Kapitel 9
Die darauffolgende Nacht gestaltete sich wieder einmal schwierig. Mein bellender Reizhusten ließ sich selbst mit dem Hustensaft nur schwer eindämmen und ich war mir fast sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde bis Chishiya mich deswegen rauswerfen würde. Immerhin hatte ich seit dem Antibiotika kaum noch Fieberschübe, nur nachts manchmal noch ein wenig Schüttelfrost und Gliederschmerzen.
Auch Chishiya schien es augenscheinlich etwas besser zu gehen, was mich tatsächlich überraschte angesichts meiner miserablen Arbeit mit Nadel und Faden. Er konnte seinen Arm zwar noch immer nur eingeschränkt bewegen, aber immerhin hatte die Wunde aufgehört zu nässen und sah schon etwas besser aus als am Vortag. Allerdings würde es wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen bis die Haut sich wieder vollständig regeneriert hatte.
Diesmal versuchte Chishiya still zu halten, als ich ihm die Salbe erneut auftrug, obwohl er mit Sicherheit trotzdem noch starke Schmerzen hatte.
Als ich den Verband anlegte, wurde ich wieder einmal von einem heftigen Hustenanfall unterbrochen. Ich drehte mich zur Seite und mir kamen dabei fast die Tränen, weil ich kaum noch Luft bekam.
"Hast du heute schon den Hustensaft genommen?", fragte Chishiya als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Ich nickte. "Wenn du hiermit fertig bist, solltest du es mal mit einem heißen Bad probieren. Ich glaube ich habe dort im Badschrank mal ein Erkältungsbad rumstehen sehen."
Ich hob den Kopf und blinzelte überrascht.
"A-aber....wäre das nicht eine ziemliche Vergeudung?", fragte ich unsicher.
"Wenn es dir hilft, dann nicht. Ich brauche auch meinen Schlaf, aber dein Husten ist wirklich unglaublich nervtötend."
"Na gut, wenn du einverstanden bist", sagte ich mit einer innerlichen Vorfreude und konnte seinen neuen Verband gar nicht schnell genug anlegen. Wie lange hatte ich mir schon ein entspanntes heißes Schaumbad gewünscht seit ich hier war? Und endlich ging dieser Wunsch tatsächlich in Erfüllung.
Chishiya schien zu bemerken, wie aufgelöst ich deswegen war, sagte jedoch nichts. Als ich fertig war und alles weggeräumt hatte, griff ich mir ein paar frische Sachen und eilte fast schon übermütig zum Badezimmer.
"Übertreib es aber nicht", rief mir Chishiya noch hinterher. Ich kicherte nur etwas verlegen und steckte nochmal den Kopf durch die Tür.
"Nein, niemals", flötete ich.
Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, lief ich zur Wanne um heißes Wasser einzulassen. Dann suchte ich in dem Schrank nach dem Erkältungsbad, dass Chishiya erwähnt hatte. Ich fand es relativ schnell und gab zwei Verschlusskappen davon ins Wasser.
Außerdem fand ich auch einen neu verpackten Damenrasierer sowie ein Schaumbad, das am Wannenrand stand und wahrscheinlich schon ewig nicht mehr verwendet wurde. Euphorisch zog ich mich aus und testete die Wassertemperatur mit meinem Zeh. Als es angenehm war, band ich meine Haare hoch und stieg hinein. Ich seufzte wohlig auf als ich mich langsam zurücklehnte. Das warme Wasser war eine echte Wohltat und der Duft nach Eukalyptus war fast ein wenig berauschend. Ich merkte wie meine Atemwege beim Inhalieren des frischen Geruchs automatisch freier wurden.
Meine Gedanken driften kurzzeitig etwas weg und ich begann mich zu fragen, was wohl meine Eltern und mein kleiner Bruder gerade machten. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihnen geschehen war als das Ganze hier anfing. Vielleicht hatten sie Glück und waren noch immer in der echten Welt. Das war zumindest das, was ich mir einredete. Und dann war da noch meine erste Klasse, die ich gerade erst übernommen hatte, bevor ich hierher kam. Ich hatte in Borderland bisher nicht ein einziges Kind gesehen also hegte ich die Hoffnung, dass sie verschont geblieben waren von diesem Alptraum. Ich seufzte leise und dachte dann an Chishiya, der gleich nebenan im Nachbarzimmer lag.
Auch wenn wir noch nicht viel Zeit miteinander verbracht hatten, so merkte ich doch, dass er nicht immer der war für den er sich ausgab. Trotzdem fragte ich mich seit unserem Gespräch gestern ständig wie man nur so einen schwachen Lebenswillen haben konnte und wie es möglich war, dass ihm Menschenleben so gleichgültig waren. Was musste in seinem jungen Leben passiert sein, dass er so geworden war?
Je mehr ich darüber nachgrübelte, umso bewusster wurde mir, dass ich Mitleid mit ihm hatte. Was ihm fehlte, war ein Grund, um zu leben. Er wollte etwas finden, dass ihn tief berührte, völlig egal, was es war, aber da er diese eine Sache bisher offensichtlich nicht gefunden hatte, wollte er sich lieber selbst aufgeben. Dabei hatte Chishiya alles, was sich die meisten Menschen wünschen würden: Er war intelligent, selbstbewusst, unerschrocken, witzig und zudem überaus attraktiv. Wenn man es genau nahm, dann hatte er das große Los gezogen. Wie konnte er trotzdem so todunglücklich sein, dass er tatsächlich glaubte die Welt wäre ohne ihn besser dran?
Womöglich lag die Lösung des Rätsels ja irgendwo in seiner Vergangenheit. Doch um ihn darauf anzusprechen, kannten wir uns eindeutig noch nicht gut genug. Und wer wusste schon, ob das in Zukunft jemals der Fall sein würde?
Ich nutzte den Moment in der Badewanne aus, um mich von den störenden Haaren zu befreien, die seit dem Beach überall an meinem Körper sprießten. Auch wenn ich im Augenblick krank war und wir in einer seltsamen apokalyptischen Welt gefangen waren, so sehnte ich mich danach mich wenigstens wieder ein bisschen weiblicher zu fühlen und mir so etwas wie Normalität beizubehalten.
Als ich die Ganzkörper-Rasur hinter mich gebracht hatte, strich ich zufrieden über meine glatten Beine. Ich stieg aus der Wanne, trocknete mich ab und zog wieder einmal den Morgenmantel über. Zum Schluss säuberte ich alles und schlüpfte rasch in meine frisch gewaschenen Schlafsachen.
Gegen Abend versuchte ich zum ersten Mal seit Tagen wieder etwas aufs Papier zu bekommen, denn die Ereignisse der letzten Zeit, hatten mich etwas zurückgeworfen. Seit dem Bad fühlte ich mich auch endlich ein wenig besser. Chishiya las währenddessen weiter in seinem Buch. Wenn er weiter so machte, hatte er es wohl in wenigen Stunden bereits ausgelesen. Irgendwann ließ er das Buch jedoch plötzlich sinken und hielt für einen Moment inne. Er legte es beiseite und richtete sich aufmerksam auf um Richtung Fenster zu sehen.
"Hörst du das?", fragte er und sah mich an.
"Ähm... was denn?", fragte ich ahnungslos. Doch im selben Moment hörte ich es auch. Es klang wie mehrere aufeinanderfolgende Explosionen, die allerdings noch ein paar Kilometer von uns entfernt sein mussten. Mit klopfendem Herzen stand ich auf und lief zum Fenster, um hinauszusehen. Mehrere dunkle Rauchschwaden stiegen vom Horizont auf und dicht darüber flog etwas riesiges Silbernes auf uns zu. Ich erstarrte.
"Das ist der Pik-König. Ich glaube er kommt hierher", sagte ich und sah ihn hilflos an.
Chishiya jedoch blieb relativ entspannt.
"Das musste ja früher oder später passieren. Geh vom Fenster weg und verhalte sich unauffällig, dann wird auch nichts passieren."
"Sollten wir vielleicht die Rollos schließen?", fragte ich mit brüchiger Stimme.
"Nein, das würde nur seine Aufmerksamkeit erregen. Lass alles so wie es ist und lösch nur das Licht", sagte er und schaltete in dem Moment seine Nachtlampe aus. Auch ich folgte seinem Beispiel und legte mich dann wieder auf meine Futonmatte. Ich verkroch mich schutzsuchend unter der Decke, während der Lärm draußen zunehmend lauter wurde. Es folgten mehrere Schüsse hintereinander und panische Todesschreie. Ängstlich zog ich mir die Decke über den Kopf und hielt mir die Ohren zu. Mein Körper war beinahe gelähmt vor Angst. Was wenn er uns doch bemerkte und hierherkam? War dann endgültig alles vorbei?
Irgendwann wurde der Tumult so ohrenbetäubend, dass ich es selbst mit Ohren zuhalten, noch laut und deutlich hören konnte. Der Pik-König schien sich jetzt in unmittelbarer Nähe unseres Appartements aufzuhalten und schlachtete direkt vor dem Haus der Reihe nach Menschen ab. Ich hörte ein paar Fahrzeuge, die mit quietschenden Reifen zum stehen kamen. Dann wieder Schreie. Dann Stille. Vorsichtig schaute ich etwas unter meiner Bettdecke hervor.
Chishiya lag völlig ruhig auf seinem Bett als würde er nur versuchen sich tot stellen. Die Ruhe, die jetzt eingekehrt war, war noch viel unheimlicher als die Schreie. Gleichmäßige Schritte waren zu hören nur wenige Meter von dem Fenster weg. Sie schienen sich kurzzeitig von uns zu entfernen, doch kamen kurz darauf nochmal wieder. Langsame bedrohliche Schritte, die offenbar auf der Suche nach weiteren Opfern waren. Irgendwann wurden sie wieder leiser... bis sie vollkommen verstummten.
Trotzdem blieb ich noch eine ganze Zeit lang erstarrt unter meiner Decke liegen und traute mich nicht zu sprechen.
"Ich denke er ist weg", sagte Chishiya irgendwann.
Seine Worte ließen mich erleichtert wieder aufatmen und erst da merkte ich, dass ich am ganzen Körper zitterte. Auch wenn ich schon einiges gewöhnt war nach unserer Zeit hier, war es immer noch schwer die Angst abzulegen. Und der Pik-König machte mir mehr Angst, als jedes andere Spiel bisher in Borderland.
Er tauchte auf, wann immer ihm danach war und tötete wahllos Leute mit teils übermenschlichen Waffen, mit denen er allen in Borderland überlegen war. Er war kurz gesagt eine brutale Killermaschine, die jeden niedermetzelte, der ihm in den Weg kam bis nichts mehr übrig war außer dieser tödlichen Stille nachdem alle Schreie restlos verklungen waren.
Ich lag noch eine ganze Weile völlig reglos in der Dunkelheit und lauschte meinem eigenen Atem, der sich nur langsam wieder normalisierte.
"Soll ich das Licht wieder anmachen?", fragte Chishiya als er merkte, dass ich mich nicht von der Stelle rührte.
"Nein."
"Er wird nicht nochmal zurück kommen. Da bin ich mir sicher."
"Ich weiß."
Er stöhnte leise.
"Wie du willst. Dann liegen wir eben im Dunkeln hier."
Es dauerte noch bis ich wieder die nötige Kraft hatte das Wort zu ergreifen.
"Was glaubst du... wie viele da gerade gestorben sind?", fragte ich mit gesenkter Stimme.
"Schwer zu sagen. Willst du nachsehen?"
"Was? Nein?", entfuhr es mir panisch. Schon bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht.
"Nun, eins steht fest: irgendwann müssen wir wieder raus", sagte er und stand dann langsam von seinem Bett auf. Er ging zum Fenster und sah prüfend hinunter auf die Straße. Dann stöhnte er. "Da hat mir einer mit seinem Wagen fast die Haustür zugeparkt. Wie unhöflich." Ich ließ meinen Kopf fassungslos in mein Kissen sinken. Manchmal hätte ich gern Chishiyas Probleme. Dann wäre die Welt auf jeden Fall einfacher. "Ich werde morgen mal die Lage prüfen, sobald es hell ist. Heute hat das keinen Sinn mehr."
Ich nickte immer noch etwas verstört. Erst dann schaltete ich das Licht wieder ein.
Die nächste Nacht bescherte mir zusätzlich zu dem Husten nun auch noch Alpträume. Ich träumte wie ich angsterfüllt vor dem Pik-König wegrannte und er mir stets dicht auf den Fersen war. Die Panik, die ich währenddessen empfand, war so real, als wäre es die Wirklichkeit. Plötzlich stolperte ich und kam nicht mehr rechtzeitig auf die Füße.
Als ich aufblickte, stand er direkt vor mir und zielte mit der Waffe genau auf meinen Kopf. Als er abdrückte, hielt ich mir meine Hände vors Gesicht, als würde das irgendetwas nützen. Ich hörte den Schuss laut und deutlich, aber nichts passierte. Dann merkte ich jedoch wie jemand neben mir umkippte und ins Gras fiel. Als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es Chishiya war, der sich für mich geopfert hatte.
Er lag vor mir, blutüberströmt, aber mit einem zufriedenem Lächeln auf den Lippen, während ich mich über ihn gebeugt hatte und bitterlich weinte. Ich weinte so sehr, dass ich kaum noch Luft bekam. Mein Atem wurde hektischer und ich begann zu husten. Dann spürte ich wie etwas meine Schulter berührte. Ich zuckte heftig zusammen und sah dass Chishiya neben meiner Futonmatte hockte. Völlig aufgelöst wischte ich meine Tränen aus dem Auge.
"Du hast laut geweint. Da wollte ich mal sehen, ob alles in Ordnung ist", sagte er mit beruhigender Stimme. In dem Moment als ich ihn ansah, tauchte wieder das Bild vor meinem inneren Auge auf wie er blutend vor mir gelegen hatte und lächelte. Es war fast so als hätte es sich auf ewig in meinem Hirn eingebrannt.
"Nur Alpträume...", nuschelte ich immer noch etwas konfus und fuhr mir nervös durch die Haare. Der Schmerz, den ich gefühlt hatte, als er direkt vor meinen Augen starb, war mit keinem körperlichen Schmerz vergleichbar, den ich bisher empfunden hatte.
"Verstehe. Ist ja auch kein Wunder nach allem...", sagte er ungewohnt sanft.
"Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht wecken", sagte ich.
"Hast du nicht. Willst du, dass ich das Licht lieber anlasse?"
Ich nickte unsicher.
"Gut, ich dimme es nur etwas", sagte er und dann ging er wieder zu seinem Bett zurück.
Ich war etwas überrascht über seine ungewohnte Fürsorglichkeit. Hatte ich tatsächlich so schlimm geweint, dass er sich Sorgen um mich gemacht hatte?
Chishiya dimmte die Lampe auf die niedrigste Stufe und legte sich wieder hin.
"Versuch nicht mehr daran zu denken" , sagte er dann und drehte sich von mir weg.
Wenn das nur so einfach wäre...
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