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„Süße Clove, ach, wie ich stolz auf dich bin!", kreischt meine Mutter hysterisch und fällt mir um den Hals. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich noch nie ein solches Maß an Zuneigung von ihr bekommen habe. Auch mein Vater zeigt sich anders, als ich es mir gewohnt bin. Er lächelt. Er lächelt. Mein Vater lächelt. Das ich das überhaupt noch miterleben darf.
„Tochter, du machst unserer Familie alle Ehren. Ich wusste schon immer, dass du den Mut eines Tributes besitzt", sagt er. Dabei betrachtet er meinen kleinen Bruder mit einem Stirnrunzeln und murmelt: „Ganz im Vergleich zu anderen Mitgliedern dieser Familie."
Lewis steht bekümmert in einer Ecke des Zimmers und macht einen äußerst niedergeschlagenen Eindruck. Ich winde mich aus dem Griff meiner Mutter und nehme meinen kleinen Bruder in den Arm. Er drückt sich fest an mich. Meine Eltern plappern hinter meinem Rücken weiter darüber, wie stolz sie auf mich sind, doch ich fokussiere mich lediglich auf Lewis. Er ist erst elf. Er versteht die Wichtigkeit hinter meiner Tat nicht. Er kann sie nicht verstehen. Noch nicht.
„Es tut mir leid", flüstere ich, so leise, dass nur er es hören kann. Wie ein kleines Äffchen klammert er sich an mich. „Ich will nicht, dass du dahin gehst", sagt er leise.
„Keine Sorge, ich werde zurückkehren. In zwei Monaten bin ich schon wieder da und du wirst gar nicht merken, dass ich überhaupt weg war, glaub mir."
„Wirklich?", fragt er. „Versprichen?"
Ich zögere einen Moment. „Versprochen", sage ich schließlich, obwohl es mich Überwindung kostet, die Worte über die Lippen zu bringen.
Doch, ich werde gewinnen. Für dich, Lewis.
„Hier, nimm das mit. Das wird dir Glück bringen", sagt er, holt etwas glitzerndes aus seiner Jackentasche und überreicht es mir.
Ehe ich es genauer betrachten kann, reißt ein Friedenswächter die Tür auf und fordert meine Familie barsch auf, den Raum zu verlassen, da die Zeit nun um ist. Lewis krallt sich darauf jedoch nur noch mehr an mich. Ich streiche ihm über sein dunkelbraunes Haar und versuche, mich vorsichtig von ihm zu lösen.
„Lewis", ruft mein Vater energisch. „Komm jetzt und wisch dir gefälligst die Tränen aus den Augen. Du bist ein Kentwell und kein Feigling aus der Gosse." Erst jetzt bemerke ich die Tränen, die in den Augen meines Bruders glitzern. Sofort überkommt mich das schlechte Gewissen. Ich darf ihn nicht allein lassen.
„Geh jetzt", sage ich sanft aber bestimmt. Darauf lässt mich Lewis endlich los und folgt meinen Eltern aus dem Raum. Die Tür schlägt zu und ich bin wieder allein. Mich packt die Wut. Ich stehe auf und rüttle an der Tür, bis mir das glitzernde Ding einfällt, dass sich noch immer in meiner geballten Faust befindet.
Ich öffne meine Hand und sehe, dass es sich bei Lewis' Geschenk um eine Kette handelt. Ein kleines Amulett hängt daran. Vorsichtig klappe ich es auseinander. Oh, wie süß. Er hat ein Bild von uns beiden angefertigt und eingeklebt.
Plötzlich wird mir bewusst, dass ich diese Spiele gewinnen muss. Denn wenn ich es nicht tue, werden meine Eltern erwarten, dass Lewis es tut. Er ist viel zu sanft. Er würde die Hungerspiele niemals überleben, dazu ist er einfach viel zu nett und rücksichtsvoll. Ich muss den mordlustigen Karriero spielen.
Für ihn.
Ich habe ja ohnehin keine Wahl.
***
Distrikt 2 entschwindet nun völlig meinem Blickfeld und der Zug fährt mit Hochgeschwindigkeit weiter richtung Kapitol. Wir werden wahrscheinlich nicht einmal einen Tag brauchen, bis wir ankommen. Gut so. Ich habe lieber festen Boden unter den Füßen.
Emanda zeigt mir mein persönliches Abteil. Es ist mittlerweile früher Abend und diese Frau hat noch immer die beste Laune, die man haben kann. Wenn alle Menschen im Kapitol so ticken, wird es nicht schwer, Sponsoren zu kriegen. Meine Gedanken werden unterbrochen, als ich das Abteil erblicke. Solchen Luxus bin ich selbst von Zuhause nicht gewohnt. Die Federboa beginnt, mir zu erläutern, wo sich was befindet und wie ich mich benehmen soll. Doch ihre Anweisungen gehen an mir vorbei. Baff beäuge ich diesen Luxus, den sich nicht einmal die Reichsten aus Distrikt 2 erträumen können.
Irgendwann endet sie und sieht mich erwartungsvoll an. Als sie jedoch einsieht, dass ich nicht dazu in der Lage bin, ihr eine Antwort zu geben, hüstelt sie gekünstelt und meint nur noch, dass ich pünktlich zum Abendessen im Speisewaggon sein soll. Dann rauscht sie lautstark aus meinem Abteil und donnert die Tür hinter sich zu. Dumme Kuh.
Nachdem ich meine Erkundungstour beendet habe, schäle ich mich aus meinem Erntekleid, lege es mit dem Anhänger zur Seite und stelle mich unter die Dusche. Zum ersten Mal kann ich einen klaren Gedanken fassen. Ich habe es tatsächlich gemacht. Es fällt mir noch immer schwer, das zu realisieren. Aus diesen Spielen werde ich siegreich hervorgehen. Ganz sicher. Ich muss mich heute Abend nur gut achten, wenn wir die Zusammenfassungen der Ernten anschauen. Wie die Konkurrenz wohl dieses Jahr aussieht? Aus Erfahrung der letzten Spiele sind es vor allem die Tribute aus 1 und 4, die mir ebenbürtig sein könnten.
Den Rest kann man kaum brauchen. Obwohl hie und da auch ein Guter unter denen ist.
Als ich fertig geduscht habe, durchsuche ich den monströsen Kleiderschrank. Ich frage mich, weshalb sie den Tributen so viele Kleidungsstücke zur Verfügung stellen. Die werde ich doch ohnehin nicht alle anziehen können. Es dauert eine Weile, bis ich das Passende gefunden habe. Eine enge, schwarze Hose und dazu eine burgunderrote Bluse.
Schlicht, ja, und Emanda wird es bestimmt lieben, aber für mehr fühle ich mich zu matt. Ich bürste mir mein Haar bis es glänzt und lasse es offen über die Schultern fallen.
Mit einem schnellen Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass ich spät dran bin. Ehe ich das Abteil verlasse, huscht mein Blick auf die Kette, die noch immer auf dem Erntekleid liegt. Ich hänge sie mir um und verlasse das Abteil.
Unter mir ruckelt es sanft, während ich mich auf die Suche nach dem Speisewagen begebe.
Zum Glück muss ich nicht lange suchen, die Türen zu den verschiedenen Abteilen sind groß angeschrieben. Trotzdem komme ich fünf Minuten zu spät. Ich hätte nicht so lange duschen sollen. Ausnahmslos alle sind bereits zugegen, als ich die Tür zuschiebe.
„Du bist zu spät." Schnauzt mich eine Frau mitte Fünfzig unfreundlich an.
Theadora Jones, durchfährt mich der Gedanke. Innerlich stöhne ich auf. Wieso jetzt auch noch sie? Ich habe vieles über diese Frau gehört, doch selten war es positiv.
„Verzeihung", murmle ich gedämpft und lasse mich auf dem einzig freien Stuhl nieder, neben Cato und Emanda. Dieser scheint kaum Notiz von mir zu nehmen. Er sitzt belanglos da und begutachtet die Bilder an der Wand. Erst als Emanda in die Hände klatscht, blickt er auf. Dabei wirft er mir einen flüchtigen Blick zu.
Das Essen wird aufgetragen und wir beginnen schweigend, die Köstlichkeiten zu verdrücken.
Es fühlt sich seltsam an, Cato so nah zu sein. Ich habe ihn bisher immer nur aus der Ferne beobachtet. Groß, stark und muskulös. Wie soll ich den bloß zur Strecke bringen?
Während des Essens mustere ich die Anderen, die bei Tisch sitzen. Emanda, die lebendige Federboa, die verkrampft versucht, ein Gespräch ins Rollen zu bringen. Brutus, Catos Mentor, ein glatzköpfiger, mürrischer Mann ende vierzig. Zuletzt Theadora, meine Mentorin, die mir gegenüber sitzt. Bisher hat sie mich kaum eines Blickes gewürdigt. Ich bin mir nicht sicher, welche Spiele sie gewonnen hat. Es müssten aber die 36. oder 35. gewesen sein. Jedenfalls war ich da noch nicht geboren.
„Wo liegen eure Stärken?", fragt Brutus, nachdem wir unser stummes Mahl beendet haben und alles abgeräumt wurde.
Es dauert eine Weile, bis Cato schließlich zu einer Antwort ansetzt.
„Speer, Schwert, Nahkampf", sagt er knapp.
„Gut. Damit können wir arbeiten", sagt Theadora und wirft mir einen fragenden Blick zu. „Und du? Bringst du mehr auf die Reihe, als nur zu spätes Erscheinen?"
„Ich denke nicht, dass ich mich freiwillig gemeldet hätte, würden meine Kompetenzen lediglich auf dem Lesen von Uhren beruhen", sage ich spitz. Ich hasse diese Frau. Und sie mich höchstwahrscheinlich ebenso.
„Oh, das hoffe ich für dich, Kleine." Theadora lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und mustert mich überlegen. „Nun, bisher hast du allerdings außer zicken und widersprüchlich sein keine großen Stärken eingebracht."
„Sie ist unschlagbar mit den Messern", sagt Cato urplötzlich, noch ehe ich Luft holen kann. Mein Kopf fährt zu ihm herum und unsere Blicke treffen sich wieder. Diesmal sehen uns länger an. Er hat schöne Augen. Tiefblau.
„Messer?", hackt Jones nach. Cato wendet sich von mir ab und nickt.
„Ich kenne keinen Menschen, der besser trifft. Ihre Würfe sind größtenteils tödlich."
„Stimmt das?", fragt mich Theadora. Ich nicke langsam. Ich bin die Beste.
„Das gefällt mir, Kleine. Im Gegenteil zu den vorhin genannten Punkten wirst du damit deine Gegner durchaus zur Strecke bringen können."
Am liebsten würde ich die Augen verdrehen.
„Übt und verbessert Eure Stärken während dem Training. Sieht zu, dass die anderen ein gutes Bild von euch kriegen, sie sollen sehen, mit wem sie es zu tun haben. Außerdem schlage ich ein Bündnis mit denen aus 1 und 4 vor. Wir werden das aber sicherlich noch mit den jeweiligen Mentoren abklären", sagt Brutus gezwungen freundlich.
Wir wechseln das Abteil, um die Zusammenfassung der Ernten zu schauen. Dabei bewaffnet sich Theadora mit Stift und Papier. Es ist für uns wichtig, die Gefährlichkeit unserer Gegner abzuschätzen.
Ich richte meinen Blick konzentriert auf den Bildschirm, um nichts zu verpassen. Der Junge aus 1 meldet sich freiwillig, dennoch schätze ich Cato einiges stärker ein. Das Mädchen kann ich nicht leiden. Ein Blick auf sie genügt mir, um zu wissen, dass wir wohl keine großen Freundinnen sein werden.
Nun kommen wir. Ich stelle fest, dass ich von aussen stärker gewirkt habe, als ich mich in dem Moment gefühlt habe. Das beruhigt mich etwas. Die Sponsoren haben damit keinen schlechten ersten Eindruck von mir. Doch auch hier überbietet Cato mich. Selbst die Kommentatoren verstummen bei seinem Anblick. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Wäre ich Sponsorin, ich würde alles auf Cato verwetten. Ohne Zweifel.
Die Distrikte 3, 5, 6, 7, 8, 9, und 10 scheinen keine große Konkurrenz zu bieten. Das Mädchen aus 4 scheint nicht schwach, genauso der Junge aus 11, der Catos Statur nahe kommt. Das Mädchen aus 11 ist sein genaues Gegenteil. Klein, zart, höchstens zwölf.
Zuletzt Distrikt 12.
Und mir klappt die Kinnlade runter.
Was sich da auf dem Bildschirm abspielt, lässt alle anderen Ernten langweilig erscheinen.
Ein kleines Mädchen, vielleicht zwölf oder dreizehn, wird ausgelost. Doch aus der Menge löst sich eine junge Frau, die sich stürmisch freiwillig meldet. Ich vermute, dass es sich bei ihnen um Schwestern handelt. Kurz blicke ich zu Cato, dessen Augen sich zu Schlitzen verengt haben und das Mädchen feindselig beobachten. Wenn Blicke töten könnten.
Danach wird der Junge gezogen. Nicht schwach, aber nicht von Catos Kaliber. Die Hymmne erklingt und der Bildschirm wird schwarz. Die Aufzeichnung ist zu Ende.
„Thea, hast du alles?", fragt Brutus.
„Ich denke es. Distrikt 1 stellt starke Tribute. Sowohl der Junge, als auch das Mädchen. Aus 4 wird sich wohl lediglich das Mädchen für ein Bündnis eignen. Dazu solltet ihr den Jungen aus 11, die Freiwillige aus 12 und ihren Distriktpartner nicht unterschätzen", sagt sie mit einem Blick auf ihre Notizen.
Ich lehne mich in das weiche Futter des Plüschsofas zurück. Die Distrikte 1, 4, 11 und, wer hätte es gedacht, auch 12 haben dieses Jahr die stärksten Tribute. Das muss eine absolute Premiere sein. Zumindest für 12.
Es dauert nicht lange, bis Cato ankündet, schlafen zu gehen. Brutus folgt ihm aus dem Abteil und auch Emanda verschwindet. Ich ihrem Beisiel folgen, da packt mich Theadora am Arm. Lässig sitzt sie auf dem Sofa, als wäre es ein Thron aus purem Gold. In einer Hand hält sie ein Glas Wein, mit der anderen hält sie mich fest. Ihre bernsteinfarbenen Augen nehmen mich prüfend ins Visier. Um ihre Lippen zeichnet sich ein Grinsen.
„Oh nein, meine Liebe. Du bleibst."
Ich blicke sie wortlos an. In meinem Gesicht widerspiegelt sich sicherlich Verwirrung.
Theadora Jones lässt mich los klopft mit der freien Hand auf die Polsterung des Sofas.
„Willst du dich nicht setzen?"
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