𝟏𝟏:𝐖𝐈𝐍𝐓𝐄𝐑'𝐒 𝐂𝐀𝐋𝐋𝐈𝐍𝐆

𝐃𝐀𝐒𝐒 𝐄𝐒 𝐈𝐍 𝐇𝐀𝐖𝐊𝐈𝐍𝐒 𝐒𝐂𝐇𝐍𝐄𝐈𝐓𝐄 grenzte an ein achtes Weltwunder.
Die paar Male, in denen ich mich an den weißen Flocken erfreut hatte, waren an einer Hand abzuzählen.
Und ein jedes Mal war ich vor Freude fast verrückt geworden.
Und auch jedes Mal war Eddie dabei gewesen.

Jetzt dem seichten Schneetreiben zuzusehen, ohne, dass er mich dafür auslachte, weil ich eine Flocke mit der Zunge fing oder anfing zu heulen, weil es mich so glücklich machte, fühlte sich irgendwie falsch an. Diese Dinge hatte ich in der Vergangenheit ohne Ausnahme mit ihm zelebriert.
All die ersten Male, an die ich mich erinnern konnte, waren ausschließlich mit ihm gewesen.
Ob es mein erstes Reinschleichen in einen Horrorfilm war oder der erste Schluck Apfelwein; die erste und einzige Katastrophe, in der wir versuchten selbst Zimtschnecken zu backen; unser erster Ferienjob und unser – nein das stimmte nicht – mein erster Kuss.

Wäre es nicht so traurig, hätte ich vielleicht drüber lachen können.
Es als amüsant einstufen.
Mein erster Kuss gestohlen durch meinen besten Freund.
Gestohlen passte hier doch wirklich fantastisch.
Er hatte sich ihn einfach genommen. Ohne zu fragen. Was in Anbetracht der Situation, in der wir uns befanden hatten auch schwer zu bewerkstelligen gewesen wäre.
Es war ein guter Kuss. Er fühlte sich gut für mich an. Zumindest für mich.
Wenn nicht sogar grandios.
Aber ich hatte ja auch keinen Vergleich.

Trotzdem.
Wann immer ich mir vorgestellt hatte, wie mein erster Kuss ablief, dann war es dieser eine magische Moment, von dem wahrscheinlich alle kleinen Mädchen träumten.
Ich brauchte dafür keinen Ritter auf einem Ross, aber dieser flüchtige Augenblick kurz bevor sich die Lippen berührten, die Anspannung und das freudige Erwarten.
All das wurde mir genommen.
Und als ob das nicht genug war, ließ er mich in einer Glaubenskrise zurück.

Das machte mich wütend.
Es geschah zur undenkbar schlechten Zeit.
Mein Leben war stressig genug.
Mit den vielen Kursen, die ich mir aufgeladen hatte und die auch in der Ferienzeit ihre Zeit beanspruchten.
Außerdem war ich meinem Ziel, Redakteurin in der Schülerzeitung zu werden, noch nicht bedeutend nähergekommen.
Der Bewerbungsartikel lag unangerührt auf meinem Schreib-Schminktisch.
Mir war noch nicht einmal eine Idee gekommen, worüber ich schreiben konnte.

Und dann wagte es sich das Universum mich mit einem weiteren Desaster zu strafen?
Mir blieb keine Zeit dafür, mir darüber Gedanken zu machen, warum mich der Kuss derart verwirrte.
Sicherlich war es ungewohnt gewesen und überraschend.
Und klar, wie schon gesagt hätte ich mir etwas anderes von meinem ersten Kuss erwartet.
Aber es war doch nur ein Kuss. Dadurch würde sich nichts verändern.
Wir würden weiterhin dieselben besten Freunde sein, die sich miteinander betranken, miteinander alberten und miteinander arbeiteten.

𝐎𝐇 𝐇𝐄𝐈𝐋𝐈𝐆𝐄 𝐒𝐂𝐇𝐄𝐈𝐒𝐒𝐄! 𝐃𝐈𝐄 𝐀𝐑𝐁𝐄𝐈𝐓!
Nervös stahl sich ein Blick auf meine Armbanduhr. Mir blieb noch eine Dreiviertelstunde, bis ich da sein musste.
Würde ich das mit dem Bus schaffen?
Meine Schritte waren hektisch und nicht gerade zielführend.
Vielmehr lief ich im Kreis und überlegte angestrengt, wie ich den weiten Weg in so kurzer Zeit schaffen sollte.
Der Bus fuhr erst in zwanzig Minuten, gepaart mit dem halbstündigen Fahrtweg – ich war aufgeschmissen.

Seufzend ließ ich mich auf die kalte Oberfläche des Sitzes sinken.
Die Nässe des geschmolzenen Schnees fühlte sich widerlich auf dem Jeansstoff meiner Latzhose an.
Aber ich hatte keine Lust die zwanzig Minuten stehend zu verbringen.
Auch, wenn mir dadurch wohlmöglich wärmer gewesen wäre.

»Aalyiah? Sollen wir dich mitnehmen?«
Ich war gerade dabei wütende Smileys mit meiner Fußspitze in die hauchzarte Decke aus Schnee zu malen, als Nancy's fragende Stimme erklang.
Sie musterte mich mit einem abwartenden Blick, genau wie es ihre Begleitung tat.
Das musste Jonathan sein.
Unruhig zupfte ich an dem ausgeleierten Band meines Parkers herum.
Mir fiel auf, dass er offenstand.
Ich hatte ihn wieder einmal nicht geschlossen.
Der Gedanke an Eddie's Schimpftirade darüber, entlocke mir ein sanftes Lächeln.

»Euch schicken die Götter.«, atmete ich erleichtert aus und schulterte meinen Rucksack.
»Ja, bitte. Könnt ihr mich in die Innenstadt zum Musikshop bringen?
Am zweiten Tag zu spät zu kommen, kommt nicht so gut. Und ist auch sehr untypisch für mich. Nur zur Information. Ich bin eigentlich sehr zuverlässig.«, stellte ich klar.
Wenn ich eines nicht wollte, dann das Nancy dachte, ich hätte nicht das Zeug dazu, die Schülerzeitung anzuführen.
Generell war es mir wichtig, was sie von mir dachte.
In ihr hatte ich vielleicht eine Freundin gefunden.

Eine, die sich nicht meinen besten Freund an den Hals warf.
Wobei ich gar keine Ahnung hatte, wie genau der Kuss abgelaufen war.
Und wie weit er gegangen war.
Vielleicht war es auch Eddie, der die Initiative ergriffen hatte?
Ein weiteres Unwissen, dass mich von nun an plagte. Perfekt.

Die Fahrt zum Musikladen war ereignislos und angenehmer als gedacht.
Jonathan fuhr gut.
Was ich beim Anblick seiner Schrottkarre kaum erwartet hatte.
Sie sah beinahe so mitgenommen aus wie Eddie's Van. Dafür roch es um Welten angenehmer.

»Also du arbeitet in Guitar's Heaven? Das ist echt cool. Da hole ich meine Platten her.«, teilte mir Nancy's Freund beiläufig mit.
Ich nickte lächelnd und schob mich zwischen den beiden Sitzen zu ihnen nach vorne.
»Das ist toll, Jonathan. Vielleicht könntest du meine Schichten übernehmen? Für den Rest meines Lebens? Oder zumindest, bis die Schule wieder beginnt? Denn ich habe keine Ahnung von Musik und früher oder später werde ich mich blamieren.«
Wow, der zweite Wortschwall innerhalb einer Stunde. Das war untypisch für mich.
Nicht im Generellen, denn ich hatte einen unangenehmen Hang zu Worttiraden.
Aber untypisch in der Gesellschaft zweier Menschen, die ich erst zum ersten und zum zweiten Mal traf.

Zu meiner Überraschung lachte Jonathan auf.
Und sein Lachen klang genauso herzlich und bedacht wie sein ganzes Wesen.
Er war nett. Einfach nur unheimlich nett.
Ich verstand, was Nancy an ihm mochte.
Mit ihm war es leicht.
Es war einfach sich mit ihm zu unterhalten.
Ganz im Gegensatz zu den ständigen Feixereien mit Eddie oder die ewig selbe Laier von Judy, in deren Köpfchen kaum etwas anderes vor sich ging als die neusten Modetrends.
Ich liebte beide. Auf eine rein platonische Weise.
Aber das Beisammensein mit Nancy und Jonathan war eine angenehme Abwechselung.

»Wenn du mal Hilfe brauchst, Jonathan hat einen wirklich guten Musikgeschmack. Kein Vergleich zu-«, Nancy deutete auf die Richtung, aus der lautstark Black Sabbath dröhnte.
Ich genehmigte mir einen flüchtigen Blick und versank augenblicklich tiefer in meinem Sitz.
Die Musik kam aus Eddie's Van.
»-dem.«, beendete sie ihre Ausführung und grinste.

Ich lächelte unter zusammengepressten Lippen und fragte mich, wie ich es bewerkstelligen sollte, mich mit Eddie zu treffen und mich von den beiden zu verabschieden und das möglichst so, dass keiner etwas davon mitbekam.
»Danke fürs Fahren, Jonathan. Und danke für deinen Ratschlag, Nancy.«, ich schnallte mich ab und warf einen weiteren kurzen Blick nach draußen.
Eddie stieg gerade aus seinem Van.
In seinen Händen eine Zigarette, von der ich hoffte, dass es wirklich nur eine Zigarette war.

Wie er sich so lässig an die Tür der Fahrerseite lehnte und das Feuerzeug zwischen seinen Händen zum Leuchten brachte, zog sich etwas in meinem Innersten zusammen.
Er sah auf eine verbotene Art und Weise gut aus.
Seine dunklen Locken, die im Wind tanzten und von einigen Schneeflocken belagert wurden.
Seine Finger mit den Ringen, die aufgrund der Kälte hier draußen sich umso kühler anfühlen mussten. Würden sie mir eine Gänsehaut verpassen, wenn sie wieder über meinen Nacken fuhren?

Weil ich schon wieder schockiert über meine Gedankengänge war, schlug ich die Tür des Autos ein wenig zu beherzt zu.
Die Aufmerksamkeit, die ich nicht gewollt hatte, ging nun automatisch auf mich hinüber.
Eddie's dunkelbrauner Blick verfing sich auf meine Person.
»Al?«, fragte er überrascht
. Doch ehe er wirklich ausmachen konnte, aus wessen Wagen ich gestiegen war, fuhr Jonathan schon wieder los.
Ich vergrub meine Hände in den löchrigen Taschen meiner Jeans und trottete langsam auf ihn zu.
An seiner skeptischen Mimik erkannte ich, dass er eine Antwort wollte.
Aber ich würde ihm keine geben. Es ging ihn nichts an, mit wem ich meine Zeit verbrachte.

»Verdammt, Al. Wie oft muss ich dir das noch sagen?«, beschwerte er sich.
Seine Stimme klang dumpf und unklar, weil die Zigarette zwischen seinen Lippen hing.
Er zog mich an den beiden geöffneten Enden meiner Jacke näher zu sich und machte sich daran zu schaffen, den Reißverschluss zu schließen.
Das war so typisch Eddie, dass ich unweigerlich lächelnd musste.
Gleichzeitig traf mich die unmittelbare und unvorbereitete Nähe wie ein Schlag.
Obwohl es eiskalt war, wurde mir warm.
Sein Gesicht war nicht weit von meinem entfernt und es trennte uns nur einige Zentimeter, weil er ein gutes Stück größer als ich war.

Zunächst versank ich eine kleine Ewigkeit in seinen kaffeebraunen Augen, die mich tadelnd ansahen.
Als ich jedoch bemerkte, wie dämlich ich mich anstellte, pustete ich ihm mit den Augen rollend gegen den Mund.
»Scheiß Qualm.«, maulte ich und drehte mich von ihm weg.

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Ich verbringe momentan ungesund viel Zeit damit, meine Geschichten zu überarbeiten. Aber ich liebe es. Ursprünglich war ich wieder auf den Zug aufgesprungen, dass es ja nur um das Geschriebene gehen soll, aber wenn etwas so hübsch aussieht, liest man es doch viel lieber, oder?

Bin übrigens absolut verliebt in Aly's Faceclaim. Auch, wenn die Suche danach echt ein Horrortrip war, davon kann persephonestraum ein Liedchen singen, denn sie unterstützt mich immer ganz lieb bei allem.

Wie seht ihr Aly's Gefühlsduseleien? Wärt ihr auch so durch den Wind nach diesem Kuss? Oder würdet ihr ihn einfach aus eurer Erinnerung löschen? Aly scheint das ein wenig schwerer zu fallen.