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Minute um Minute verstreicht. Ich hocke nach wie vor auf dem Balkon, halb liegend, halb sitzend. Obwohl ich mit aller Kraft meines Körpers versuche, die Tränen in den Griff zu bekommen, wollen sie nicht versiegen.
Irgendwann höre ich Schritte, die sich auf mich zu bewegen. Im ersten Moment fürchte ich, dass es Cato ist, doch dann legt sich eine warme Hand auf meine Schulter und ich realisiere, dass es sich um Marina handelt.
Wer sonst würde mir auch freundlich entgegentreten? Nebst Thea hatte mir nun auch Cato mehr oder weniger ins Gesicht gesagt, wie schlecht meine Chancen auf einen Sieg stehen. Wie ich sie beide verabscheue.
Ihr werdet euer blaues Wunder erleben.
„Was ist passiert?", will Marina wissen. Ich hebe langsam den Kopf. In ihren dunkelbraunen Augen spiegelt sich eine Mischung zwischen Neugier und Besorgnis.
Ich zucke mit den Schultern und ringe mir ein Lächeln ab. „Das Übliche", sage ich resigniert.
„Ich wollte mit dir sprechen, habe dich allerdings nicht gefunden, als ich in deinem Zimmer nachgeschaut habe. Dafür ist mir auf dem Weg Cato entgegengekommen", erzählt Marina. „Er wirkte aufgelöst, hat irgendwas von einem Balkon gefaselt, als ich mich bei ihm nach dir erkundigt habe. Ach, und er hat sich übrigens nach dem Training entschuldigt."
Marina setzt sich mir gegenüber auf den kalten Marmorboden. Fragend hebt sie eine Braue.
Erneut zucke ich mit den Schultern. Tief in meinem Inneren will ich Marina von der Sache zwischen Cato und mir erzählen, doch etwas anderes, stärkeres sträubt sich dagegen.
„Wirke ich auf dich in eifersüchtig?", frage ich stattdessen. Marinas Miene nach lässt sich daraf schliessen, dass sie eine extrem gute Auffassungsgabe besitzt. Ich sehe, wie sie im Bruchteil weniger Sekunden eins und eins zusammengezählt hat.
„Verstehe", sagt sie. Ihre Arm liegt noch immer auf meiner Schulter. „Ich denke, du bist in erster Linie ängstlich. Es ist kein Geheimnis das Cato der Stärkste ist; zumindest wenn wir nach physischer Körperkraft bewerten. Wer seinen Schutz hat, wird nachts mit ziemlicher Sicherheit nicht abgestochen."
„Das klingt erbärmlich", schnaube ich.
Marina schnalzt mit der Zunge. „Wovor fürchtest du dich, Clove? Nicht Eifersucht treibt dich in den Wahnsinn, sondern Angst."
Vielleicht ist an dem, was Marina sagt, ein Fünkchen Wahrheit dran. Vielleicht fürchte ich mich tatsächlich.
„Weißt du", beginne ich, „Es ist nicht einfach. Möglicherweise habe ich Angst davor zu sterben. Wenn ich mich mit euch vergleiche bin ich ein Nichts. Das Einzige, das ich kann, ist, Messer durch die Gegend zu schmeissen."
Marina kichert. „Das stimmt doch nicht. Ausserdem ist es völlig in Ordnung Angst zu haben. Negative Gefühle verleiten den Menschen viel eher dazu, den Säbelzahntiger zu bemerken, bevor dieser einem aufgespiesst und zu Frühstück verarbeitet hat."
„Wie war das?" Obwohl ich überhaupt nicht in Stimmung bin, amüsiert mich diese Aussage.
„Schon gut, das musst du nicht verstehen." Marina grinst. Sie blickt eine Weile auf ihre Fingernägel, dann sagt sie: „Ich habe auch Angst, weißt du. Sobald es um den Sieg geht, werde ich die Erste sein, die von der Bildfläche verschwindet. So einfach ist das."
Eine Weile sagt niemand etwas. Dann lege ich meinen Arm ebenfalls um ihre Schultern.
„Nein", sage ich entschlossen. „Das wird nicht geschehen. Wenn, dann lassen wir uns beide zusammen abmurksen."
„Oder wir kommen den anderen Vollpfosten einfach zuvor und murksen sie gemeinsam im Schlaf ab."
„So richtig hinterhältig?"
„Auf jeden Fall, sonst ist es ja nicht lustig."
Trotz der Widersinnigkeit dieser Worte muss ich lachen. Es ist ein echtes, richtiges Lachen.
„Ich habe eine Idee!", sage ich, als wir uns wieder eingekriegt haben. „Wir schliessen einen Pakt."
„Einen Pakt?", Marina sieht mich neugierig an. „Was für einen Pakt?"
„Wenn, von uns abgesehen, nur noch fünf andere Tribute übrig sind, hauen wir ab. Wir lösen das Bündnis mit Cato, Marvel und Glimmer sozusagen auf", unterbreite ich ihr meinen Vorschlag.
Marinas Augen beginnen zu funkeln. „Abgemacht", sagt sie begeistert. Ihre Miene verdüstert sich jedoch. „Schade, dabei habe ich mich fast darauf gefreut, sie im Schlaf zu meucheln. Ich bin mir sicher, dass das unseren Zusammenhalt erheblich gestärkt hätte. Du weißt schon, gemeinsame Erinnerungen sammeln und der ganze Krams."
„Du machst mir Angst", erwiderte ich, jedoch mehr im Spaß, als dass ich es wirklich ernst meine. Marina grinst zur Antwort.
„Richtig furchteinflößend bin ich, was?"
Ein gedämpftes Klopfen an der Zimmertür lässt uns innehalten.
Ich seufze. „Das wird wohl Enanda sein, die zum gemeinsamen Essen ruft."
Marian wirft einen kurzen Blick auf die Uhr, die im Zimmer hängt und glücklicherweise auch vom Balkon aus gut zu sehen ist.
„Ich sollte mich auch auf den Weg machen", sagt sie und unarmt mich herzhaft.
Mit einem letzten, aufmunternden Lächeln eilt sie aus dem Zimmer. Ich blicke ihr nach, bis die Tür hinter ihr wieder zuschlägt, dann richte ich den Blick erneut auf das Kapitol, das ich vom Balkon aus gut erkennen kann.
Kaum zwanzig Minuten später sitze ich frisch geduscht und umgezogen im Speisesaal. Obwohl Brutus mich nicht sehr freundlich begrüsst hat, als ich viel zu spät erschienen bin, entspannt sich die Stimmung rasch und ich bin erleichtert, dass die Konversationen hauptsächlich von Cato, Brutus und Emanda getragen werden. Thea wirft mir immer wieder verstohlene Blicke zu, doch ich ignoriere sie.
Eine Weile stochere ich lustlos in meinem Essen herum und bin gedanklich nur halbwegs am Gespräch beteiligt, bis Cato den Vorfall mit dem Jungen aus Distrikt 6 aufgreift.
„Dieser Hundesohn hat sich mein Messer unter den Nagel gerissen und es dann eiskalt abgestritten."
„Ich hoffe du hast ihm einen ordentlichen Denkzettel verpasst", sagt Brutus ernst.
Cato grinst. „Natürlich habe ich das. Und in der Arena töte ich ihn zuerst."
Brutus nickt zufrieden und ich pruste in meinen Spinat. Obwohl ich taktvoll genug bin, den unkontrollierten Ausbruch mit einem Hustenanfall zu kaschieren, heften sich sofort alle Blick auf mich.
„Clove, Liebes, ist bei dir alles in Ordnung?", fragt Theadora mit zuckersüsser Stimme.
Ich nicke und stehe auf. „Wenn ihr mich entschuldigt, ich fühle mich etwas unwohl."
Thea hebt eine Augenbraue. „Na dann ruh dich gut aus. Soll ich jemanden nach dir schicken lassen?"
Rasch schüttle ich den Kopf. Als ich aus dem Esszimmer stürme, fange ich Catos Blick auf, der mich mit seinen blauen Augen anfunkelt.
Als ich schliesslich in meinem wohlig weichen Bett liege, kommt mir der Gedanke, dass ich meinem Distriktpartner vor den Mentoren und Emanda hätte blossstellen können. Brutus wäre alles andere als begeistert gewesen, wenn ich ihm gesagt hätte, dass die kleine Rue Cato an der Nase herumgeführt hat und nicht der stämmige Junge aus Distrikt 6.
Trotzdem habe ich es nicht getan und dieses kleine, aber ausschlaggebende Detail für mich gehalten. Ich war sogar höflich genug, das Prusten in einen Hustenanfall zu verwandeln. Ich versuche mir eine passable Erklärung zu geben, weshalb ich das getan habe.
Irgendwann übermannt mich der Schlaf und ich habe immer noch keine Antwort dafür.
Der Countdown läuft, noch zehn Sekunden.
Wo sind die anderen?
Ich blicke mich um, da stehen sie, mehrere Tribute weiter links und rechts. Ich schweife über die Reihen der Tribute, um Glimmer ausfindig zu machen, doch ehe ich erfolgreich bin, erklingt der Gong. Ich renne los und schnappe mir sofort ein Messer.
Plötzlich stehe ich allein da. Nur die anderen Karrieros füllen den Platz vor dem Füllhorn.
Ich erkenne wie Glimmer mit einem Messer in der Hand auf Marina zurennt. Panik erfüllt mich, ich schreie Marina zu, dass sie aufpassen soll. Ich schreie so laut ich nur kann und doch ignorieren sie mich. Marina bricht zusammen, als Glimmer ihr mit einem Messer die Kehle durchschneidet. Ich schreie erneut, doch sie hören mich immer noch nicht.
Erfüllt von Wut und Trauer stürze ich auf Glimmer zu, bereit, ihr mein Messer in den schönen Hals zu stossen. Doch dazu komme ich nicht, denn Cato stellt sich beschützend vor sie und versperrt mir damit den Weg.
Im nächsten Moment spüre ich einen stechenden Schmerz in der Magengrube. Ich senke langsam den Blick und bemerke das Schwert, dass sich in meinen Bauch gebohrt hat. Dann hebe ich den Kopf. Catos Miene ist so kalt, dass ich keine Emotion darin ablesen kann. Ich sehe nur die kristallblauen Augen.
Mit einem Ruck zieht er das Schwert aus meinem Körper. „Stirb, Clove. Stirb", flüstert er und für einen Moment hört sich seine Stimme fast traurig an. „Ich liebe sie. Nicht dich."
Ich sinke zu Boden und sehe nur noch, wie Glimmer ihre Arme um Catos Nacken schlägt und ihre Lippen auf seine drückt.
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