Kapitel 3 - Wahrheit
Ich wandte meinen Kopf in ihre Richtung und glaubte ihren Blick zu fangen. „Was meinst du?"
Sie zögerte. „Es ist ein... ein Frauenhaus. In Richthofen. Das ist fünfzig Kilometer von hier entfernt. Meine Freundin hat mir davon erzählt."
Fünfzig Kilometer. Würde das ausreichen? Einen Versuch war es wert. „Warum tust du es nicht?", fragte ich.
„Wir würden uns nicht mehr sehen können, Indi. Sie lassen dort keine Männer rein. Ich müsste die Schule wechseln, alles von vorn beginnen." Sie schluchzte leise. „Ich weiß einfach nicht, ob ich die Kraft dazu habe."
„Natürlich hast du sie", sagte ich ernst. „Und was mich angeht, vergiss mich einfach. Ich hab dir das alles doch erst eingebrockt."
Wir redeten nie, nie über die Vergangenheit. Ich schämte mich zu sehr für das, was ich verbrochen hatte, aber auch sie scheute sich vor diesem Thema.
„Es war nicht alles deine Schuld", sagte Betti leise. „Ja, du hättest ihm den Bullshit mit den harmlosen Tabletten nicht abkaufen sollen, aber er war damals ganz anders. Ich weiß, du hättest alles für ihn getan. Er war wie dein Bruder."
„Ich hätte sofort damit aufhören müssen, als ich es bemerkte", murmelte ich.
„Vielleicht. Aber ich verstehe dich. Dein Vater jagt selbst mir eine Heidenangst ein und ich lebe nicht mit ihm unter einem Dach. Wie lange hat Sebastian dich damit erpresst es ihm zu sagen, bis du dich schließlich geweigert hast? Vier Monate? Ich dagegen hatte immer eine Wahl. Von Anfang an. Selbst jetzt noch. Ich hätte sie niemals probieren sollen. Diese verdammte Droge. Sebastian hat uns ausgenutzt und uns gegeneinander ausgespielt. Er macht es noch heute."
Was sie genau damit meinte, entglitt meinem Verstand und ich hatte kein Verlangen danach, nachzufragen. Ich wünschte sie würde aufhören, seinen Namen zu erwähnen, denn er stand zwischen uns wie eine Wand und entfachte eine qualvolle Hilflosigkeit in mir.
„Du solltest in diesem Frauenhaus Zuflucht suchen. Tu es für mich. Bitte", sagte ich stattdessen, doch wie so oft fanden meine Worte keinen Boden.
Sie hingen kalt und tot in der Luft. Die Stille, die sich daraufhin über uns legte, war so ohrenbetäubend, dass ich die Worte am liebsten wieder eingefangen und verschluckt hätte.
Inmitten dieses bedrückenden Schweigens musste ich wohl eingeschlafen sein, auch wenn ich mich am nächsten Morgen ganz und gar nicht so fühlte. Als der Alarm meines Handys neben meinem Ohr explodierte, griff ich so hastig danach, als hätte ich die ganze Nacht nur darauf gewartet. Ich ließ meine Finger über das Display gleiten, um den Alarm abzuschalten, bevor mein Vater davon wach werden konnte. Es war besser, er schlief noch, wenn wir uns auf den Weg in die Schule machten. Nüchtern war mit ihm schon nicht gut Kirschen essen, doch wenn er einen Kater hatte, war er von einem ganz anderen Kaliber. Dann sollte man sich mit Kirschen nicht einmal in seine Nähe wagen.
Betti schlief noch, als ich ins Badezimmer stakste, um mich zu duschen. Ich beeilte mich, damit sie nicht zu lange alleine war, doch als ich zurückkam, war sie wie vom Erdboden verschluckt. Die Einsamkeit stürzte auf mich herab und trieb mir einen fahlen Geschmack auf die Zunge. Ich versuchte mich nicht hintergangen zu fühlen, konnte aber nicht verhindern, dass mein Herz mir in die Hose rutschte. Ein leises Geräusch ließ mich zusammenfahren.
Gerade noch sah ich das Display meines Handys neben dem Kleiderhaufen aufleuchten. Mit einem Satz war ich daneben und schnappte es mir. Fahrig tippte ich die Tastenkombination ein, um die Whatsapp Nachricht zu öffnen.
Ich will dir keine Probleme machen, Indi. Kümmere dich um deine Schwester. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme schon klar.
Zornig schmiss ich mein Handy aufs Bett, bevor ich mich auf die Matratze plumpsen ließ. Das Bett war noch warm. Ich starrte so lange auf das T-shirt, das ich ihr gestern gegeben hatte und das nun verwaist auf dem Bett lag, bis ich es nicht mehr ertragen konnte. Verzweifelt vergrub ich mein Gesicht in den Händen. War ich so abstoßend, dass sie lieber mit diesem Psychopathen zusammen war, als mit mir? Kurz erwog ich, ihr mit dem Auto hinterherzufahren. Sie musste zu Fuß unterwegs sein, es sei denn sie hatte noch etwas Geld für ein Busticket in ihrer Hosentasche gehabt, aber das bezweifelte ich. Was würde sie davon halten, wenn ich ihr folgte?
Bevor ich in die Verlegenheit kam, diesen Gedanken zu Ende zu denken, hörte ich leise Schritte von der Tür her. Ich schluckte meinen gebrochenen Stolz hinunter und stand auf, um in den Flur zu treten. Lina hatte sich die halbe Treppe hinuntergeschlichen, ihr Schulrucksack hing ihr über eine Schulter auf dem Rücken. Als sie mich sah, warf sie mir ein unsicheres Lächeln zu, das ich erwiderte. Ich hielt einen Finger hoch. Warte. Sie nickte kurz und ich fuhr herum, sammelte meinen Schreibblock, einen Kulli und ein paar Bücher ein, um sie in meinen Rucksack zu stopfen. Ich trat zurück in den Flur und gemeinsam schritten wir die Treppe hinunter. Ich langte nach meinen Sneakers an der Tür und atmete erleichtert auf, als wir die Haustür öffneten. Die Schuhe konnte ich mir auch im Auto anziehen.
„Dachtest du, ich kriege das nicht mit?", fragte eine dunkle Stimme hinter mir und mir wurde augenblicklich übel. Lina fuhr herum, ihr Gesicht wurde kreidebleich. Hastig öffnete ich die Tür weiter und schob sie nach draußen.
„Warte im Auto", sagte ich und drückte ihr die Schlüssel in die Hand. Ich hatte gerade noch genug Zeit, die Tür hinter ihr zu schließen, als ich bereits an den Schultern gepackt, herumgewirbelt und dagegen gedrückt wurde.
„Du kleine Ratte", zischte mein Vater. Er war vollkommen blau. Ich fragte mich, wie er heute zur Arbeit gehen wollte. Wahrscheinlich würde er sich einfach krank melden. „Hast du gedacht, ich kriege nicht mit, dass du ein Mädchen bei dir hattest? Das war doch diese Bettina gewesen, nicht wahr? Hast du ihr wieder Drogen verkauft?"
Ich schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Bernd, das habe ich nicht!"
Er packte mich am Kragen und schmetterte mich erneut gegen die Tür. Die Luft wich mir pfeifend aus den Lungen. Ich war geradezu beeindruckt, dass das Holz in meinem Rücken nicht einfach unter der Wucht des Aufpralls barst.
„Glaubst du, du könntest mich anlügen?", flüsterte er. Seine Augen blitzten gefährlich und ich hielt die Luft an, um seine Alkoholfahne nicht zu inhalieren. "Ich kenne solche Verbrecher wie dich. Jeden Tag sehe ich sie. Ich kenne ihre Tricks und wenn du mich jetzt anlügst, kannst du dein blaues Wunder erleben. Also sag mir die Wahrheit, Jules."
Wie ich diesen Namen hasste. Jules. Er erinnerte mich daran, wo ich herkam, mit wem ich in diesem Leben feststeckte wie in einem Sumpf. Mit ihm. Meinem Erzeuger. Mehr war er nicht für mich und auch er hatte keinen Anspruch auf mehr als das erhoben.
„Ich lüge dich nicht an", sagte ich laut.
Er starrte mich an, sein Blick bohrte sich durch meine Augen, hinter meine Netzhaut, als würde er versuchen, eine Lüge in meinem Kopf zu finden. Ich hielt seinem Blick stand, wenn auch meine Knie schlotterten. Ich wusste, wenn ich auch nur blinzelte, würde er das als Zeichen dafür auffassen, dass ich gelogen hatte.
„Sie sah schlimm aus. Hast du sie so zugerichtet?"
Ich würgte regelrecht.
Dass er glaubte, ich würde zu so etwas fähig sein, trieb mir die Tränen in die Augen. Ich wusste ich hatte Fehler gemacht und ich verstand, dass er sie mir nicht verzeihen konnte. Selbst ich konnte sie mir nicht verzeihen. Aber er war geisteskrank, wenn er dachte, er hatte auch nur das Recht, mich solch einer Tat zu bezichtigen. Er schlug mich windelweich, wann immer er sich danach fühlte. Seitdem er das mit dem dealen wusste, war es beinahe eine wöchentliche Routine geworden. Ich nahm es hin, weil es mir davor graute, dass er seine Wut sonst bei Lina auslassen würde.
„Nein", rang ich mir ab.
Er blinzelte. Kurz verstärkte sich sein Griff und ich dachte schon, er würde mich trotzdem schlagen, doch er gab nur ein Grunzen von sich und ließ mich los. Ich stand da wie festgefroren, während er sich umdrehte und in die Küche torkelte. Betäubt beobachtete ich, wie er eine Schublade öffnete und ein Messer herausholte. Noch immer gehorchte mein Körper mir nicht. Ich hörte etwas rascheln und dann lag ein Laib Brot auf dem Küchenbrett und er schnitt sich eine Scheibe ab. Nur ganz allmählich taute mein Gehirn wieder auf. Ich wandte mich um und öffnete die Tür, rechnete halb damit, dass er mir das Messer zwischen die Rippen jagen würde, doch er schien mich einfach vergessen zu haben.
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