Verheerende Folgen (6)
Vollkommen reglos lag ich auf dem Bett, die Hand über meine Augen gelegt - innerlich jedoch war ich alles andere als ruhig. Die Stille im Raum war fast erdrückend, aber sie war mir gerade recht. Sie gab mir Zeit zum Nachdenken, auch wenn ich wusste, dass ich die Antworten, die ich suchte, nicht so leicht finden würde. Tsuki war unten. Das leise Klirren von Geschirr und Besteck drang gedämpft nach oben. Es klang so alltäglich, so normal, und doch wusste ich, dass sich die Dinge verändert hatten.
Ich hatte gedacht, dass ich alles im Griff hatte. Dass ich alles regeln konnte, ohne dass sie davon Wind bekam. Doch je fürsorglicher und verständnisvoller Tsuki war, desto größer wurde auch die Last meines eigenen Gewissens, die ich mit mir herumschleppte. Inzwischen konnte ich ihr kaum noch in die Augen sehen, ohne Scham dabei zu empfinden. Es fühlte sich falsch an, sie zu belügen.
Und anstatt ihr einfach die Wahrheit zu gestehen, tat ich was? Ich lief davon, versuchte ihr aus dem Weg zu gehen, indem ich irgendwelche halbgaren Ausreden erfand. Alleine der Blickkontakt mit ihr machte es mir jeden Tag schwerer, meine Lüge aufrechtzuerhalten. Tsuki hatte das nicht verdient. Das wusste ich. Und ich wusste auch, dass ich mit meinem Verhalten unsere Beziehung gefährdete. Schon wieder.
Immer wieder grübelte ich, wie ich es ihr am besten sagen sollte, damit sie es verstehen würde. Dass ich einfach nur meiner Mutter helfen wollte. Sie nicht im Stich lassen konnte. Auch, wenn sie damals nie für mich da gewesen war, so hatte ich doch gemerkt, wie leid es ihr tat und, dass sie alles versuchte, um ihre Fehler wieder gut zu machen. Und vielleicht... vielleicht war der Gedanke, endlich so etwas wie eine Familie zu haben, der Grund, warum ich nicht loslassen konnte, selbst, wenn es bedeutete, die verhasste Klinik meines Vaters zu leiten. Ich hätte es mir früher nie vorstellen können, doch tatsächlich gefiel mir die Arbeit dort besser als ich erwartet hatte. Gerade im chirurgischen Bereich hatte ich einiges dazugelernt, was meiner beruflichen Karriere sicherlich nicht schaden würde. Doch ich wusste auch, dass ich es übertrieben hatte.
Erst jetzt fiel mir auf, dass es wieder stiller geworden war. Das Klappern des Geschirrs war verklungen. Stattdessen hörte ich lange Zeit gar nichts. Dann drangen gedämpfte Schritte an meine Ohren, die sich langsam näherten.
Mein Magen verkrampfte sich unwillkürlich bei dem Gedanken, ihren Blicken erneut schutzlos ausgeliefert zu sein. Wie lange würde ich es noch verheimlichen können? Auch, wenn ich normalerweise ohne mit der Wimper zu zucken lügen konnte, so war es etwas anderes, wenn Tsuki diejenige war, die ich belügen musste. Weil sie mir wichtig war.
Ich rührte mich nicht, als ich hörte, wie sie sich mit vorsichtigen Schritten dem Bett näherte. Meine Hand bedeckte noch immer meine Augen, so als hätte ich eine starke Migräneattacke. Und auch, wenn ich tatsächlich leichte Kopfschmerzen verspürte und erschöpft war, so war es längst nicht so schlimm, wie ich es aussehen ließ.
"Chishiya."
Ihre Stimme bebte und ich wusste sofort, dass etwas passiert sein musste. Alleine die Tatsache, dass sie meinen vollständigen Namen verwendete, war alarmierend.
Kurzzeitig erwog ich mich schlafend zu stellen, doch verwarf den Gedanken schnell wieder. Ich hatte kein gutes Gefühl beim Klang ihrer Stimme. Träge nahm ich die Hand von meinem Gesicht, um sie anzusehen. Sie hielt etwas Leuchtendes in die Höhe, direkt vor meinen Augen. Geblendet kniff ich sie zusammen - es war ein Handy, mein Handy.
"Erklär mir das", sagte sie in einem Ton, der keine Widerrede duldete.
Ihr Blick war scharf wie ein Skalpell und in ihren Augen lag jetzt etwas, was mir fast einen Schauer über den Rücken jagte.
Mühsam versuchte ich, die Schrift auf dem Display zu entziffern, trotz des starken Zitterns ihrer Hände. Langsam setzte ich mich auf, während mein Herz mit jedem Wort, das ich las, weiter Richtung Magengrube sank.
Sie wusste es.
"Tsuki", begann ich mit beschwichtigender Stimme. "Ich kann das erklä-"
"Stimmt es?", unterbrach sie mich mit erregter Stimme, bevor ich weiter sprechen konnte. "Warst du die ganze Woche bei deiner Mutter in der Klinik, während ich auf der Arbeit war und geglaubt habe, dass du dich erholst?"
Ich seufzte, nickte jedoch langsam.
"Ich wollte es dir sagen, wirklich. Ich wusste nur nicht, wie."
Sie schnaubte fassungslos.
"Achso, also ist es okay mich anzulügen und einfach weiterzuarbeiten, nachdem du schon zusammengebrochen bist. Was muss eigentlich noch passieren, Chishiya? Was?"
Tränen glitzerten in ihren Augen. Eine Mischung aus Enttäuschung und Wut spiegelte sich darin wider. Auch, wenn ich wusste, dass sie mit allem Recht hatte, ging ich instinktiv zum Angriff über.
"Und du, Tsuki? Findest du es in Ordnung, unerlaubt meine Nachrichten zu lesen. Das ist immer noch privat."
Sie holte empört Luft und ließ das Handy sinken.
"Ach, aber es ist in Ordnung, mich anzulügen? Ich dachte, wir vertrauen einander, aber offensichtlich lag ich da falsch."
Ihr Blick verharrte eine Weile auf mir, als wartete sie auf etwas Bestimmtes. Noch immer standen Tränen in ihren Augen.
Ich selbst war inzwischen so in Rage, dass ich aufgestanden war und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, meine Hände unruhig in den Taschen meiner Hose vergraben, während ich versuchte, die richtigen Worte zu finden. Tsuki folgte mir mit ihrem Blick, und ich konnte den Schmerz in ihren Augen sehen, doch ich war zu aufgewühlt, um innezuhalten.
"Tsuki, du verstehst das einfach nicht. Meine Mutter braucht mich jetzt. Sie schafft es nicht alleine. Da kann ich nicht hier herum sitzen und Däumchen drehen, wenn ich weiß, dass in der Klinik alles drunter und drüber geht."
"Und was ist mit mir? Ich brauche dich auch, Chishiya", sagte sie mit flehender Stimme.
„Tsuki, ich will für dich da sein, aber meine Mutter ist gerade am Ende. Sie ist überfordert. Ich muss jetzt Prioritäten setzen."
"Deine Gesundheit sollte deine oberste Priorität sein. Und deine Mutter sollte das eigentlich verstehen. Aber dafür müsstest du ihr erstmal die Wahrheit sagen. Aber auch das tust du nicht."
"Es geht mir gut. Ich weiß schon, wann es zuviel ist", knurrte ich, obwohl ich wusste, dass es nur eine weitere Lüge war - eine Lüge, die ich mir selbst genauso einredete wie Tsuki. "Und was meine Mutter angeht. Ich wollte ihr keine unnötigen Sorgen bereiten."
"Also findest du es besser uns zu belügen? Mich und deine Mutter? Nakamura hat gesagt, dass du dich unbedingt schonen sollst. Aber stattdessen ignorierst du jede Warnung und tust, als wärst du unbesiegbar, während du dich dabei langsam selbst zerstörst. Dich und auch unsere Beziehung."
Tsuki hatte recht, und das wusste ich. Doch anstatt es zuzugeben, trieb mich mein Stolz dazu, mich weiter zu verteidigen.
"Du verstehst es einfach nicht", begann ich erneut, aber sie unterbrach mich sofort.
"Nein, Chishiya, du verstehst es nicht!" Ihre Stimme war nun lauter, fast verzweifelt. „Du kannst nicht immer alles alleine regeln, ohne an die Menschen zu denken, die dich lieben. Ich sehe zu, wie du dich Stück für Stück kaputt machst, und du erwartest von mir, dass ich einfach still daneben stehe und es geschehen lasse?"
Ich sah, wie Tränen über ihre Wangen liefen, aber sie wischte sie schnell weg, als würde sie nicht zulassen wollen, dass ich ihre Verletzlichkeit sah.
"Ich will nicht zusehen, wie du dich selbst zugrunde richtest, aber ich habe das Gefühl, dass meine Worte bei dir nicht ankommen. Es ist, als ob ich gegen eine Mauer rede."
"Tsuki...", versuchte ich erneut, doch meine Stimme war leise, fast erstickt vor Schuldgefühlen.
Sie schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. Dann sah ich dabei zu, wie sie zielstrebig zum Kleiderschrank ging und ihren kleinen Reisekoffer hervorholte. Wortlos begann sie, Sachen aus dem Schrank zu ziehen und sie in den Koffer zu werfen.
"Moment, was hast du vor?"
Sie hielt kurz inne und sah mich an. Ihre Miene war jetzt nicht länger nur von Wut, sondern vor allem von Enttäuschung und Traurigkeit gezeichnet.
"Ich gehe. Ich liebe dich, Chishiya, aber ich kann nicht länger dabei zusehen, wie du dich selbst zerstörst.."
"Tsuki, bitte lass uns das anders klären..."
"Es gibt nichts mehr zu klären. Wenn du endlich bereit bist, ehrlich zu sein - zu mir und zu dir selbst - dann können wir gern wieder reden. Aber bis dahin...", sie zögerte, "bis dahin brauchst du nicht nach mir zu suchen."
Die Härte ihrer Worte traf mich fast körperlich. Sie klang so verletzt, so eisig, dass ich sie kaum wiedererkannte. Und sie schien fest entschlossen zu sein, das durchzuziehen.
"Tsuki, tu das nicht!", sagte ich dennoch und griff sanft, aber bestimmt nach ihrer Hand, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten.
Ohne mich eines Blickes zu würdigen, machte sie sich von mir los und stopfte noch mehr Kleidung in den Koffer, die sie vollkommen lieblos hineinquetschte, als hätte jedes Kleidungsstück ihr persönliches Unrecht getan. Als sie fertig war und den Koffer schließen wollte, versuchte ich es erneut.
"Bitte, geh nicht!"
Noch nie hatte meine Stimme so flehend geklungen. Der Gedanke, dass sie mich hier alleine ließ, war unerträglich und führte mir vor Augen, wie sehr ich sie gekränkt hatte. Das war nichts, was mit einer simplen Entschuldigung wieder gut zu machen war. Das wusste ich. Doch das hielt mich nicht davon ab, es zu versuchen.
Sie nahm den Koffer und wandte sich von mir ab, um die Stufen nach unten zu nehmen. Schnell holte ich sie ein, um mich ihr in den Weg zu stellen.
"Es tut mir Leid. Wirklich! Ich hätte dich nicht anlügen dürfen, das weiß ich. Bitte bleib hier!"
"Du weißt, dass es nicht nur darum geht. Jetzt geh beiseite!", sagte sie harsch und verengte die Augen. "Nichts, was du jetzt sagst, kann mich umstimmen. Ich brauche Zeit zum Nachdenken."
Sie drängte sich an mir vorbei und ging die Treppen hinunter.
"Wo willst du überhaupt hin?", rief ich ihr hinterher. Sie antwortete nicht, doch ich hatte bereits eine starke Vermutung, wo sie hingehen würde. "Ich kann dich auch zu deinen Eltern fahren", bot ich ihr in meiner Verzweiflung an. "Du solltest um die Zeit nicht alleine draußen unterwegs sein."
Sie stöhnte.
"Lass es gut sein, Chishiya. Ich nehme mir ein Taxi. Wenn du wieder zur Besinnung gekommen bist, gib mir Bescheid."
Mit diesen Worten knallte sie mir die Tür vor der Nase zu. Aus einem Reflex heraus wollte ich ihr folgen, doch ich zögerte. Ich wusste, dass das jetzt sinnlos wäre. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen und wenn ich ehrlich zu mir selbst war- dann hatte ich es wohl nicht anders verdient.
Ich seufzte resigniert. Die Stille, die sie hinterlassen hatte, war beklemmend. Ich versuchte mich selbst zu beruhigen, indem ich mir sagte, dass sie bald von alleine wiederkommen würde, wenn sich ihr Ärger gelegt hatte. Mit diesen Gedanken ging ich wieder nach oben. Ich griff nach meinem Smartphone, das Tsuki achtlos auf das Bett geworfen hatte, und schrieb meiner Mutter, dass ich morgen rechtzeitig da sein würde, um die OP durchzuführen.
Als ich mich kurze Zeit später schlafen legte, spürte ich schmerzlich Tsukis Abwesenheit. Die Leere und ihre fehlende Wärme neben mir setzte mir mehr zu, als ich dachte. Nicht zu wissen, wo sie gerade war und wie es ihr ging, war jedoch das Schlimmste daran. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie zu ihren Eltern gegangen war. Doch inzwischen war es viel zu spät, sie zu kontaktieren, um es nachzuprüfen. Und wenn Tsuki ihnen von unserer Auseinandersetzung berichtet hatte, dann hielten sie aktuell ohnehin nicht viel von mir.
Doch nicht nur die Sorge um ihr Wohlbefinden verhinderte, dass ich den nötigen Schlaf fand, sondern auch mein Hirn, das verzweifelt versuchte, eine Lösung für unsere Situation zu finden. Eine Lösung, mit der alle leben konnten.
Die ganze Nacht verbrachte ich damit, unterschiedliche Szenarien durchzuwälzen und zu grübeln, wie es weitergehen sollte. Wie ich meine Mutter nach wie vor unterstützen konnte, aber Tsuki trotz allem dazu bringen konnte, mir wieder zu vertrauen und mir noch eine Chance zu geben.
Am darauffolgenden Morgen war ich völlig erschöpft, weil ich kaum ein Auge zugetan hatte, doch dafür hatte ich eine Entscheidung getroffen. Eine, die mir nicht leicht gefallen war, doch nach stundenlangem Grübeln war es womöglich das einzige, was meine Beziehung mit Tsuki noch retten konnte.
Als ich mir Frühstück machte, war alles unheimlich still. Normalerweise würde ich das Essen vorbereiten, während Tsuki den Tisch deckte. Unwillkürlich dachte ich an ihr unbekümmertes Lächeln, das jeden Morgen auf ihren Lippen lag, sobald sie mich erblickte. Sie war die Einzige, die es regelmäßig schaffte mich mit ihrem kindlichen Frohsinn anzustecken, selbst, wenn ich mal nicht so gut drauf war. Sie war das Yang in unserer Beziehung, die helle und harmonische Seite, die im Kontrast zu meiner dunklen, eher kalten Art stand. Sie ergänzte mich und ich sie. Noch nie war mir so schmerzlich bewusst, wie sehr ich sie brauchte, um mich vollständig zu fühlen.
Stattdessen hatte ich nun ihre Katze Nanya an den Fersen kleben, die mir lautstark protestierend um die Beine strich. Sie hatte die ganze Nacht auf Tsukis Bettseite gelegen, als hätte sie darauf gewartet, dass sie zurückkommt.
Ich gab ihr ein morgendliches Leckerli, um sie zu beruhigen, doch statt es zu fressen, sah sie mich fast vorwurfsvoll an, als wüsste sie, dass es allein meine Schuld war, dass Tsuki nicht mehr da war.
Ich bückte mich, um sie zu streicheln, doch sie entwand sich meinem Griff und machte kehrt, um auf ihren Kratzbaum zu springen. Dort fletzte sie sich hin und schaute demonstrativ aus dem Fenster, als würde sie mich absichtlich ignorieren.
Ich seufzte leise.
Jetzt war sogar schon eine Katze sauer auf mich. Schwerfällig setzte ich mich an den Tisch und nippte an meinem Kaffee, der heute kalt und bitter auf meiner Zunge lag. Die Leere in dem Apartment schien mich fast zu verschlingen und das Gefühl der Einsamkeit lastete schwer auf meinen Schultern. Nanya hatte sich inzwischen auf dem Kratzbaum zusammengerollt, doch ihre Haltung war nach wie vor missbilligend.
Mit einem weiteren Seufzer stellte ich die Tasse ab und zog mein Handy hervor. Zögerlich öffnete ich Tsukis Kontakt und starrte auf den blinkenden Cursor in dem Nachrichtenbildschirm.
Sollte ich ihr schreiben?
Und wenn ja, was?
Langsam begann ich zu tippen:
𝚆𝚘 𝚋𝚒𝚜𝚝 𝚍𝚞? 𝙸𝚌𝚑 𝚖𝚊𝚌𝚑𝚎 𝚖𝚒𝚛 𝚂𝚘𝚛𝚐𝚎𝚗.
Ich hielt inne, starrte auf die Worte. Löschte den letzten Satz wieder.
Löschte die ganze Nachricht. Resigniert legte ich es wieder beiseite.
Mein Blick wanderte erneut zu Nanya, die mich jetzt mit halbgeschlossenen Augen beobachtete. Der Ausdruck in ihren Augen schien zu sagen: "Worauf wartest du noch? Hol sie zurück."
"Ja ja, reg dich ab. Ich hol sie heute wieder, aber vorher muss ich noch was anderes klären", sagte ich, als könnte die Katze mich verstehen und stand dann auf, um mir meine Jacke überzuwerfen. Schnell schnappte ich meinen Rucksack und die Autoschlüssel und machte mich dann auf den Weg zur Klinik.
~
"Ich danke dir, Shun, dass du so kurzfristig einspringen konntest. Du hast mich gerettet."
Ich lächelte verkrampft. Ihre aufrichtige Dankbarkeit machte es noch schwerer, das anzusprechen, was ich ihr zu sagen hatte. Doch ich musste es tun. Sonst würde ich Tsuki endgültig verlieren.
"Können wir kurz reden, bevor die Dienstberatung anfängt?"
Meine Mutter runzelte kurz die Stirn als ihr Blick zu mir glitt.
"Aber sicher. Was gibt's?", erkundigte sie sich mit besorgter Miene.
Ihr schien der ernsten Ton in meinen Worten nicht entgangen zu sein.
"Gehen wir in Vaters Büro", sagte ich, weil ich das unmöglich mitten im Korridor klären konnte.
Auch wenn es inzwischen fast mein Büro war, fiel es mir immer noch schwer, es als meines zu betrachten.
Auf dem Weg dorthin holte ich zwei Kaffee am Automaten und stellte sie anschließend auf dem niedrigen Tisch der Sitzecke ab.
"Muss ich mir Sorgen machen?", fragte Mutter immer noch etwas stutzig und ließ sich langsam auf die Couch sinken.
Etwas zögerlich setzte ich mich ihr gegenüber und schob ihr wortlos einen Kaffee hinüber. Ich hatte beschlossen, es kurz und schmerzlos zu machen, wie das Abziehen eines Pflasters. Doch als ich in ihr Gesicht sah, ließ mich das kurz zögern. Der Stress in den letzten Wochen hatte sie um 5 Jahre altern lassen. Alleine wäre sie wahrscheinlich schon längst an der Last der Verantwortung zerbrochen. Rasch schob ich mein schlechtes Gewissen beiseite.
"Ich kann dir ab morgen nicht mehr helfen in der Klinik. Du solltest also möglichst schnell jemanden finden, der die Leitung übernimmt."
Ihre Miene fiel innerhalb von Sekunden in sich zusammen. Sie lehnte sich ein wenig nach vorn.
"Was meinst du? Ist etwas passiert?"
Ich drehte den Kaffeebecher in meiner Hand, wagte es kaum, sie anzusehen.
"Ich hatte letzte Woche einen Zusammenbruch im Krankenhaus während einer OP. Die zwei Jobs... das war wohl alles etwas zu viel in letzter Zeit. Laut den Ärzten soll ich mich schonen. Doch ich bin weiter hierher gekommen, weil es mir unangenehm war, es dir zu sagen und auch, weil ich dich nicht hängen lassen wollte."
Als ich meinen Blick zu ihr gleiten ließ, konnte ich sehen, wie sie versuchte, die Worte zu verarbeiten. Völlig perplex ließ sie ihren Kaffeebecher sinken. Die Sorge und die Schuldgefühle standen ihr ins Gesicht geschrieben.
Sie seufzte schwer.
"Shun... warum hast du mir das nicht früher gesagt?" Ihre Stimme war leise, fast tonlos, und sie klang verletzt. "Ich hätte dich doch nie darum gebeten, weiterzumachen, wenn ich gewusst hätte, dass es dir so schlecht geht. Du bist mein Sohn. Deine Gesundheit geht vor, immer."
Sie hielt inne und suchte meinen Blick, ihre Augen füllten sich mit Tränen.
"Es ist meine Schuld. Ich habe mich so darüber gefreut, dass du mir helfen willst, dass ich nicht gemerkt habe, wie sehr ich dich eingespannt habe. Ich hätte es wissen müssen, ich hätte es sehen müssen..."
Sie streckte ihre Hand aus, als wollte sie meine nehmen, hielt jedoch im letzten Moment inne, als ob sie unsicher wäre, ob sie das Recht dazu hatte.
"Du hättest mir das sagen müssen. Wir hätten eine Lösung gefunden. Ich... ich kann nicht riskieren, dich noch einmal zu verlieren."
Ich schüttelte den Kopf und nahm dann ihre Hand.
"Bitte gib dir nicht die Schuld! Es war meine Entscheidung dir zu helfen und wenn ich könnte, würde ich, wie versprochen, so lange bleiben, bis du einen Nachfolger für die Klinik gefunden hast, aber... ich fürchte, dass ich dieses Versprechen nicht halten kann. Ich habe Tsuki enttäuscht mit meinem Verhalten, habe sie sogar belogen und jetzt ist sie fort."
Ich schluckte unwillkürlich, als ich daran dachte. Für einen Augenblick starrte ich auf den Kaffeebecher, der vor mir auf dem Tisch stand, ohne ihn wirklich zu sehen. Der Gedanke an Tsukis Abwesenheit schnürte mir fast die Kehle zu.
"Verstehe. Sie macht sich sicher auch nur Sorgen um dich. Genau wie ich. Das Letzte, was ich will, ist, dass du wie dein Vater nur für die Klinik deine Gesundheit aufs Spiel setzt. Er hat sich nie die Ruhe gegeben, die er gebraucht hat und deshalb verstehe ich genau, wie es Tsuki geht. Sie will sicher nur das Beste für dich."
Ich nickte abwesend.
"Mach dir keine Sorgen um mich, Shun. Gestern ist eine vielversprechende Bewerbung eingegangen. Ich bin mir sicher, dass wir bald jemanden gefunden haben. Rede mit Tsuki und nimm dir Zeit, dich zu erholen."
Auf ihren Lippen legte sich ein ermutigendes Lächeln.
"Danke, Mutter", murmelte ich, obwohl ich noch immer Gewissensbisse verspürte, sie mit allem alleine zu lassen.
"Und jetzt geh! Ich will dich diese Woche hier nicht mehr sehen", sagte sie in strengem Ton und stand auf.
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich hatte schließlich noch etwas Wichtiges zu erledigen. Ich nahm einen letzten Schluck aus dem Becher und erhob mich dann ebenfalls. Mit einem dankbaren Nicken verabschiedete ich mich von meiner Mutter, bevor ich das Büro verließ. Es war an der Zeit, die Dinge endlich in Ordnung zu bringen und Tsuki wieder nach Hause zu holen.
Fortsetzung folgt....
Geplant war, dass ich nach diesem Kapitel fertig bin mit dieser Bonusgeschichte, aber ja, die Versöhnung steht noch aus und meine Wortzahl war schon wieder überstrapaziert. Deshalb wird es wohl nun noch einen Teil geben, der dann aber hoffentlich wirklich der Letzte ist.
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