𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 𝟔
Mein Herz rast in einem Tempo, das sicherlich absolut ungesund ist. Trotz der immer zu kalten Luft hier, fühle ich mich aufgeheizt und beinahe fiebrig.
"Hier entlang", sagt Leander und führt mich und Thea durch einen dieser Gänge, die mir bisher verborgen geblieben sind. Es ist dunkel und nass. Scheinbar kommen die Wände auf mich zu, als wollen sie mich erdrücken. Ich schließe einen Moment die Augen und denke an-
Ja, an was denke ich?
Würde ich an meine Eltern denken, sähe ich ihren Tod wieder einmal.
Ich versuche, mich auf die lieblichen Erinnerungen zu konzentrieren, die mir noch irgendwie im Gedächtnis geblieben sind. Die mit jeder Sekunde, die ich auf dieser Erde verweilen davonfliegen, wie die Samen einer Blüte. Ganz langsam, ohne dass ich es merke, und irgendwann vergesse ich, wie sie aussahen, ihre Stimmen und die kleinen Vertraulichkeiten.
Duftendes Gras, eine Kinderschaukel aus Holz in einem mittelgroßen Garten. Eine Stimme, die nach mir ruft, glockenhell und so furchtbar vertraut, dass mein Körper sich schmerzhaft zusammenziehen möchte. Ich versuche krampfhaft, mir ihre Gesichter vor mein geistiges Auge zu rufen, aber da ist nichts, nur verschwommene Farbe und ein leerer Fleck, Augen, die unwirklich und ausgedacht wirken. Ein Stachel reißt den kleinen Teil meines Herzen auf und erfreut sich an dem Blut, dass an ihm herabläuft.
"Pearl?", höre ich Leander sagen und tauche aus meinen, eben wiedergefundenen, Gedanken auf.
Vor mir erstreckt sich eine Tür aus Metall, wie eine Tresortür, die Verbrecher davon abhalten möchte, in ihr Inneres zu gelangen. Leander legt seine Hand auf eine freie, gekennzeichnete Stelle und mit einem leisen Klicken öffnet sich das Schloss.
Bevor ich mich über die Fortschritte der Technik freuen kann, zieht mich eine warme Hand mit sich.
Fast wäre ich über die Kante am Boden gestolpert, weil es so dunkel in diesem Raum ist. Noch nicht einmal die schemenhaften Umrisse meiner Kameraden wollen sich blicken lassen. Ich starre in die Dunkelheit und weiß noch nicht einmal, ob meine Augen geschlossen oder geöffnet sind. Eine bleierne Panik legt sich über meine Haut.
Leander bewegt sich geräuschvoll, bis er an einen Tisch schlägt. Er flucht leise vor sich hin, offenbar auf der Suche nach etwas. Mit einem Geräusch fällt die Tür ins Schloss.
Könnte man das Angst nennen?
Im Dunkeln zu stehen, ohne Licht?
Ich weiß, dass ich hier sicher bin, dass alles okay ist, jemand neben mir steht, aber die Dunkelheit ist schwerer als das Metall der Tür, erdrückender.
Irgendetwas schleicht sich meine Kehle entlang. Metallisch, rau, wie Messerspitzen die nur nach einer Stelle suchen, an der sie mich am Besten verletzten können.
Was ist, wenn Leander das Licht anmacht und vor mir eine verzerrte Fratze derer steht, die uns jagen wollen? Wenn meine Wut und meine Rachsucht endlich Gestalt angenommen haben und nur in der Schwärze vor uns wartet, meinen Körper zu zerfleischen?
"Leander?", flüstere ich in die Nacht hinein, meine Stimme zittert unmerklich, obwohl ich die größte Kraft verbrauche, dieses Zittern zu verbergen. Gerne würde ich ihn anflehen, sich zu beeilen, aber verdammt, er würde meine Schwäche bemerken, den kalten Schweiß auf meinem Nacken riechen und keiner, keiner soll sehen, wie es eigentlich um mich steht.
"Warte einen Moment", murmelt er.
Endlich, endlich erscheint das Licht. Eine funzelige Glühbirne erleuchtet an der Decke und flackert im Sekundentakt auf, aber in meinen Augen ist sie ein Geschenk. Ich brauche kurz Zeit, um mich an die Umgebung zu gewöhnen. Der Raum ist weiß. Die Wände sind schmutzig, eine verklebte Mischung aus Grau und Rotbraun. Ich möchte mich gar nicht fragen, ob das Blut sein könnte.
Mein Blick fällt auf die zwei Gestalten vor uns, gefesselt und die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden. In dieser Pose machen sie den Eindruck zweier Gefangene und nicht den eines "Besuches".
"So-"
Leander stellt sich wieder neben uns und reibt sich die Handflächen. Ich zwinge mir ein gekünsteltes Lächeln auf die Mundwinkel, aber es scheint als habe ich selbst diese Geste verlernt.
Ich weiß was folgt, weil ich schon einmal bei so etwas dabei war.
Leander, Thea und ich werden die Gedanken dieser zwei Männer lesen, nach ihren Geheimnissen Ausschau halten um ihren Geist zu prüfen. Ich taste nach der Hand, die meine hielt, aber Thea ist verschwunden.
Verärgert schaue ich Leander von der Seite an, der mit dem Kopf auf den Linken der beiden deutet und mir zu verstehen gibt, dass ich den Rechten übernehmen soll.
Bevor ich die Gedanken lese, mustere ich beide genau. Leanders Kandidat besitzt blondbraune Haare, dunkle Augen, die beinahe gerötet sind. Vielleicht hat er vor der Festnahme geweint. Ich bemerke einen feinen Zug um die Mundwinkel, der wohl im entferntesten Sinne an Lachfältchen erinnern könnte. Vereinzelte Sommersprossen lassen ihn irgendwie verspielt wirken, wobei der Rest seiner Erscheinung wunderschön ist. Ich sage es selten, aber dieser Mann ist tatsächlich schön. Die Züge wirken fein ausgearbeitet, das Haar gewaschen, nur zerzaust von der groben Behandlung unserer Wachen.
Der Rechte ist scheinbar das komplette Gegenteil des blonden Mannes. Dunkle, etwas längere Haare umrahmen sein blasses Gesicht, spöttisch verzogene Lippen und aufgerissene Fingerknöchel. Auch er ist hübsch, aber auf eine wildere Art und Weise.
"Bereit?", knurrt Leander und ich wappne mich.
Lange habe ich nicht mehr gelesen, obwohl es nicht gut ist, wenn man aus der Übung kommt. Wenn man in den Geist des anderen eindringt und geübt in dieser Tätigkeit ist, kann man ebenso bewusst falsche Sachen in ihre Gedanken einpflanzen, sie mit falschen Infos füttern. Aber da so etwas in der Regel ziemlich schmerzhaft ist, würde man es bemerken.
Ich atme tief ein und aus. Ich hasse es, ich hasse es, ich hasse es.
Das hier ist der Grund, warum meine Eltern starben, ich hier unten eingesperrt bin wie ein tollwütiges Tier, mich jeden Abend in den Schlaf weine. Mein Fluch war auch der Ihre und es ist ein zerstörerischer Fluch, der einem erst ins Blut fährt und danach alles andere um sich herum systematisch zerstört.
Unter meiner Haut prickelt es. Wie eine kleine Flamme bahnt sich etwas an, dass rauschend in mein Blut übergeht. Ich kenne dich, sagen meine Augen, als sie sich in das gegenüberliegende Paar bohren. Ich versuche, mich nur auf dieses Prickeln zu konzentrieren.
In meiner Vorstellung treibe ich es zusammen, auf einen einzigen Fleck, während meine Fingerspitzen zucken. Auf einmal ist sie da, erfüllt meine Zellen mit einer derartigen Präsenz, die mich beinahe umhaut, formt sie um, entzündet sich zu einem einzigen Feuer. Ein Blick auf den schwarzhaarigen Mann vor mir reicht, und ich sehe ihn, den Faden der Macht den ich nur herbeiziehen muss.
Langsam, wie in Trance, schließe ich die Augen und zerre an diesem Faden und tausende von ungeordneten Bildern schießen zwischen den Flammen hervor.
Er heißt Lancelo, und hinter seiner inneren Mauer lauert ein ungezügelter Schmerz. Ich lasse mich vollends in dieses Gefühl hineinfallen. Das hier ist Gedankenkontrolle, kein Lesen. Beim Lesen erfahre ich Informationen, beim Kontrollieren erlebe ich sie.
Eine Familie, abseitslebend. Keine Befürworter des Systems. Verschwommen erkenne ich den Mann, nur als kleines Kind, das sich schnell vorwärts bewegt um zu seiner Mutter zu gelangen. Ich ziehe weiter, weil dieser Teil uninteressant ist.
Was wir benötigen, sind die Geheimnisse.
Die Dinge, die hinter der Fassade lauern. Das Gefährliche, das Dunkle, dass, nachdem sich die Flamme in mir nährt und nach dem die vibrierende Macht verlangt. Ich hole tief Luft und gleite hinein in den Schmerz und das Brennen, das ihn erfüllt.
Ein toter Körper in einem verlassenen Theater. Ein Dolch des Systems steckt in der Leiche des Mädchens. Lancelo ist da, presst ihren Körper an seinen und sein Herz entflammt zu einer einzigen Feuerhölle. Als sei es meins, denn das ist es tatsächlich, hier bin ich er und fühle das, was er fühlt.
Er weint. Ganz ungehindert und ich beneide ihn beinahe um diese Fähigkeit.
Die Umgebung verdunkelt sich, einige Minuten vergehen, dann sind es Stunden. Erst, als nur noch Gefühlslosigkeit in der Luft liegt, steht Lancelo auf. Das System hat das Mädchen, seine Schwester, getötet. Er wird uns freundlich gesinnt sein, ja, vielleicht plant er ebenso Rache.
Bevor ich seinen Kopf verlasse, ziehen die Erinnerungen wie eine Kette ein zweites Mal an mir vorüber. Die Gefangennahme, das ewige Alleinsein, die Familie tot. Wir ähneln uns ziemlich.
Mit einem Ruck öffne ich die Augen und die Flamme in mir wird zu Wasser, das eiskalt aufschäumt, beinahe traurig, dass ich die Macht beendet habe, die in meinen Zellen steckt, schon seit meiner Geburt, meiner Erschaffung.
Gabe?
Fluch?
"Bei ihm ist alles okay. Ich berichte dir später", murmelt Leander mir zu, und presst sich eine Hand an den Kopf, den er sich vorhin vermutlich gestoßen hat.
Ich nicke, auch wenn es in diesem schummrigen Licht sicherlich nicht auszumachen ist.
Ob es ein Fluch ist, oder ein Segen, dass weiß ich nicht, aber es ist ein machtvolles Gefühl, tief in mir drin, dass immerzu darauf wartet, endlich entflammen zu dürfen.
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