~3
𝐓𝐨𝐧𝐥𝐨𝐬 umrundet Markus mich gemächlich.
Als er wieder vor mir steht, steht Skepsis und Zurückhaltung deutlicher denn je in mein Gesicht geschrieben. Langsam hebt er seine rechte Hand und sanft berührt er meine linke Wange.
Es ist als würden seine Finger glühen.
Zittrig atme ich ein und aus, wage es aber nicht, mich zu bewegen. Er malt mit seinen Fingerkuppen eine feine Linie von meinem Wangenknochen bis zu meiner Schläfe und streicht eine vom Friseur zu kurz geschnittene Strähne hinter mein Ohr, wobei er eine Stelle hinter meinem Ohr streift, an der eine drei Zentimeter lange schmale Narbe ist, die durch einen vergifteten Pfeil entstanden ist.
Ich zucke kurz zusammen, da ich dort sehr sensibel bin und Markus zieht seine Hand erschrocken weg.
Daraufhin mustert er mich noch einmal eingehend, was mir noch mehr Unwohlsein bereitet.
Nochmals streckt er seine Hand nach mir aus. Diesmal in Richtung meiner Schulter. Doch ich lasse den Versuch einer Umarmung nicht zu, sondern gehe langsam rückwärts, drehe mich irgendwann mit gesenktem Blick um und gehe wieder nach Hause.
Was habe ich nur getan?
Als ich wieder im Garten ankomme, ist die Terrassentür offen und ich trete erst ein, nachdem ich mich abgesichert habe.
>>Hallo?<<, rufe ich, erhalte jedoch keine Antwort und schlüpfe aus meinen Stiefeln, ehe ich sie durch das Haus, bis zu den anderen Schuhen im Eingangsbereich, trage.
Dann gehe ich in mein Zimmer und schließe erst einmal das Fenster, welches noch immer geöffnet ist. Zum Glück spüren wir Lykaner Kälte nicht so empfindlich, wie Menschen, sonst hätte ich wahrscheinlich wie Erin oder Marea wohl einen Schockfrost erlitten, denn bereits Anfang Herbst ist in unserer Gegend die Luft sogar zur Mittagszeit meistens eiskalt.
Am Abend bin ich immer noch alleine in Haus. Vorsichtshalber schließe ich alle Türen zwei Mal ab, ziehe alle Vorhänge an jedem Fenster zu und dusche mich im Bad nur kurz und rubble mit dem Make-up-Entferner von Erin die Mascara von den Wimpern, wonach ich ziemlich verheult aussehe, was mir aber völlig gleichgültig ist, da ich mich in dem großen Haus so einsam fühle und so schnell wie möglich unter der kuscheligen Decke in meinem Bett landen will.
Am darauffolgenden Morgen wache ich auf, umgeben von völliger Stille. Die ersten Sonnenstrahlen tasten sich durch den Spalt der Vorhänge am Fenster. Keine Vögel zwitschern, kein Lykaner oder Mensch treibt sein Unwesen in der Nähe des Hauses, kein Auto rollt über die Straße vor dem Haus. Und auch im Haus herrscht absolute Geräuschlosigkeit. Nicht einmal Marea schnarcht leise.
Merkwürdig.
Naja, aber auch angenehm, denn ein Blick auf die weiße Wanduhr lässt mich feststellen, dass ich nur kurz vor dem Handywecker aufgewacht bin.
Müde suche ich mir ein paar Klamotten zusammen und stoße dabei auf meine Jeans vom Vortag, die an den Knien zerrissen ist und Blut von mir klebt daran. Ich überlege, was ich noch mit ihr anfangen kann und stopfe sie vorerst in eines meiner Regale zu anderen Stoffresten.
Dann packe ich meinen schwarzen Kapuzenpulli, den ich ebenfalls gestern getragen habe und mache mich auf die Suche nach einer neuen Hose.
Im Bad finde ich in meinem Schränkchen noch ein paar Unterhosen und sagenhafte zwei BHs. Erin sollte dringend mal wieder die Waschmaschine anmachen oder ich kaufe mir einfach neue Klamotten. Die erste Möglichkeit ist aber immer noch billiger und rentiert sich eher, denn leider wird mein monatliches Taschengeld auf ein Sparbuch überwiesen. Und deshalb habe ich nie Bargeld.
Ich dusche mich kurz ab und benutze das Duschgel von Marea, das nach Frangipani riechen soll, was auch immer das ist. Es duftet jedenfalls angenehm dezent süßlich.
Als ich wieder aus der Dusche trete, wird unten die Haustür aufgeschlossen und ich kann Judd und Erin sofort riechen. Sie scheinen über irgendetwas zu diskutieren, aber ich versuche nicht hin zu hören. Es wäre schließlich unhöflich, sie zu belauschen. Trotzdem kann ich einzelne Wortfetzen verstehen, weil Erin nun einmal nicht gerade leise mit Judd schimpft.
Um mich abzulenken, trockne ich mich rasch ab, schlüpfe in meine Unterwäsche und öffne das große Erkerfenster, damit frische Luft herein strömen kann. Dann ziehe ich mir meinen Pulli an, bürste grob meine Haare und tusche meine Wimpern.
Da kommt mir plötzlich der Gedanke, dass ich Markus heute in der Schule wieder sehen werde...
Will ich das überhaupt?
Panik erfasst mich und ich male mir die schlimmsten Szenarien aus, in denen er mich ignoriert, abwertend behandelt oder gar vor allen Mitschülern demütigt.
Aber das wäre doch gut! Dann kann ich ein wenig beruhigter meinen Weg gehen... Als gebrochene, aber weise Lykanerin.
Ich muss dringend an etwas anderes denken!
Deshalb spaziere ich nun auch, ohne anzuklopfen, in Mareas Zimmer, das nach wie vor leer ist und gehe zu ihrem breiten Schrank, der sich links über die gesamte Wand streckt. Judd und sie haben ihn im Sommer selbst gezimmert. Da ich mich in ihrem Chaos nicht zu Recht finde, klaube ich mir die erst beste dunkelblaue Jeans vom Stapel runter und ziehe sie sofort an.
Sie sitzt zwar ein bisschen eng an den Oberschenkeln und den Waden, aber ansonsten bin ich vollkommen schockverliebt in dieses wirklich schicke Stück. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor. Ich stutze kurz. Sie hat einmal meiner Mutter gehört. Marea wäre die noch zu groß. Anders kann ich es mir nicht erklären, denn Erin hat nur helle Klamotten.
Im Fach daneben sind Socken und auch von denen nehme ich mir ein Paar.
Schnell husche ich in mein Zimmer zurück, packe meine Schultasche und marschiere dann, auch für Menschenohren hörbar, die Treppe runter und der kleine Streit zwischen meiner Tante und meinem Onkel verstummt.
>>Morgen<<, murmle ich zur Begrüßung und Erin schiebt mir wortlos eine Schüssel mit grünen Trauben auf der Anrichte entgegen.
Sie trägt heute eine türkisfarbene Bluse, die Judd ihr mal geschenkt hat und es betont ihre zartrosafarbene Haut.
>>Die sind aber kernlos oder?<<, frage ich und werfe den süßen grünen Weinbeeren einen skeptischen Blick zu.
>>Aber natürlich<<, seufzt Erin, nimmt sich einen roten Apfel aus dem Obstkorb und schneidet ihn in vier gleichgroße Schnitze und teilt diese wiederum ebenfalls, die sie dann eingehend betrachtet und in eine große Schüssel gibt.
>>Machst du Obstsalat?<<
Sie nickt.
>>Willst du drüber reden?<<
Erin atmet tief ein und aus und schüttelt langsam ihren Kopf. Ihre Haare, die sie sonst offen trägt, hat sie heute zu einem strengen Dutt am Hinterkopf gedreht und ihre dunklen Augen glänzen verdächtig, doch ich spreche sie nicht darauf an.
>>Wo ist Marea?<<, frage ich, um ein wenig vom Thema abzulenken.
>>Sie ist gestern zu einer Freundin gefahren. Mit dem Fahrrad<<, fügt sie hinzu, als sie meinen fragenden Blick sieht.
Als ich die Schüssel leer gegessen habe, mache ich mich langsam auf den Weg. Im Hausflur bei den Schuhen bekomme ich erst einmal einen kleinen Schrecken.
Meine Lieblingsstiefel sind total verdreckt, wegen meinem Ausflug gestern.
Ergeben seufze ich und schnappe mir ein anderes Paar. Judd bezeichnet sie gerne als Rockerstiefel, ich aber finde sie totschick und zum Motorradfahren sind sie auch gut geeignet. Eigentlich sind alle meiner Schuhe zum Motorradfahren geeignet, außer meinen Hausschuhen und den grauen Flipflops, die ich nur an den heißesten Sommertagen trage. Meine grauen Sneakers waren eine weitere Ausnahme.
Aufgeregt und nervös stapfe ich meinen Routineweg zur Schule und komme gerade pünktlich an, als Jenna und ihre komische billige Truppe, samt notgeilen Frühpubertierenden im Gebäude verschwindet. Langsam folge ich dem großen Pulk, der sich durch die beiden Doppeltüren quetscht. Von Markus keine Spur. Vorerst erleichtert, atme ich ein wenig beruhigt aus.
Hoffentlich macht er blau...
Am Ende dieses aufreibenden Schultages, den ich wieder einmal nicht ohne Sticheleien überstehen konnte, gehe ich, wie sonst auch, als letzte aus dem Klassenzimmer. Jenna hat heute ein paar neue Sprüche an mir ausprobiert, die ihre hirnlosen Anhänger urkomisch fanden und dann ebenfalls auf mich losgelassen haben. In den Pausen habe ich mich, wie so oft, bei den Mädchentoiletten in der hintersten Kabine versteckt.
Hungrig, weil ich vergessen habe, mir etwas zum Essen und zum Trinken einzupacken, trotte ich aus dem Klassenraum und biege nach rechts ab.
Wieso vergesse ich das ständig?, ärgere ich mich innerlich.
Ohne auf mein Umfeld zu achten, gehe ich die Treppe runter, an einer kleinen Gruppe Jugendlicher. Ein allzu bekannter Geruch steigt mir in die Nase, als ich bereits ein paar Stufen weiter gegangen bin.
O nein...
Sofort verkrampft sich alles in mir und ich halte die Luft an.
>>Du!<<
Ja... Ich...
Mit nur wenigen leisen Schritten überholt Markus mich und vor Schreck taumle ich, mein Gleichgewicht verloren, auf der Kante der Stufe und bekomme, mit dem Armen rudernd, das Geländer zu fassen. Immer noch die Luft anhaltend, starre ich ihn mit aufgerissenen Augen an.
Da fallen mir zum ersten Mal die klitzekleinen dunklen und hellen braunen Sommersprossen auf seinem Nasenrücken auf.
Niedlich...
Sein intensiver Blick raubt mir Sinn und Verstand und ohne es tatsächlich zu registrieren, atme ich die angehaltene Luft wieder aus und atme unbewusst langsam tief durch, um mich selbst ein bisschen zu beruhigen.
Doch auch ihn scheint es nicht kalt zu lassen und unter seinem schwarzen T-Shirt mit dem grauen aufgedruckten Logo von AC/DC hebt sich sein breiter Brustkorb deutlich. Seine Reaktion auf mich, macht mich ein wenig stolz.
Wie gerne würde ich ihn berühren, aber ich kann und ich darf nicht.
>>Du... Du bist es wirklich<<, haucht er rau.
>>Hmm<<, presse ich quietschend zwischen zwei Atemzügen hervor.
Am liebsten würde ich mich an ihn schweißen, damit ich immer bei ihm sein könnte, aber das wäre wahrscheinlich ein wenig zu radikal. Ich sehe ihm an, dass es ihm nicht leicht fällt, sich weiterhin von mir fern zu halten.
>>Bitte, bleib<<, fleht er inständig voller Verzweiflung.
>>Lauf nicht wieder weg. Bitte<<
Wie kann er mir das nur antun?
Weiß er überhaupt, was das mit mir macht?
Diese unheimliche Anziehungskraft, die er wortwörtlich auf mich ausübt, wie ein Magnet... Ich bin ihm heillos ausgeliefert.
Ein drittes Mal vor ihm weg zu laufen könnte mein Ende bedeuten. Die letzten beiden Male haben mich schon innerlich zerrissen. Ich weiß nicht, wie oft ich das noch durchstehen kann.
Er hat mein Herz berührt, ohne es zu wissen. Er hat meine Seele geküsst, ohne auch nur irgendwas zu ahnen. Er hat gewonnen, ohne dass ich wahrhaben möchte.
Markus Dewinter. Sein Name ist in meinen Ohren reine Poesie.
Seine Stimme Musik, wenn er spricht ist es, als würden alle Sorgen von mir getragen.
>>Ich heiße übrigens Markus Dewinter<<, greift er den Faden wieder auf.
>>Ich weiß<<, schmunzle ich.
>>Und... Wer bist du?<<
Was soll ich nur sagen?
Mir fallen ein paar Worte ein, die mein Vater einst auf diese Frage geantwortet hat.
>>Sage so wenig wie möglich, gebe nur das Nötigste preis. Nicht mehr und nicht weniger. Aber lüge nie! Wage es niemals jemanden zu belügen, denn du kannst nicht voraussehen, wie du diese Schuld zu begleichen hast!<<, sprach er hart, gefolgt von einigen ordinären Schimpfwörtern, die teilweise derart vulgär, unaussprechlich und niveaulos waren, dass ich sie nicht wiedergeben könnte, selbst wenn ich wollte.
>>Juli<<, antworte ich deshalb und nenne ihm nur meinen Spitznamen.
>>Gefällt mir<<, grinst er und seine Heiterkeit wirkt ansteckend auf mich.
Ich freue mich so sehr darüber, dass mir mehr als nur ein bisschen wärmer wird. Ich habe das Gefühl in den Feuern des Schicksalsberges zu baden. Es gibt dafür sicherlich einige andere, schmalzigere Ausdrücke, aber genau das kommt mir in diesem Moment in den Sinn und nichts hat sich je wahrer angefühlt.
>>Warum bist du vor mir weggelaufen?<<
Ja, genau, warum bin ich das?
Ich weiß es nicht mehr.
Ach ja, ich bin die Außenseiterin, die die nur zeitweise in diesem Rudel verweilen darf und auf das Urteil des nächsten Alphawolfes angewiesen ist.
Ich bin die mit der kaputten Seele. Meine Vergangenheit ist eine einzige Qual. Was mir alles widerfahren ist, kann ich nicht so einfach vergessen und all dies aufzuarbeiten wäre eine Tortur, die Ihresgleichen sucht.
Ich kann Markus nicht damit belasten. Er muss stark bleiben, aber stünde ich an seiner Seite, würde er schwach erscheinen und unser Rudel, sein Rudel, würde ihn nicht akzeptieren. Das kann und darf ich ihm nicht antun.
Sein Wohl steht über dem meinen.
>>Ich bin nur...<<, setze ich an, doch weiß nicht, wie ich den Satz beenden soll.
>>Du bist mehr als das<<, sagt Markus und nimmt meine linke Hand, die frei an meiner Seite hängt.
>>Du bist du. Du bist meine Seelenverwandte. Und das weißt du. Wehre dich nicht dagegen<<, spricht er und blickt mit diesen wunderschönen silbergrauen Augen tiefer in mich, als mir wohl ist.
>>Aber du weißt doch gar nicht genau, wer oder wie ich bin, noch woher ich komme oder was ich im Gepäck trage<<, versuche ich ihm erschaudernd meine Beweggründe nahe zu legen, aber es scheint ihn nicht mindesten zu interessieren.
-2118 Wörter
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro