∎ 𝐅𝐥𝐮𝐜𝐡𝐭
"Ann!", drang dumpf mein Name in mein Bewusstsein. Ja, es war mein Name. So hatte mich dieser Ruf, voller Angst und Sorge, wieder daran erinnert, wer ich war. Ich wollte reagieren, etwas erwidern, um Hilfe schreien, doch mehr als zu erstickten Schluchzern war ich nicht im Stande. Der Schlag des Gürtels hatte einen brennenden Streifen auf meinem Rücken verursacht, hinderte mich daran, mich umzudrehen und nachzuschauen, wer mich rief, wer sich Sorgen um mich machte. Der Mann mit dem Gürtel, der wahrscheinlich schon versucht war, ein zweites Mal auszuholen, konnte es unmöglich sein. Seine Stimme hatte sich nicht nur anders angehört, auch würde er sich nie um mein Wohlbefinden kümmern wollen, so wie diese Stimme es allem Anschein nach tat.
Der zweite Hieb auf mein bereits zerbrochenes Ich, ließ lange auf sich warten. Dafür griffen zwei Hände nach meinen Schultern und zogen mich auf den Rücken. Die Stelle, die schon so schmerzhaft brannte, wurde auf das weiße Bettlacken gedrückt, hinterließ vermutlich rote Blutflecken darauf. Zu meinem Erstaunen ließ der Schmerz ebenfalls lange auf sich warten. Er kam gar nicht. Auch nicht, als ich heftig geschüttelt wurde.
"Wach auf, Ann!", hörte ich die Stimme jetzt klarer. Meine Augen erblickten etwas über mir; einen unscharfen Kopf mit dunklen Haaren, die unordentlich in meine Richtung abstanden. Allmählich klärte sich nicht nur mein Blick, sondern auch mein Verstand. Aufwachen? Ich hatte nur geträumt? Hoffnungsvoll sah ich in das Gesicht meines vermeintlichen Retters. Ein Ruck durchfuhr mich. Wie ein Fisch, der an die Oberfläche schießt, um sich eine Fliege zu schnappen und dann wieder vor den Vögeln in die Tiefen des Meeres flüchtet, schoss auch ich nach oben. Stürmisch warf ich mich ihm um den Hals, umklammerte ihn, als wäre er tot, dabei lebte er. Leander lebte!
"Alles gut", versuchte er mich zu beruhigen, als ich ihn zu erdrücken drohte. Seine Arme schlossen sich um mich. Gleichzeitig umfing mein Herz eine nie zuvor gekannte Wärme. Er konnte mich doch wieder in seine Arme schließen, mich doch wieder zu beruhigen versuchen. Überglücklich vergrub ich mein Gesicht in seinen verstrubbelten Haaren.
"Du lebst!", seufzte ich. Zu mehr war ich nicht im Stande.
"Natürlich", versicherte er mir, drückte mich noch etwas fester an sich. Er schien gar nicht fragen zu brauchen, ob ich schlecht geträumt hatte, er wusste es, schien nicht einmal überrascht darüber, nicht nachdem ich diese Filmszene gesehen hatte.
"Lass mich nie wieder los!", forderte ich in seine Haare nuschelnd.
"Nie wieder." Die Erleichterung war so unfassbar unreal, dass ich mehrere Minuten brauchte, bis ich endgültig aus dem schlimmsten meiner Albträume erwacht war. Es dauerte ein paar weitere Minuten, dann endlich legten wir uns wieder hin. Zwar schwor ich mir, diese Nacht nicht wieder einzuschlafen, um erneute Träume zu vermeiden, doch Leanders Wärme und seine beschützende Umarmung schläferten mich binnen kürzester Zeit ein. Ich fiel in einen leichten, aber glücklicher Weise traumfreien Schlaf.
Doch lange hielt mein Glück, meinem Körper diese Nacht wenigstens etwas Erholung gönnen zu können, nicht an. Nach etwas weniger als einer halben Stunde lag ich schon wieder wach. Leander, der mich von hinten mit einem Arm umschlang, schlief schon wieder tief und fest. So nutzte ich die übrige Zeit, mich mit meinem Traum zu beschäftigen, da ich sowieso nicht weiterschlafen konnte.
Der muskulöse Mann mit dem Gürtel war ohne Zweifel der Mann aus der Filmszene gewesen. Nicht nur die schwarze Kleidung und der braune Ledergürtel passten zu ihm, auch seine schweren Arbeitsschuhe waren die gleichen gewesen. Im Film hatte er zwar nur neben dem Bett gestanden, auf dem die Frau zusammengekauert gehockt hatte, wie ein Häufchen Elend, dass sich nichts als ewige Ruhe wünschte, und war der Frau nicht so nah gekommen wie mir, aber er war es ganz gewiss gewesen. Dass das Bettlaken in Wirklichkeit, im Traum und im Film weiß war, konnte Zufall sein. Unbewusst strich ich über eben jenes. Es warf große Falten dort, wo ich bis eben noch gelegen hatte, bevor ich auf Leanders Seite gekrochen war, um in seiner Nähe einschlafen zu können. Doch Blutspuren waren nicht erkennbar. Wie denn auch? Ich hatte schließlich nur geträumt.
So viele Gemeinsamkeiten wie sich finden ließen, mindestens genauso viele Unterschiede entdeckte ich, je öfter ich den Traum wieder und wieder in meinem Kopf durchspielte: Zum Beispiel waren im Film nur zwei Personen zu sehen gewesen. Leander, oder der Mann der Frau, war im Film nicht aufgetaucht. Erst dadurch war der Traum wirklich realistisch geworden. Alles andere, so fiel mir jetzt auf, war völlig unlogisch. Warum sollte der Mann an die Decke deuten, um mich ablenken zu wollen? Er hatte es schließlich auch nicht im Film getan. Außerdem wäre es völlig egal gewesen, ob er an die Decke gezeigt hätte oder ob nicht.
Bald schon rauchte mir der Kopf vor lauter Überlegungen. Jetzt konnte ich erst recht nicht mehr schlafen!
Seufzend wanderte mein Blick durch den langsam erhellenden Raum. Die Sonne schien bereits aufzugehen. Da es Sommer war, musste es dennoch früh am Morgen sein. Mein Kissen versperrte mir den Blick auf den Wecker auf meinem Nachttisch. Wo hatte der Mann hingezeigt? Kurz musste ich überlegen. Dann sah ich an die Decke über dem Fenster. Dorthin hatte sein Finger gedeutet, aber warum?
Vermutlich zerbrach ich mir völlig umsonst den Kopf. Sicherlich war diese Aktion nur so ein Moment, der ausschließlich in Träumen passieren konnte, um dem Schlafenden zu sagen:
"Du, Dummerchen, träumst doch nur! In Wirklichkeit würde nichts von all dem hier auch nur im Entferntesten Sinn ergeben."
Hatte ich einfach nur verpennt, dass der unschlüssige Inhalt meines Traums mich davor warnen wollte, mich zu sehr vor ihm zu erschrecken oder hatte er doch etwas zu bedeuten?
Was ein Quatsch! Er war völlig unbedeutend, nur aus der Furcht vor der Filmszene entstanden.
Aus Erschöpfung der recht schlaflosen Nacht ließ ich meine Augenlider zufallen. Direkt sah ich den Fremden, öffnete meine Augen wieder. Seufzend setzte ich mich auf, um möglichst geräuschlos aus dem Schlafzimmer zu schleichen. Wieder stand ich in dem Flur, der mir die Entscheidung zwischen Küche, Wohnzimmer und meinem Arbeitszimmer abverlangte. Müde rieb ich mir die vermutlich geröteten Augen und blieb erneut seufzend stehen.
Unentschlossen wankte ich schlaftrunken, gleichzeitig hellwach und unfähig erneut zur Ruhe zu kommen, den Flur entlang, um mich schlussendlich im völlig abgedunkelten Esszimmer rechts neben der Küche auf einen Stuhl fallen zu lassen. Nur die Deckenleuchte, die ich im Flur angeschaltet hatte, wies mir den Weg am Tisch vorbei und auf einen Stuhl zu. Den schweren Kopf in beide Hände gestützt starrte ich zum Fenster hinaus. Doch der heruntergelassene Rollladen ließ nicht einen Lichtstrahl der Straßenlaternen zu mir durch. Stattdessen konnte ich eine völlig fertige Frau erkennen; mittelgroß, lange, strubbelige, dunkelbraune Haare, müde, grüne Augen in einem viel zu großem Shirt.
Das Shirt, welches in meinem Traum noch von dem bekannten Fremden zerrissen worden war, fiel noch unversehrt über meine Schultern, verdeckte die Gänsehaut, die mir über den Körper lief, sobald ich wieder an ihn, den Film und meinen Traum zurückdachte. So einen realen Traum hatte ich noch nie geträumt. Noch nie hatte ich überhaupt Schmerzen gehabt, geschweige denn, solche, die mich selbst das natürlichste der Welt, meinen Namen, hatten vergessen lassen, mein Herz in meiner Brust rasen spüren, Tränen, die heißer nicht sein konnten, über meine Haut rollen fühlen können, wie Perlen aus Feuer, und Trauer empfunden, die mich beinah jetzt noch entzwei zu reißen drohte.
Ohne darüber nachzudenken, führten meine Schritte mich plötzlich in die Küche, wo meine Hand nach meinem Handy griff. Erst als meine Finger es entsperrt und WhatsApp geöffnet hatten, realisierte ich, was ich gerade tat. Mein Finger schwebte über einer Nachricht, die ich David schicken wollte:
╭-------------------------------------------------------------------------------------Du╮
Hast du noch mal Zeit für ein eher etwas unberufliches Treffen? ^^ Ich hab zwar auch ein neues Buch angefangen (Sei mir bitte nicht böse! Ich weiß, dass ich erst alte Geschichten zu Ende bringen muss), aber vielleicht können wir ja auch noch mal über Anderes als meine Rechtschreibung und Sonstiges reden. <3
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Ach, warum auch nicht? Und ich schickte meinem besten Freund und Lektor die Nachricht. Völlig unerwartet rutschte fast augenblicklich sein Kontaktname ein Stück nach oben und machte dem online- Schriftzug Platz, der sich schnell in ein schreibt... änderte.
╭David----------------------------------------------------------------------------------╮
Schon wieder etwas Neues?! O.o Das Thema hatten wir doch schon etliche Male...
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Noch bevor ich hatte protestieren können, erschien die nächste Nachricht:
╭David----------------------------------------------------------------------------------╮
Aber da deine Ideen bis jetzt alle Potenzial hatten, lass ich es dir noch mal durchgehen. Und ja; ich hätte Zeit. <3 Am besten schon jetzt. :D
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╭-------------------------------------------------------------------------------------Du╮
Da bin ich aber beruhigt! Was bist du überhaupt schon so früh wach? Es ist doch gerade einmal fünf Uhr XD.
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╭David----------------------------------------------------------------------------------╮
Tja, der frühe Vogel fängt den Wurm! Außerdem könnte ich dich das Gleiche fragen. XD
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╭-----------------------------------------------------------------------------Du╮
Sagt der Langschläfer schlechthin? Kann nicht mehr schlafen.
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╭David-------------------------------╮
Lass mich doch! Dito übrigens.
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╭-------------------------------------Du╮
Soll ich dann vorbeikommen? :]
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╭David----------------------------------------------------------╮
Klaro, bin aber noch nicht einmal umgezogen... .~.
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╭-------------------------------------------------------------------------------------Du╮
Typisch! Ich aber auch nicht. Und das wird sich auch nicht ändern, sonst wecke ich Leander auf.
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╭David----------------------------------------------------------------╮
XD Dann komm halt so, hab ich kein Problem mit. :]
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╭-------------Du╮
Bis gleich! <3
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Ohne auf eine Antwort zu warten, packte ich meinem Laptop, meine unsortierten Notizzettel, mein Handy, den Autoschlüssel ein und streifte mir meine Laufschuhe und eine Jacke über. So fuhr ich den kurzen Weg zu David dem Sonnenaufgang entgegen.
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