9
Etwas nervös stand Taehyung vor der Wohnung, die ein Stockwerk unter Jungkooks lag. Er presste die Lippen zusammen, traute sich nicht so recht zu klingeln. Tief atme er ein und aus, drückte schließlich impulsartig auf den Klingelknopf, auf welchem ebenfalls 'Jeon' stand. Hinter der Tür begann es zu rascheln, und trotzdem öffnete es sich nicht direkt, es dauerte eine kleine Weile, bis die Tür einen Spalt geöffnet wurde und man einen Teil von Jimins Gesicht sehen konnte. Seine roten Augen weiteten sich ein bisschen, als er Taehyung sah. Langsam öffnete er die Tür einen weiteren Spalt.
"Hast du geweint?", fragte Taehyung leise.
Jimin rieb sich über die Augen, lachte ein wenig gezwungen. Er zögerte einen Moment. "Ich kann meinen Binder nicht finden", sagte er schließlich ebenso leise.
Vor einer Woche hätte Taehyung keinen blassen Schimmer gehabt, was zur Hölle ein Binder sein soll. Aber er hatte sich informiert.
"Soll ich dir suchen helfen?"
Jimin wirkte ein wenig überrascht, haderte einen Augenblick, bevor er die Tür ganz öffnete und Taehyung rein ließ. Die Raumaufteilung war ziemlich genau so, wie in Jungkooks Wohnung auch, nur dass es hier wie auf einem Schlachtfeld aussah. Jimin muss panisch auf seiner Suche alles durchwühlt und durch die Wohnung geschmissen haben. Jimin selbst trug eine ausgewaschene Jogginghose und ein Tshirt, was ihm bestimmt drei Größen zu groß war. Die Arme verkrampft vor der Brust verschränkt.
Suchend ließ Taehyung seinen Blick über die Wohnung gleiten, tat ein paar Schritte und durchstreifte das Wohnzimmer. Taehyung hätte gerne irgendwas aufbauendes gesagt, aber seine Lippen wussten nicht, wie er die Wörter bilden sollte. Jimin sagte ebenfalls nichts, er fühlte sich sichtlich unwohl.
Body Dysphoria.
Taehyung zog besorgt die Augenbrauen zusammen. Sein Mund war trocken. Nach einer Weile erhaschte sein Blick ein hautfarbenes Stück Stoff, welches halb unter dem Sofa versteckt lag. "Ist er das?" Taehyung hob das Stoffstück auf, Jimin nickte sichtlich erleichtert mit dem Kopf, hauchte ein "Danke" und entschuldigte sich dann ins Badezimmer.
Langsam setzte sich Taehyung auf die Couch, rieb sich die verschwitzten Hände an der Hose ab. Eigentlich durfte er überhaupt nicht hier sein, er hatte Hausarrest, aber das war ihm egal.
Jimin räusperte sich leicht, als er sich neben Taehyung auf die Couch setzte, nun wesentlich weniger verkrampft und angespannt. Taehyung versuchte die Wörter in seinem Kopf zu ordnen, sie irgendwie in den Mund zu bekommen, aber es funktionierte nicht.
Jimin hatte die Knie an die Brust gezogen, hielt seine Beine umklammert. Leicht schüchtern schaute er zu Taehyung.
"Denkst du jetzt anders von mir?"
Taehyungs Augen weiteten sich ein bisschen, bevor er die Augenbrauen zusammenzog. Sprechen funktionierte immernoch nicht besonders gut, weshalb nur ein "warum sollte ich?" über seine Lippen kam.
"Du bist weggelaufen. Ich dachte ehrlich gesagt nicht, dass ich dich nochmal wieder sehe."
Taehyung fuhr sich mit den Fingern über die Augen, bevor er Jimin direkt in die Augen sah. "Ich war noch nie in meinem ganzen Leben so wütend, wie in diesem Moment. Ich- keine Ahnung, ich hab noch nie jemanden geschlagen, aber er hat es so verdient. Das hat mich alles ziemlich überfordert, überwältigt, deshalb bin ich weggelaufen."
Mit großen Kulleraugen blickte Jimin zu ihm auf. "Ich dachte, du hättest ihn geschlagen, weil er Jungkook...und du in ihn verliebt bist."
Ein kleiner Hustanfall hinderte Taehyung am Antworten, er musste sich ein paarmal räuspern, um überhaupt in der Lage zu sein, über seine nächsten Worte nachdenken zu können.
"Ich hab ihn geschlagen, weil es mich wütend gemacht hat, dass er dich so behandelt hat. Dein Name ist Jimin, du bist ein Junge. Punkt. Du bist valid, okay? Niemand hat das Recht, dir irgendeinen Scheiß aufzubinden. Du hast es schwer genug, warum es noch schlimmer machen?", wisperte er, senkte gegen Ende seinen Blick, bevor er wieder zu Jimin schaute, auf dessen Wasserlinie Tränen glänzten.
Taehyung seufzte leicht, bevor er Jimin einfach auf seinen Schoß zog und ihn fest hielt. Jimin krallte seine Finger in Taehyungs Kleidung und weinte leicht in seine Halsbeuge. Taehyung streichelte ihm durchs Haar, der Kloß in seinem Hals löste sich.
~
Nach etwa zwei Stunden hatte Taehyung Jimins Wohnung verlassen, nun ein bedeutend besseres Gefühl im Bauch als vorher. Er selbst war in den letzten Minuten deutlich runtergefahren, doch seine Nervosität stieg erheblich, als er die Stufen ins nächste Stockwerk erklomm. Seine Finger schoben sich in seine Jeanstasche, zogen unauffällig eine kleine, gelbe Pille mit Smileyaufdruck hervor und schob sie sich in den Mund. Kurz schloss er die Augen und atmete nochmal tief durch, bevor er klingelte.
Es dauerte keine zehn Sekunden, bevor die Tür geöffnet wurde. Allerdings nicht von Jungkook. Mit Bambi-Augen starrte Taehyung die Frau von letztens an, diesmal allerdings in einen Morgenmantel gekleidet.
"Da bist du ja wieder, Herzchen. Komm doch rein", zwitscherte sie und drehte sich süßlich lächelnd um, die Tür für Taehyung auflassend. Sie verschwand ins Badezimmer, Taehyung schloss die Eingangstür hinter sich.
Sein Blick fiel auf Jungkook, und er zuckte ein bisschen zusammen, als der Blick des Älteren schon auf ihm ruhte. Taehyung schluckte leicht. "I-ich hab dein Tshirt." Wie zum Beweis hielt er es kurz hoch, bevor er den Blick senkte und begann auf seiner Unterlippe zu kauen. Als er den Blick wieder hob, stand Jungkook genau vor ihm, mit großen Kulleraugen sah er ihn an.
Jungkooks Gesicht war nurnoch einige Zentimeter von seinem eigenen entfernt, der Ältere musterte sein Gesicht für einige Sekunden, bevor er ein leises "Danke" gegen Taehyungs Lippen hauchte, ihm das Shirt aus der Hand nahm und damit in sein Schlafzimmer verschwand.
Trocken musste er schlucken, kniff die Augen ein paar mal zusammen. Konnten die Pillen denn nicht endlich wirken? Taehyung war in der letzten Zeit fast nurnoch high, fand seinen Alltag damit deutlich erträglicher. Vorallem die Stille, die neuerdings von der Seite seiner Mutter kam. Mit den kleinen Glücksdingern war das alles weg. Mit den kleinen Glücksdingern war die Welt schön.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro