Kapitel 5 - Meer
Als ich fertig war, mich meines Mageninhaltes zu entledigen, wischte ich mir mit dem Ärmel über den Mund, schmiss die Süßigkeitentüte so weit weg wie ich konnte und stieg wieder ins Auto als wäre nie etwas gewesen.
In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so klar gedacht, wie in diesem Moment. Trotzdem konnte ich mich an den restlichen Heimweg kaum erinnern. Lina hörte nicht auf, mich zu fragen, was los war, aber ich würde es ihr niemals sagen. Ihre Welt durfte nicht sein wie meine. Sie war zu unschuldig, um überhaupt davon zu wissen.
Zuhause angekommen drehte ich mich zu ihr und sagte: „Lina, du packst jetzt deine Sachen. Du wirst einige Zeit nicht mehr hierhin zurückkehren. Kein Wort zu... Papa." Das Wort kam mir verdammt schwer über die Lippen.
„Wohin gehen wir denn?", verlangte sie zu wissen.
„Wir fahren jetzt ans Meer", log ich.
„Nur wir beide?"
„Betti wird mit uns kommen", sagte ich und spürte einen kleinen Stich im Herzen als ich Linas enttäuschtes Gesicht sah.
Sie mochte Betti, aber sie war auch ein wenig eifersüchtig auf sie. Doch ich wusste die beiden würden sich gut verstehen. Sie waren sich ähnlicher, als sie dachten.
Wir betraten das Haus schweigend. Bernd war nirgends zu sehen und es schien, als wäre das Glück zum ersten Mal auf unserer Seite. Wir packten nur das Nötigste.
Nicht, das wir mehr besaßen als das.
Ich machte mir keine Mühe, meine Kleidung zu falten, sondern schmiss einfach alles in meine Sporttasche, was mir in die Finger kam und in einem halbwegs akzeptablen Zustand war. Auch das Geld nahm ich mit. Vielleicht würden wir es doch brauchen.
Wir benötigten vielleicht fünfzehn Minuten, bis wir schwer atmend mit gepackten Taschen wieder im Auto saßen.
Ich machte mir keine Hoffnungen, Betti bei ihrer Mutter zu Hause vorzufinden. Sie war nie dort. Ich wusste mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit, dass sie bei ihm sein würde. Ich wies Lina an, im Auto zu bleiben und die Türen abzuschließen. Dann schlüpfte ich aus dem Auto und lief die Treppen des Apartmenthauses hinauf. Alles was mir blieb war, zu hoffen, dass er nicht da sein würde. Ich drückte die Klingel und ballte meine Hände zu Fäusten, weil sie so fürchterlich zitterten. Die Tür wurde geöffnet und Betti blinzelte mir entgegen. Ihr Gesicht hatte sich mittlerweile dunkelblau verfärbt und ihr linkes Auge war nicht mehr auszumachen. Erschrocken trat sie aus der Wohnung.
„Was machst du hier?", flüsterte sie. „Wenn er dich sieht, wird er ausflippen!"
„Pack deine Sachen", sagte ich.
„Was? Nein, ich-"
„Schatz, wer ist da?", fragte Sebastian von drinnen.
„Der, ähm, Postbote", sagte Betti schnell. Sie sah mich flehend an. „Bitte, geh!"
Mein Blut rauschte mir in den Ohren. „Nein, Betti. Diesmal nicht. Pack deine Sachen."
„Er wird mich nicht gehen lassen", wandte sie ein.
Ich nahm ihr Gesicht zwischen meine Hände und küsste sie leicht auf die Stirn. „Und ich werde nicht ohne dich gehen."
Als ich mich von ihr löste, war ich überrascht über die Tränen in ihren Augen. Sie sah mich an, wie eine Verdurstende ein Glas Wasser ansah. Als hätte sie die ganze Zeit darauf gewartet, dass jemand sie aus dieser Hölle befreite, weil sie einfach keine Kraft dazu hatte. In diesem Moment wich meine Angst aus meinem Körper. Meine verkrampften Schultern lockerten sich. Es war meine Schwäche, die ihr das eingebrockt hatte und es würde meine Stärke sein, die sie retten würde.
„Ist er allein?"
Sie nickte und ein Stein fiel mir vom Herzen.
„Kannst du das tun, für mich?", fragte ich sie. „Ich schwöre dir, er wird dir nie wieder etwas tun. Lass die Tür angelehnt. Ich werde hier warten. Ruf nach mir, wenn er irgendetwas versucht und ich werde sofort da sein."
Sie nickte erneut und verschwand hinter der Tür.
Meine Hände waren feucht und ich trat nervös von einem auf das andere Bein. Nicht meinetwegen. Er hatte mir schon alles angetan. Das, was mir Sorgen bereitete war, dass er ihr wehtat.
„Was willst du mit der Tasche?", hörte ich Sebastian fragen.
„Nur ein paar Sachen, die ich schon lange wegschmeißen wollte", sagte Betti ruhig.
Ich hörte Schritte und war erleichtert, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, als Sebastian sich wieder meldete.
„Es ist Montag", knurrte er. „Es gibt keine Post." Bettis Schritte verklangen. Stattdessen hörte ich schwerere, wütende Schritte auf die Tür zukommen, vor der ich stand. Er riss sie kurzerhand auf und ich stand ihm gegenüber.
„Was willst du hier?" Er musterte mich mit einer Mischung aus Verwirrung und aufkeimender Aggression. Was ich hier wollte? Konnte er sich das nicht denken? Nachdem, was er meiner Schwester beinahe angetan hatte, dachte er immer noch, ich würde ihm einfach so Betti überlassen?
Perplex erwiderte ich seinen Blick.
Konnte es sein, dass er nicht wusste, was geschehen war? Ich schüttelte sachte den Kopf. Es tat nichts zur Sache, ob er es gewesen war oder einer seiner Freunde, der Lina Sky unter die Süßigkeiten gemischt hatte. Letztendlich war er der Puppenspieler. Er hatte ihnen freies Geleit gegeben, indem er es ihnen nicht verboten hatte.
Ich warf Betti einen beschwörenden Blick zu. „Betti, kommst du?"
Ihr ganzer Körper bebte. Sie war am Rand eines Nervenzusammebruchs, aber sie musste herauskommen. Ich wusste, wenn ich die Wohnung betrat, würde die ganze Situation eskalieren. Ich nickte ihr ermutigend zu, bevor Sebastian sich so hinstellte, dass ich sie nicht mehr sehen konnte.
„Verpiss dich!", schrie er.
Betti versuchte sich an ihm vorbeizudrücken, doch Sebastian packte sie an den Haaren und schubste sie grob zurück. Ich sah, wie sie über ihre Füße stolperte und sich den Kopf an der Wand anschlug. Das war der Moment, in dem ich Rot sah. Er hatte es geschafft. Vielleicht hätte ich die Polizei rufen sollen, doch ich war immer der Überzeugung gewesen, dass sie nichts taugte, besonders dann, wenn ich meinen Vater so ansah. Die meisten von Sebastians kleinen Freunden waren außerdem minderjährig. Sie wären in kürzester Zeit wieder aus der Klapse oder Jugendanstalt und dann wäre ich im Gefängnis und konnte weder Lina noch Betti vor ihnen beschützen. Also tat ich das, was ich am besten konnte.
Ich stürzte mich auf ihn und schlug wie besessen auf ihn ein.
Betti schrie wie am Spieß und Sebastian wehrte sich unter mir, verpasste mir einen Kinnhaken, der mich kurz Sterne sehen sah. Wir waren ein Knäuel am Boden und schlugen und traten planlos aufeinander ein. Ich war so berauscht, dass ich nicht einmal spürte, wo er mich traf. Schnell gewann ich die Oberhand.
Es war mir völlig egal, dass seine Nase mit einem grässlichen Knacken unter meiner Faust nachgab. Es war mir egal, wie er begann mich anzuflehen, von ihm abzulassen. Es war mir egal, wie sein Blut an die Wände spritzte und selbst mein Gesicht besudelte.
Nur Bettis lautes Schluchzen war mich nicht egal und riss mich aus der Trance.
Erschrocken ließ ich von Sebastian ab. Er stöhnte und hielt sich die Nase. Röchelnd drehte er sich auf die Seite. Blut tropfte von seinem Mundwinkel auf den Teppich. Seine Augenlider flatterten wild.
Was ich ihm angetan hatte, reichte nicht einmal um das zu begleichen, was er Betti jeden Tag antat oder was er Lina beinahe angetan hätte. Es kam nicht einmal annähernd an all das Leid heran, das er verursacht hatte.
Und dennoch hätte ich es niemals tun sollen.
Ich rappelte mich auf. Ohne Zweifel würde das ein Nachspiel für mich haben. Doch die Konsequenzen konnten warten, Betti und Lina nicht. Ich musste sie in Sicherheit bringen.
Betti war gegen die Wand gelehnt auf den Boden gesunken, die Hände zu beiden Seiten in den Teppich gekrallt. Ihr Gesicht war ganz nass, doch ich sah deutlich die Erleichterung in ihnen aufblitzen, als ich ihr zaghaft die Hand reichte. Zögerlich streckte sie ihre zitternden Finger danach aus. Bevor wir uns jedoch berührten, erspähte ich das ganze Blut auf meiner Hand und zog sie erschrocken zurück. Ich rieb ich meine Hände hastig über meine Jeans, doch das Blut verteilte sich dadurch nur über meine Haut und sammelte sich in kleinen Fältchen und um meine Fingernägel.
Plötzlich ekelte ich mich vor mir selbst. Wie konnte ich da von Betti erwarten, dass sie meine Hand anfasste?
Beschämt sah ich sie an. Was dachte sie nun von mir? Anstatt sie hochzuziehen, griff ich nach den Henkeln der Tasche, die neben ihr lag. Meine Hand schloss sich darum. Ich verharrte kurz in dieser Position, weil Betti zaghaft mit ihren Fingern über meine aufgeplatzten Knöchel fuhr. Ich zuckte zusammen. Es brannte zunächst, doch dann breitere sich dort, wo sie mich berührte, ein angenehmes Kribbeln aus.
„Tut es weh?", hauchte Betti.
„Nur ein bisschen", gab ich zu und lächelte sie schief an.
Sie nickte und zog sich an der Wand nach oben auf die Beine. Als sie sich vollends aufgerichtet hatte, schoss ihr Blick auf etwas hinter mir. Sie hatte nicht einmal genug Zeit, um mir eine Warnung zukommen zu lassen, doch ich sah seinen Schatten. Ich fuhr herum und Sebastian prallte gegen mich. Um ein Haar riss er mich von den Füßen, aber irgendwie schaffte ich es, meinen Halt wiederzufinden.
Mit einem Schmunzeln wich Sebastian zurück und ich fragte mich, worüber er so dumm lächelte. Ich blickte an mir hinab. Tatsächlich spürte ich den Schmerz erst ein paar Sekunden nachdem mein Verstand die Ereignisse zusammengebastelt hatte.
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