𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 𝟏𝟎
Das Loch ist schwarz.
Ich spüre die Dunkelheit am eigenen Leibe, fühle wie sich mein gebrochener Körper um den Schmerz der Verstorbenen rankt, wie mein Herz beginnt im Viertakt zu schlagen, zu hämmern und zu schreien.
Ich falle unendlich lange.
Meine Haut streicht entlang bröckelnder Mauer, berührt Luft, Wasser, Erde, ich falle und denke nichts. Mein Kopf ist leer, so unendlich schön leer. Der Atemzug meiner Gedanken hallt heraus, fällt in sich zusammen.
Und dann ist alles weg. Ich habe geatmet und vergessen, dass ich nicht mehr existiere.
Ich habe Schmerz gespürt und mich erst später daran erinnert, dass ich gar nichts spüren kann.
Deshalb bin ich noch hier.
Weil ich es will.
***
"Pearl?"
Eine Stimme tanzt den Weg entlang, bahnt sich eine Laufbahn zwischen Blumen, Sonne und blauem Himmel. Hier ist es so friedlich. Hätte ich es gewusst, wäre ich schon lange aufgebrochen.
"Pearl!"
Lasst mich, lasst mich alle in Ruhe. Ich spüre, wie Hände an mir ziehen, wie Wortfetzten vor meinem Geist auf und ablaufen, wie Augenpaare sich in meinen Rücken brennen. Meine kleine, bunte, friedvolle Welt wird aufgerissen, brutal und hart zerstört.
Eisige Kälte empfängt mich, tiefschwarze Nacht, getrübt von bitteren Tränen. Ich höre ein Rauschen, dass immer lauter wird, zu einem Orkan anschwillt und eine Welle des Empfindens bricht über mir zusammen, bringt mich zurück an den kaputten Ort.
Meine Hand zuckt, als ein Schauer durch meine Adern zischt. Gespitzte Messer fahren meine Nervenbahnen entlang, setzten weißglühenden Schmerz frei, der sich impulsiv durch meinen Körper erstreckt.
Ich schlage die Augen auf.
Verschwommene Umrisse schwanken durch mein Ansichtsfeld.
Starke Arme berühren vorsichtig meine Hüfte, als könne ich zerbrechen, der Boden unter mir wankt, als mich jemand hochhebt.
Ein Laut bildetet sich in meiner Kehle und entweicht meinen Lippen, rote Punkte schießen blindwütig auf die Umgebung ein, Schlangen winden sich durch meine Eingeweide und reißen mich mit Gewalt auseinander. Ich keuche auf, spüre wie ich mich zusammenkrampfe, bemerke das Blut, dass aus den Wunden fließt.
"Pssst", höre ich die beruhigende Stimme an meinem Ohr, die Worte drängen sich in meinen leeren Kopf und bringen mein Herz zum Schlagen.
"Wenn du dich weniger bewegst, tut es weniger weh."
Es fühlt sich an, als würde eine eisige Klaue mit gespitzten Krallen ganz sanft über mein Rückgrat streicheln, mir mit verdammter Sicherheit vermitteln, dass der Tod mit seiner Sense immer noch unter uns weilt. Ich spüre seinen kalten Atem, welcher in meine Zellen dringt wie der gehauchte Luftzug eines Novembermorgens.
"Was ist los?", frage ich, erschrecke über den rauen Unterton, der mit meinen Worten mitschwingt, über das schwache Zittern, versteckt zwischen geflüsterten Sätzen.
"Ganz ruhig."
Es ist der Junge mit den Augen aus zerbrochenen Diamanten.
Sein Gang ist furchtbar unruhig. Flucht- dieses Wort schießt mir durch den Kopf, schlängelt sich einen Weg hinaus, bis meine ganzen Gedanken nur noch von dieser Vermutung erfüllt sind.
Mit einer langsamen Bewegung vermittele ich ihm, dass er mich runter lassen soll.
Seine Arme lösen sich von meinem Körper, und ich ziehe schmerzerfüllt die Luft ein, als die Umgebung schwankend auf mich zu kommt, erst dann erreiche ich den Erdboden.
***
Mein Kopf hämmert.
Ich sitze mit zurückgelegtem Kopf an irgendein Stück Holz gelehnt und versuche, den Schwindel von den aufkommenden Gedanken zu trennen.
Explosionen.
Nachhallende Rufe, Menschenmünder die sich bewegen, um mit der letzten Kraft ihres verklungenen Lebens zum Himmel zu schreien und nach Erlösung betteln.
Blut, so unendlich viel. Rot und rot und rot. Dunkelrot. Hellrot.
Im selben Moment kniet sich ein Mensch neben mich nieder. Adrian. Er muss mich aus den Trümmern der eingestürzten Wand gezogen haben, nachdem die Bombe explodiert ist. Ich würde mich gerne bedanken, aber der besorgte Ausdruck seines hübschen Gesichtes weckt eine tiefverankerte Angst in mir.
Mein Bein brennt, als würden sich Höllenfeuer an mir zu schaffen machen. Ich beuge mich etwas vor und sehe die handgroße, hässliche Fleischwunde an meinem Oberschenkel. Zwischen Hautfetzen und Gewebe erkenne ich das weiße Schimmern eines Knochens.
Übelkeit sickert durch meinen Magen.
"Hilf mir", flüstere ich, spüre wie Panik meinen Kopf vernebelt. Adrenalin verrauscht, verklingt und der Nachhall nackten Schmerzes macht sich in mir breit. Oh Gott.
"Hey, schau mich an!"
Tränen bahnen sich ihren eigenen Weg über meine verrußte Haut und hinterlassen helle Spuren.
Ich gehorche seinem Befehl. Schaue in seine grüne Augen und erkenne die selbe Angst, die auch in mir festsetzt. Nackte Angst. Angst um sein eigenes Leben, Angst davor von einer Bombe zerfetzt zu werden oder den Tod durch eine Kugel im Kopf zu finden.
"Wir schaffen das."
Er sieht nicht viel besser aus als ich. Seine Haare sind dunkel von der Asche, das Hemd ist an einer Seite aufgerissen und enthüllt eine langgezogene Wunde an seinem Arm, in der noch Granatensplitter stecken.
"Ganz ruhig", sagt er, eine Spur bestimmter, als sich meine Sicht verschlechtert. Mit der gesunden Hand hebt er mein Kinn, ich spüre wie die Bewusstlosigkeit langsam aus meinen Knochen verschwindet.
Was ich sehe ist schrecklich.
Die ganze Luft stinkt nach Verderben.
Alles ist zerstört.
Wo früher Kinder durch Gänge liefen, liegen jetzt Leichen. Alles ist voll Toter.
Trümmer versperren die Ausgänge, der blaue Schein des Himmels blitzt zwischen Bombenlöchern hervor.
Eiskalte Realisation sickert aus mir heraus.
"Adrian?"
Seine Augen starren mich an, mit einer wilden Entschlossenheit die Feuer unter meiner Haut freisetzt.
"Sie sind gekommen, nicht wahr?"
Das System hat uns gefunden.
Mein Herz hämmert fast schmerzhaft gegen meine Brust.
"Ja, sie haben uns gefunden. Wir sind auf der Flucht. Bald werden ihre Soldaten kommen und alles und jeden vernichten. Bis auf den letzten Leser werden sie jeden abknallen oder foltern, und das ohne den Hauch eines schlechten Gewissens. 'Den Bunker' gibt es nicht mehr. Unsere Welt ist Asche, Pearl."
Asche.
Ich brenne.
Mit einer Hand greife ich nach Adrians ausgestreckter Hand, spüre meine Beine, spüre meinen Körper, spüre das Feuer, dass in mir wütet und mein Herz zerfrisst.
Blut rinnt an meiner nackten Haut herab, tropft auf den Boden und versickert in der Erde.
Ich stehe und ich lebe.
Und ich werde kämpfen, bis die letzte Flamme erloschen ist.
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