Log 29
Seid ihr schon mal geflogen? Für mich war es erst das zweite Mal. Ihr erinnert vermutlich noch, warum: Mein Vater. Um mich und meine Schwester zu schützen, sind wir so gut wie nie geflogen. Wir sind immer mit dem Auto in den Urlaub gefahren. Heute weiß ich auch, warum.
Die Sonne stand gleißend am stahlblauen Himmel, den ich durch das ovale Flugzeugfenster beobachtete. Wir flogen über ein Meer aus Watte. Es war erst mein dritter Flug überhaupt. Allerdings ging es nicht in den Urlaub. Im Gegenteil: Die Welt, die sich unter den trügerischen Wolken verbarg, wurde von den Facelingen beherrscht, wie wir inzwischen wussten. Millionenfach hatten sie mit ihrer Maschine die Körper der Menschen übernommen. Die armen Schweine, die es erwischt hatte, mussten jetzt in den Backrooms leben. Im Gegensatz zu mir und meinem Vater Knut hatten sie keine Chance, jemals in unsere normale Welt zurückzukehren, die man dort die Frontrooms nannte.
Beim Gedanken daran, dass auch meine Schwester Emilia und unsere Mutter Nicole dieses Schicksal teilen, hatte ich jedes Mal das Gefühl, als würde ein Felsbrocken auf meinen Schultern lasten. Lebten sie noch in den Backrooms? Wir wussten, dass die Facelinge aus den Körpern vertrieben wurden, sobald man aus den Backrooms zurückkehrte. Das hatte ich bei Alex persönlich erlebt. Aber funktioniert es auch umgekehrt? Falls wir die Gesichtslosen in unserer Welt aus den Besessenen vertrieben, noclipten sie dann automatisch aus den Backrooms hierher zurück? Ich wusste es nicht. Außerdem musste ich davon ausgehen, dass mindestens ein paar der Reisenden um uns herum ebenfalls von Facelingen besessen waren. Aber von außen konnte man das nicht erkennen. Daher mussten wir äußerst vorsichtig sein bei dem, was wir besprachen.
„Hey, Marc", Alex stieß mich mit ihrer Schulter an, „was machst du für ein Gesicht?"
Der Duft ihrer frischgewaschenen Haare, die unter ihrer knallgelben Mütze hervorlugten, stieg mir in die Nase. Ich freute mich über das Wiedersehen und dass sie sich neben mich in den Sitz kuschelte. Aber ihre gute Laune passte weder zu unserer Situation noch zu der Alex, die ich kannte.
„Das könnte ich dich auch fragen. Wir sind hier schließlich nicht auf einem Klassenausflug." Ich schaute mich kurz um, ob jemand im voll besetzten Flieger uns beobachtet, und flüsterte: „Du weißt, worum es geht. Und hast mir immer noch nicht erzählt, was du in all der Zeit getrieben hast."
Ich kapierte nicht, wie man in dieser Situation gut drauf sein konnte. Sie hatte mich bei meinen ersten Backrooms-Besuchen begleitet und mehr als einmal das Leben gerettet. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, war ich in Düsseldorf bei den Biologists aufgewacht. Sie hatte versucht, mir einzureden, dass es die Backrooms nicht gab. Das war bereits ewig her und seitdem war ich gemeinsam mit Knut auf der Jagd nach dem Core-Diamond gewesen. Leider erfolglos, denn wir vermuteten den Diamanten in der Zentrale von Async. Dem Ziel unserer Reise.
„Das hatten wir doch schon. Sorry, ich darf es nicht erzählen."
In ihrem Blick lag aufrichtiges Bedauern. Aber war das überhaupt Alex? Oder saß dort ein Faceling neben mir, der mir nur vorspielte, sie zu sein?
Nachdem sie am Düsseldorfer Flughafen zu uns gestoßen war, hatte Knut mich aufgeklärt, dass er Alex um Hilfe gebeten hätte. Sie sei ebenfalls Agentin bei den Biologists und ich könne ihr in jedem Fall vertrauen. Alle weiteren Fragen, zum Beispiel nach dem Wie, Warum und Wo sie gewesen sei, wurden von den beiden ignoriert und mit „Das darf ich nicht erzählen" beantwortet. So viel zu seiner großen Ansprache, dass wir das gemeinsam durchziehen würden. Nach wie vor behandelte er mich wie ein kleines Kind. Klar, ich durfte mitfliegen, aber das war es auch schon. Zwischen ihm und Alex herrschte eine Vertrautheit, die ich mir für mich selbst wünschen würde. Vielleicht waren sie ja Facelinge und spielten mir nur was vor? Lockten sie mich in eine Falle direkt bei der Async-Foundation in Amerika?
Nein, das machte keinen Sinn. Das hätten sie auch einfacher haben können. Und Knut hatte schon mehrfach bewiesen, dass er wirklich mein Vater war. Aber zumindest bei Alex musste ich mir sicher sein, dass sie kein Faceling war. Dafür gab es zum Glück eine verlässliche Methode.
„Alex?" Ich drehte mich um und schaute ihr direkt in die grünen Augen. „Weißt du noch, wie du mir das erste Mal beim Noclipen in die Backrooms geholfen hast?"
Sie lachte auf: „Ja, klar! Mit einem ordentlichen Kinnhaken."
Das hatte ich niemandem erzählt und wir waren damals alleine im Wald. Natürlich könnte sie es jemand anderem verraten haben. Der könnte es wiederum dem Faceling gesagt haben, der ihren Körper besetzte. Aber nein ... langsam wurde ich paranoid. Mein Test war erfolgreich und auch Knut vertraute ihr. Was wollte ich noch mehr? Warum war ich nicht einfach dankbar, eine starke und erfahrene Mitstreiterin an meiner Seite zu haben?
„Danke. Ich wollte nur sichergehen."
Sie wurde ernst: „Schon in Ordnung. Wir dürften tatsächlich niemandem vertrauen. Aber wenn wir uns nicht gegenseitig hundertprozentig aufeinander verlassen können, haben wir im Grunde bereits jetzt verloren."
Da konnte ich ihr nicht widersprechen. Trotzdem blieb ein letzter Rest nagender Zweifel zurück. Mit Menschen um uns herum, von denen sicherlich einige Faceling-Possessors waren, wollte ich für den Moment nicht weiter nachbohren oder Fragen stellen. Das würde warten müssen, bis wir später alleine waren.
Ich musste dringend mal auf die Toilette. Also drückte ich mich auf den Gang. Zum Glück leuchtete das Symbol grün. Es war nicht besetzt. Erleichtert schob ich mich an einer Flugbegleiterin in ihrer roten Uniform vorbei und zog die Tür hinter mir zu.
Der Gestank einer nicht gespülten Toilette stieg mir in die Nase. Überall lagen benutzte Papiertücher und der Spiegel der Kammer war mit Fingerabdrücken übersät. Na großartig. Konnten die anderen Passagiere nicht etwas sauberer sein? Natürlich funktionierte auch die „Spülung" oder besser, das Absaugen, nicht. Kein Wunder, dass es so stank. Das Kabuff war absolut widerwärtig. Ich würde einer der Stewardessen gleich darauf hinweisen, dass sie durchputzen mussten und auf eine der anderen Toiletten verschwinden. So dringend war es nicht.
Mit angehaltenem Atem öffnete ich die Tür. Oder besser: Versuchte, sie zu öffnen, denn sie war verklemmt. Auch das noch. Mit Kraft zog ich an den kleinen Hebel, um die Sperre zu lösen. Keine Chance. Uff. Ich atmete tief durch und bereute es im selben Augenblick. Bah, was für ein Gestank. Aber im Moment hatte ich andere Probleme.
„Hallo?", rief ich und hämmerte gegen die Tür. „Die Tür klemmt! Könnten Sie mich rauslassen? Hallo?"
Ob die mich überhaupt über den Fluglärm hörten? Vermutlich nur, falls gerade jemand genau im Zwischengang stand. Aber hier gab es auch noch einen Rufknopf mit einer Miniatur-Stewardess. Wenn ich ... In diesem Moment klackte es und die beiden Türhälften knickten auseinander. Wunderbar frische Luft strömte herein und ich blickte in die besorgte Mine einer Flugbegleiterin.
„Huch?", wunderte sie sich. „Ich habe Sie ja gar nicht in die Toiletten gehen sehen. Die ist defekt und eigentlich abgesperrt."
Das erklärte wohl, warum ich das nicht bemerkt habe. „Sorry, das habe ich nicht gesehen. Ich ..."
Mit diesen Worten brach ich ab. Die Frau trug eine marineblaue Uniform. Blau. Nicht rot. Außerdem war vorhin auf der gegenüberliegenden Seite eine Flugzeugtür gewesen. Jetzt fand sich dort eine weitere Toilette.
Verdammt. Schon wieder. Ich war bereits früher in Backrooms gelandet, ohne es zu merken, wenn ich eine Toilette betrat. Das letzte Mal war im ICE nach München, auf dem Weg zu meinem ersten Treffen mit Alex. Das war ein Problem, denn das Flugzeug in meiner Realität, den Frontrooms, flog jetzt ohne mich weiter. Und ich hatte keine Ahnung, wo ich landen würde, falls ich zurück noclipte.
„Alles in Ordnung? Sie sind ganz bleich", erkundigte sich die Flugbegleiterin.
Für eine Backrooms-Entität war sie erstaunlich hilfsbereit. Normalerweise versuchten die hiesigen Kreaturen, mich zum Frühstück verspeisen. Oder mit Säure zu besprühen. Oder mir die Haut abzuziehen. Aber was nicht war, konnte ja noch kommen.
„Äh ... Ja. Danke. Ich muss dann mal weiter."
Ohne abzuwarten, ging ich an ihr vorbei in die Passagierkabine. Ich stockte und eine Gänsehaut zog sich über meinen Rücken. Vor mir erstreckte sich eine Kabine, deren Gang in der sprichwörtlichen Unendlichkeit immer kleiner wurde und verschwand. Auf den Sitzen saßen Facelinge in ihre typischen, schreiendbunten Streifen gekleidet. Große und kleine, vielleicht waren es Kinder. Ihre gesichtslosen Kopfknochen starrten mich an. Zumindest hatte ich das Gefühl, angestarrt zu werden. Alle Köpfe hatten sich in meine Richtung gedreht, soweit ich das beurteilen konnte. Da sie keine Münder hatten, herrschte in der Kabine Schweigen. Nur das tiefe Dröhnen des Flugzeugs erfüllte den Raum.
Aus einer grauen Hundebox neben mir erklang ein Knurren. Ich sprang zurück. Da erschien das halb-menschliche Gesicht eines Houlers hinter Gitterstäben. Verdammt, das war nicht gut. Wenn die wussten, auf welcher Mission ich unterwegs war und einer von denen die Box öffnete, war ich erledigt. Das letzte Mal hatte mich eines der Biester beinahe zerfetzt. Aber auch so hatte ich gegen die endlose Menge an Facelingen keine Chance, obwohl im Moment niemand Anstalten machte, sich zu erheben.
Gehetzt schaute ich mich um. Ich musste dringend durch eine der Wände oder Türen noch mal durch, und hoffen, dass ich in den Frontrooms oder einem anderen Level wieder einsteigen konnte. Aber alle Sitze waren belegt. Mich an den Facelingen vorbeizudrängen, war keine gute Idee. Und jetzt?
Zurück zu den Toiletten und hoffen, dass es da besser war. Schnell sprang ich in den Zwischengang. Als ich an der Toilettentür vorbeikam, aus der ich gekommen war, hing da ein fettes Vorhängeschloss. Dieser Weg war versperrt. Aber die gegenüberliegende Toilette sah normal aus. Relativ normal. Vier tiefe Kratzer, ähnlich einer Bärentatze, zogen sich quer über den Zugang. Sollte das eine Warnung sein? Vielleicht. Oder es war Zufall. In den Backrooms war beides ungefähr gleich wahrscheinlich. Die einzige Alternative wäre die andere Kabine. Aber wer weiß, wer dort saß und ob die Faceling es sich nicht doch noch anders überlegten.
Genug philosophiert. Mit einem Satz riss ich auf der anderen Seite die zerkratzte Falttür auf.
„Was?! Iiiiih!", kreischte eine ältere Dame, die auf der Flugzeugtoilette hockte und in diesem Moment ihr Geschäft verrichtete.
„Oh, das ... Ähem ... Tut mir furchtbar ..." Mit hochrotem Kopf starrte ich die Frau an und wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Machen Sie sofort die Tür zu!", keifte die Alte und presste sich mit den Händen ihren Rock zwischen die Beine.
Jetzt sah ich es: Das Logo unserer Fluggesellschaft, der Fluggesellschaft, mit der wir in die USA flogen, prangte über dem Waschbecken. Die Toilette befand sich in meiner Realität. Sie war mein Fluchtweg, um aus den Backrooms zurückzukehren. Es half nichts.
„Tut mir wirklich leid", sagte ich, schloss meine Augen und stellte mich zu der Frau in die winzige Kammer.
„Was fällt Ihnen ein?! HIIILFE!"
Sie kreischte, schlug und versuchte, mich hinaus zu werfen. Ich stemmte mich mit aller Kraft gegen ihre Versuche, ignorierte das Schreien und schloss endlich die Tür. Nur, um sie Sekundenbruchteile später erneut aufzureißen. Wie der Korken einer Sektflasche wurde ich hinausgeschleudert. Mit einem Krachen und lauten Flüchen wurde die Tür hinter mir zugeschmettert. Aber ich stand wieder im Zwischenbereich vor der Passagierkabine.
In diesem Moment kamen zwei Flugbegleiterinnen in roten Uniformen von den Seiten hereingestürmt.
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