Kapitel 1 - Mascara und Champagner
BOOM!
Mein Tablett fiel mir aus meinen Händen und lauter Gläser fielen zu Boden. Der Champagner verbreitete sich im ganzen vorderen Flur, vermischte sich mit dem klebrigen Boden, der nach altem Bier und Putzmittel roch. Ein beißender Geruch von verbranntem Fett hing in der Luft, das von der Küche aus langsam in den Gastraum zog. Meine Hände fingen an zu zittern, während ich die Scherben langsam wieder aufhob, denn das war nicht das erste Mal heute. Ich hatte heute schon drei ganze Male mein Tablett nicht unter Kontrolle, da ich ständig mein Gleichgewicht verloren habe. Heute fiel mir auch ein Glas Weizenbier auf einen Gast, woraufhin sein ganzes Hemd anfing zu schäumen, und es war mir unglaublich peinlich. Sonst hatte ich es doch immer drauf? Dass ich mein Gleichgewicht verlor, kam so gut wie nie zustande und jetzt plötzlich das? Alles fing heute Morgen an – ein älterer Mann hatte sich mehrere Male bei meinem Chef beschwert über mein Verhalten und dass ich mal öfter lächeln sollte. Er sollte sich was schämen, was hatte er bitte zu bestimmen, wann ich lächeln sollte und wann nicht? Mein Job war es, zu kellnern und höflich zu sein, und diesen Job habe ich sehr wohl getan. Seitdem fühlte ich mich einfach nur gestresst und wollte hier weg. Ich hörte meinen Chef schnaufen. Oh nein, was kam jetzt?
"Sienna, verdammt noch einmal, wie oft denn noch? Haben die anderen zwei Male denn nicht schon gereicht? Heute machst du genug Minus, nicht mal dein Lohn lohnt sich heute noch. Erstmal die Gläser, dann der Inhalt in ihnen und dann noch das Hemd von dem Herrn."
"Entschuldige, aber–", fing ich an, doch er unterbrach mich. "Nichts aber, es ist dein Minus, das du machst, nicht meins, ha ha ha!", lachte er schallend. Sein Atem war eine Mischung aus kaltem Kaffee, Zigarettenrauch und Knoblauch. Ich unterdrückte einen Würgereiz und nickte nur, brachte das Tablett voller Scherben zurück zur Theke und lief schnell, nachdem er wegschaute, in das Frauen-WC, um mich kurz frisch zu machen. Ich ging in eine Kabine, um mich ganz kurz hinsetzen zu können. Mir kamen Tränen, obwohl ich versuchte, sie zu unterdrücken. Ich hörte die WC-Tür auf- und zugehen und versuchte, keinen Laut von mir zu geben, damit man nicht hören würde, dass ich weinte. Denn das würde meinem Chef überhaupt nicht gefallen, wenn er das hören würde. Ich hörte das Schloss zugehen nebenan in der Kabine. Ich nahm etwas Toilettenpapier und wischte mir damit meine Tränen von der Wange. Nun war ich mir sicher, man sah mir nicht an, dass ich geweint hatte. Halbwegs sicher ging ich aus der Kabine zum Waschbecken. Ich schaute in den Spiegel und–
Oh Shit. Ich hatte vergessen, dass ich meine Wimpern ja noch geschminkt hatte! Nun war mein ganzes Gesicht voller Mascara, schwarze Streifen zogen sich über meine Wangen, und ich fühlte mich einfach nur noch schrecklich. Wie sollte ich hier noch rauskommen, ohne dass man sehen würde, dass ich geweint habe? Vor allem bekommt man diese wasserfeste Mascara nur mit Abschminkwasser weg. Ich hatte absolut keine Ahnung, wieso meine Tränen das Ganze verschmiert hatten. Noch übler wurde mir, als ich eine Frau hinter mir im Spiegel erkannte. Sie trat aus der Kabine, schaute mich schief an und ging langsam auf mich zu. Ein leichter, süßer Duft von Vanille und Rosen umgab sie – ein starker Kontrast zu der abgestandenen Luft des Restaurants.
Ich realisierte, dass sie jederzeit meinem Chef sagen könnte, dass eine seiner Mitarbeiterinnen weinte wegen seiner Ansprache, die er bezüglich ihr hielt. Also zwang ich mir das beste Lächeln auf, das ich in dem Moment von mir geben konnte ... jedoch glaube ich, dass es eher als das "seltsamste Lächeln" betitelt werden konnte.
"Alles in Ordnung, Schätzchen?", fragte die alte Dame mich lieb. "Ja klar, alles in Ordnung!", gab ich so halb-selbstbewusst von mir. "Hmm ...", gab sie nachdenklich von sich. "Nein, nein, ich fragte ja nur, weil Sie so niedergeschlagen aussehen, werte junge Frau."
Ich wusste nicht wieso, aber mir kamen in diesem Moment alle Tränen, die ich die ganze Zeit über unterdrückt hatte, und es fühlte sich auf der einen Seite unglaublich erleichternd an und auf der anderen Seite hatte ich vollkommen Angst, was jetzt passieren würde. "Es tut mir leid.", kam es wimmernd von mir. "Oh nein, Schätzchen, Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen, mein Gott ... Wieso entschuldigen Sie sich denn nur?", sie umarmte mich fest und warm, und ich erwiderte ihre Umarmung, weil ich sie irgendwie ... so sehr brauchte.
Wieso ich mich entschuldigte? Ich weiß es nicht.
Sie unterbrach die Umarmung und zog ein Stück Handpapier, worauf sie irgendwas schrieb und mir daraufhin in die Hand drückte. "Ich muss nun leider los. Wenn du reden möchtest oder du jemanden brauchst, dann meldest du dich über diese Nummer." Sie zeigte mit ihrem Zeigefinger auf das Stück Papier. Ich nickte aus Reflex und sie verschwand schnell.
Was war das gerade?
"Sienna?!", hörte ich die empörte Stimme meines Chefs, und ich zuckte auf.
Ich überlegte nicht lange, steckte das Stück Handpapier in meine Hosentasche, ging zum Waschbecken, nahm Handseife und wusch mein komplettes Gesicht. Und wie es brannte! Zügig trocknete ich alles ab und begab mich wieder ins Restaurant. Und bevor ich überhaupt hinter mir die Tür drückte, sah ich meinen Chef mit verschränkten Armen dastehen. "So lange kackt kein Mensch, Sienna! Auf zur Arbeit!" Ich nickte nur und machte, was er sagte.
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