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Zögerlich lasse ich mich neben sie auf das Plüschsofa fallen. Was will sie jetzt?
„Allen voran empfange ich es, wenn wir uns darauf einigen, ehrlich miteinander zu sein. Ich bin deine Mentorin, du brauchst mich, wenn du diese Arena lebend verlassen willst", beginnt sie. Ihre Augen leuchten. „Von allen Karrieros wirst du am meisten auf meine Hilfe angewiesen sein. Tribute wie Cato, den Jungen aus 1 und den Junge aus 11 ziehen Sponsoren an wie das Licht die Motte. Brutus wird es sicherlich kaum schwerfallen, Leute zu finden, die für ihn sponsern. Das Mädchen aus 1 sieht überdurchschnittlich gut aus, ebenfalls ein großer Vorteil. Finnick Odair hat uns allen bewiesen, wie hilfreich Schönheit sein kann."
Sie macht eine kurze Pause, um mich das Gesagte verarbeiten zu lassen.
„Nicht dass du hässlich bist, Kleine", sagt Theadora und trinkt einen Schluck Wein. „Nur verfügst du nicht über diesen gewissen Reiz, den das Mädchen aus 1 besitzt."
„Natürlich", sage ich karg.
„Was ich sagen will: Du brauchst mich. Ich will, dass du diejenige bist, die die 74. Hungerspiele gewinnt. Aber dafür musst du mir vertrauen und mich nicht belügen. Denkst du das nicht auch?" Sie zieht eine Braue hoch.
„Ich hatte nie vor, Sie zu belügen", sage ich mit einer Milde in der Stimme, die ich mir selbst niemals zugetraut hätte.
„Ach, dutz mich, Kleine. Andernfalls fühle ich mich furchtbar alt. Nun, wie dem auch sei. Ich will einige Dinge von dir wissen, irgendwie muss ich dich schließlich im Kapitol verkaufen können. Hast du irgendwelche tragischen Lebensgeschichten? Eine schwere Vergangenheit? Lebt deine Familie noch?", will die Mentorin wissen.
Ich denke kurz nach. „Ja, also nein."
„Was nun? Ja oder nein?"
„Ja und nein. Meine Familie lebt noch, allerdings habe ich keine tragische Hintergrundgeschichten", sage ich, verwirrt über mich selbst.
Theadora seufzt. „Schade. Das hätte alles einiges leichter gestaltet. War ein Mensch aus deinem Bekanntenkreis jemals in den Hungerspielen?", fragt sie weiter.
Ich denke wieder nach. Dann schüttle ich den Kopf. „Nein, nicht das ich es wüsste."
„Beim letzten Tribut ging das deutlich leichter. Bei dir müssen wir uns wohl eine Geschichte ausdenken", sagt Theadora gähnend.
Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich ihr die Sache mit Lewis erzählen soll. Sie will, dass ich sie nicht belüge. Aber wenn ich es ihr gar nicht erst erzähle, zählt das nicht als Lüge. Dieses Argument erscheint mir tatkräftig genug, weshalb ich es unterlasse, meinen kleinen Bruder ins Spiel zu ziehen. Theadora soll sich ruhig eine Geschichte für mich ausdenken.
Kurz herrscht Stille. „Dann geh jetzt. Morgen früh erreichen wir das Kapitol. Ruh dich aus", sagt sie so freundlich, wie es ihr nur geht.
Schnell stehe ich auf und verlasse das Abteil, ehe Theadora es sich doch noch anders überlegt.
Auf der Suche nach meinem Abteil gehe ich gedankenverloren den schmalen Gang entlang.
Auf einmal wird es dunkel.
Stockdunkel.
Ein kurzer Schrecken durchfährt mich, bis mir wieder einfällt, dass ich in einem Zug sitze, der möglicherweise durch einen Tunnel fährt.
Ich weiß, dass es vermutlich klüger wäre, kurz zu warten, bis das Licht wieder angeht, doch ich setze mich weiter fort. Im Bruchteil einer Sekunde später gehen die Lichter wieder an, dennoch ist es zu spät. Ich stolpere über ein mir unbekanntes Etwas und bin kurz davor, den Boden zu küssen, als mich zwei kräftige Arme davor bewahren.
Was zum...? Ist mir Theadora gefolgt? Nein. Ganz im Gegenteil, als ich mich umdrehe und in die Augen meines Helfers blicke, schießt mir die Röte in die Wangen. Oh gott. Cato.
Er hält mich noch immer fest und betrachtet mich mit seinen hübschen, blauen Augen. Für einen kurzen Augenblick lang erwidere ich seinen Blick. Was sind das für schöne Augen? Ich habe noch nie in meinem Leben Augen von solcher Farbe gesehen. Der Moment weilt nicht für lange, denn als ich die Lage endlich richtig realisiere, winde ich mich sofort aus seinem Griff. Dabei leistet er mir keinerlei Widerstand und tritt einige Schritte zurück.
„Clove...Alles in Ordnung? Du wirkst äusserst blass", fragt er und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Mir fehlt nichts, keine Sorge", sage ich abweisend und wende mich schnell von ihm ab. Er ist dein Gegner. Früher oder später wirst du ihn töten müssen. Es ist besser, wenn ich ihn so fest von mir fern halte, wie es mir nur möglich ist.
„Na dann", sagt Cato zögerlich. „Gute Nacht... und bis morgen." Er hält inne und wartet, ob ich noch zu einer Antwort ansetze, doch ich schweige. Stattdessen nicke ich und verlasse eilig das Abteil.
Der Weg zu meinem persönlichen Abteil kommt mir furchtbar lange vor, ich versuche, das kurze Gespräch auszublenden.
Ich spüle die Geschehnisse des gesamten Tages mit einer weiteren Dusche von meinem Körper. Noch immer fällt es mir schwer zu realisieren, was heute alles geschah.
Die Ernte, Lewis, Theadora, Cato. Cato. Als ich meine eigenen Augen schließe, sehe ich sofort seine. Tiefblau. Zweifellos die Schönsten, die ich jemals zu Gesicht bekommen habe.
Das schönste Geschenk, das man mir heute beschert, sind allerdings nicht Catos Augen, sondern die Tatsache, dass mein Schlaf nicht lange auf sich warten lässt. Ich falle auf das seidenweiche Bett und schlafe ein, ehe meine Gedanken weitergehen können.
Trotzdem kommt es mir viel zu früh vor, als mich das laute Geklopfe an der Tür aus meinem Traum reißt. Emandas hohe Piepsstimme dringt ununterbrochen durch die Tür und fordert mich auf, das Frühstück unter keinen Umständen zu verpassen.
Verschlafen wasche ich mir das Gesicht und ziehe mich um. Dann gehe ich frühstücken. Unerwarteterweise fehlt sowohl Brutus, als auch Theadora. Cato sitzt einsam am Tisch und streicht sich ein Brot. Am liebsten würde ich auf dem Absatz kehrt machen, doch dafür würde mich Emanda köpfen, wo sie mich doch mit Mühe aus dem Bett geprügelt hat.
„Morgen", murmelt er müde. Also auch kein Morgenmensch. Sympathisch. Jetzt, da er mich ohnehin zur Kenntnis genommen hat, kann ich kaum mehr verschwinden.
Ich setze mich auf den leeren Stuhl gegenüber von Cato und belade meinen Teller mit allerlei Köstlichkeiten. Eine Weile essen wir schweigend unser ausgefallenes Frühstück.
Irgendwann nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und breche das Schweigen.
„Beide aus 1 und das Mädchen aus 4. Ist es korrekt, dass wir mit ihnen eine Meute bilden werden?"
Cato blickt auf und nickt langsam. „Das ist naheliegend. Brutus hat bereits mit den jeweiligen Mentoren gesprochen, das Bündnis ist so gut wie geschloßen."
„Woher weißt du das?", will ich wissen. Weiht man mich denn gar nicht mehr ein?
„Du hast dir heute morgen regelrecht Zeit gelassen. Wärst du früher gewesen, hätte Thea dich damit sicherlich in Kenntnis gesetzt."
„Habt ihr dabei noch mehr besprochen, dass ich wissen müsste?", frage ich.
„Kaum. Sie sagten, dass wir den Jungen aus 11 bei Belieben als Verbündeten in Betracht ziehen sollen", antwortet er ruhig.
„Und die beiden aus Distrikt 12? Schwach sehen die bestimmt nicht aus, kommen die für ein Bündnis nicht infrage?" Obwohl mir die Antwort darauf eigentlich bewusst ist, stelle ich die Frage. Darauf verfinstert sich Catos Miene prompt in Windeseile.
„Ach. Die sterben zuerst", sagt er kalt.
Er mag es nicht überbieten zu werden, denke ich. Das Mädchen aus Distrikt 12 hat ihm mit ihrem glamourösen Auftritt die Show gestohlen. Niemand erinnert sich an den Jungen aus Distrikt 2, doch die aus 12 ist im Kapitol bestimmt in aller Munde.
Cato ist stark. Er kann kämpfen. Und er hat einen Hass auf das Mädchen aus 12 entwickelt. Das ist eine gefährliche Kombination.
Meine Eltern ticken ähnlich und wenn ich etwas von ihnen gelernt habe, dann, dass auch solche Menschen wunde Punkte haben.
„Huhuu!" Urplötzlich und ohne Vorwarnung platzt Emanda lautstark in den Waggon.
„Wir sind da, es geht los meine Süßen!", kreischt sie mit Freude in den Augen. Cato und ich erschrecken uns sosehr über diesen Auftritt, dass wir beinahe zeitgleich blitzschnell hochfahren. Das sah sicherlich äusserst amüsant aus, denn Catos aufgeschreckte Miene und Emanda, die uns verwirrt anblinzelt, bringen mich zum lachen. Ich lache immer weiter und kann mich kaum mehr halten. Selbst Cato grinst.
Emanda wirft Cato einen hilfesuchenden Blick zu. Tickt die noch ganz recht? Diese Worte stehen ihr regelrecht im Gesicht geschrieben.
Endlich kriege ich mich wieder ein. Noch immer etwas verdutzt dreht sich Emanda um und führt uns aus dem Waggon.
Als wir an den jubelnden Menschen aus dem Kapitol vorbeikommen, die vor dem Zug stehen, verhärtet sich meine Miene wieder. Verstohlen werfe ich Cato einen Blick zu und bemerke, dass sein Gesichtsausdruck wieder hart und unnahbar wurde. Das Grinsen, das seine Lippe noch wenige Minuten zuvor umspielt hatte, ist verblasst. Jetzt sind wir wieder ganz die mordlustigen Karrieros.
Ich gewöhne mich an die Tatsache, dass ich ihn vermutlich nie mehr lachen sehen werde. Ich werde mich selbst lange nicht mehr lachen sehen. Wir haben das Kapitol erreicht.
Mögen die 74. Hungerspiele beginnen.
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