hob abwartend eine Augenbraue.
»Frag Gareth, ob er auch andere Hemden besitzt. Ich sehe ihn immer nur in Karierten.«
Mit diesen Worten schlug ich lachend das Fliegengitter zu.
Eddie rief mir noch irgendetwas zu, aber ich winkte ihm nur noch zum Abschied und verschwand in meinem Zimmer.