Kapitel 8
Als ich hörte wie er wieder aus dem Badezimmer kam, lag ich noch immer reglos da und starrte die nackte weiße Wand vor mir an. Ich fühlte mich inzwischen so leer, dass ich nicht einmal mehr in der Lage war zu weinen. Für einen Augenblick dachte ich tatsächlich darüber nach einfach zu verschwinden, doch andererseits hätte ich ein schlechtes Gewissen dabei Chishiya in seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung hier alleine zu lassen. Er hatte schließlich sonst niemandem, der sich um ihn kümmerte und zu einem gewissen Teil fühlte ich mich auch schuldig für seine Situation.
Nach einigen Minuten fasste ich mir ein Herz und schluckte meinen Ärger so gut es ging hinunter. Was brachte es ihm ewig die kalte Schulter zu zeigen? Es verursachte nur noch mehr Schmerzen in mir. Zudem war er einfach nur ehrlich gewesen und das rechnete ich ihm an. Menschen, die die Wahrheit über die Gefühle Anderer stellten, erschienen zwar empathielos und kalt, aber insgeheim hatte ich sie immer für diese Eigenschaft bewundert.
Menschen wie Chishiya hatten ihren eigenen moralischen Kodex und wer den nicht akzeptieren konnte, wurde schlichtweg übergangen. Ja, er kam oft rücksichtslos und egoistisch rüber, aber dennoch sprachen einige seiner Handlungen eine teils ganz andere Sprache. Meine Intuition sagte mir, dass da noch mehr war unter der rauen Oberfläche, tief verborgen, aber dennoch in einigen Momenten durchaus sichtbar für die Menschen, die genauer hinschauten.
Allmählich kehrte mein Optimismus zurück und ich richtete mich auf, weil ich nicht länger lethargisch die Wand anstarren wollte. Ich erhob mich und ging zielstrebig zu dem Schrank, wo sich der Erste-Hilfe-Kasten befand. Ich öffnete ihn und entnahm dann frisches Verbandsmaterial. Außerdem fand ich darin noch eine Wundheilsalbe mit Zink, die ebenso hilfreich sein könnte. Dann desinfizierte ich meine Hände mit dem Wodka und kehrte mit den Sachen zu Chishiyas Bett zurück. Er hob dezent erstaunt eine Augenbraue und musterte mich dann mit wachsamer fast schon etwas neugieriger Miene, schien aber abzuwarten, dass ich das Wort ergriff.
"Wir sollten deinen Verband wechseln", sagte ich mit ruhiger sachlicher Stimme.
"Du bist ja immer noch hier. Entweder bist du noch naiver als ich dachte oder einfach nur dumm."
Ich holte tief Luft und versuchte mich nicht von seinem Verhalten provozieren zu lassen.
"Nenne es wie du willst, aber ich habe jedenfalls nicht vor abzuhauen."
Er seufzte und rollte etwas mit den Augen.
"Nicht mal beim Sterben hat man seine Ruhe. Also schön..."
Er richtete sich etwas auf und setzte sich dann auf die Bettkante mir gegenüber, damit ich an den linken Arm herankam.
Zögerlich nahm ich ihn und strich kurz probehalber über den Verband. Die Wunde hatte erheblich genässt in den letzten Stunden.
"Juckt es noch?", fragte ich so professionell wie möglich.
"Etwas."
Vorsichtig öffnete ich den Verschluss des Verbandes und wickelte ihn Stück für Stück ab. Beim Anblick der Wunde wurde mir wieder etwas flau im Magen. Die Stiche der Naht schienen beinahe willkürlich zu sein. Hatte ich wirklich so unsauber gearbeitet?
Etwas beschämt legte ich die Verletzung frei, während ich stumm auf Chishiyas Urteil wartete, was mit Sicherheit nicht gerade positiv ausfallen würde. Er musterte die Naht mit einem vollkommen nüchternem Blick.
"Falls das je verheilt, wird das wohl eine hässliche Narbe geben."
Zu meinem eigenen Erstaunen huschte ein kurzes siegessicheres Lächeln über meine Lippen.
"Damit du mich nie vergisst."
Jetzt grinste Chishiya.
"Ah verstehe. Du genießt das? Nun, ich vermute ich habe das verdient, nicht wahr?"
"So war das nicht gemeint", widersprach ich.
"Warum bist du noch hier? Ist es wegen des warmes Wassers oder wegen des Stroms? Wegen mir wird es wohl kaum sein."
"Du irrst dich", sagte ich schroff. "Ich tue es, weil dein Leben genauso viel wert ist, wie jedes Andere.
Er sah mich für einige Sekunden lang an, als würde er versuchen bis auf den Grund meiner Seele zu blicken. Diesmal war sein Grinsen vollkommen aus dem Gesicht verschwunden.
"Glaubst du das wirklich?"
"Ja."
"Obwohl ich also ein verabscheuungswürdiges Individuum bin, denkst du dass mein Leben es trotzdem wert ist gerettet zu werden?"
"Das bist du nicht. Verabscheuungswürdig. Glaub mir, seit ich hier bin, habe ich schon ganz andere Menschen kennengelernt. Schlimmere und selbstsüchtigere Menschen als dich. Du bist nicht so furchtbar wie du mir vielleicht einreden willst...inklusive dir selbst. Ich weiß nicht, warum du das tust, Chishiya, aber du solltest damit aufhören. Es ist vollkommen okay seine Schwächen zu haben, aber du solltest dich nicht durch sie definieren." Ich öffnete den Deckel der Zinksalbe und trug dann eine dünne Schicht auf seine Haut auf. Chishiya zuckte zurück als ich mit der Wunde in Berührung kam. "Halt doch still", wies ich ihn an und hielt den Unterarm fester in meinem Griff.
"Schwester Tsuki hat gesprochen", entgegnete er zynisch.
"Nun vielleicht hätte ich ja Krankenschwester werden sollen."
"Dann solltest du aber noch etwas an deiner Präzision arbeiten. Diese Stiche sind... warst du betrunken, als du die gemacht hast?"
"Ha ha, nein", entgegnete ich trotzig. "Ich war in Panik und außerdem hab ich sowas noch nie gemacht."
Ich riss die Verpackung mit dem Verbandsmaterial auf und nahm es heraus. Dann begann ich seinen Arm neu zu verbinden.
"Das wird nicht halten, wenn du es so lasch bindest."
Ich knurrte und zog es unverzüglich fester bis Chishiya leise aufstöhnte.
"Schon gut. Ich hab's verstanden."
"Dann halt jetzt den Rand, sonst darfst du es gleich selbst machen." Ich warf ihm einen kurzen Todesblick zu. Chishiya beobachtete schweigend wie ich meine Arbeit fortführte. "Es stimmt offenbar, was die Leute sagen: Ärzte sind die schlimmsten Patienten", erzählte ich beiläufig, als ich den Verband schloss.
"Noch bin ich nur Medizinstudent."
"Aber du willst Arzt werden oder nicht?", fragte ich plötzlich neugierig.
"Das hatte ich vor."
"Warum eigentlich?", wollte ich wissen und hoffte, dass ich mit der Frage nicht zu weit ging.
Er hielt einen kurzen Moment inne und sah mich dabei nachdenklich an, ehe er zu einer Antwort ansetzte:
"Ich dachte es würde mir dabei helfen herauszufinden, ob mich der Verlust von Menschenleben irgendwie berühren würde."
Seine Antwort erschien mir ehrlich, aber sie betrübte mich auch zutiefst. Man konnte ihn dafür verurteilen, dass ihm Menschenleben so wenig bedeuteten, aber mich beeindruckte vor allem, dass er um seine Fehler wusste und immerhin alles versuchte um ein besserer Mensch zu werden als er im Moment war.
"Ich vermute bisher erfolglos?", fragte ich zaghaft.
"Sozuzagen."
"Ist das der Grund, warum du sterben willst?"
Eine längere Stille entstand, bevor er seine Antwort gab.
"Ja."
Ich knetete etwas unsicher meine Hände in meinem Schoß und senkte den Blick.
"Verstehe", sagte ich. "Aber, was, wenn ich dir sage, dass ich nicht will, dass das passiert?"
Etwas scheu sah ich wieder zu ihm auf. Sein Blick war ein wenig geringschätzig, aber auf eine nette Art.
"Dann ist dir wohl nicht mehr zu helfen."
"Das macht nichts. Ich war noch nie wie alle anderen und ich werde jetzt nicht damit anfangen", sagte ich und lächelte ihm ermutigend zu. "Ich bin mir sicher am Ende wird alles gut und wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende."
Chishiya runzelte ein wenig die Stirn, sagte aber eine ganze Weile lang nichts. Stattdessen sah er mich geraume Zeit nur an als wäre er sich gerade über etwas wichtigem im Klaren geworden.
Als es zu unangenehm wurde, räusperte ich mich und brach den Blickkontakt ab.
"Du kannst dich jetzt wieder hinlegen. Ich bin fertig", sagte ich und nahm den alten Verband um ihn zu entsorgen. Dann griff ich nach der Schüssel mit dem Haferbrei die noch immer unangerührt auf dem Nachttisch stand. "Ich kann dir neuen machen, wenn du willst. Der hier ist inzwischen viel zu zäh", sagte ich mit einem Blick in die Schale.
Er nickte nur stumm und schien dabei noch immer tief in Gedanken versunken zu sein. Nur wenige Minuten später kam ich mit einer neuen Portion an sein Bett zurück. Chishiya hatte sich inzwischen wieder hingelegt und starrte nachdenklich zur Decke. Ich hielt ihm einen Löffel hin und er griff zögerlich danach. Dann stellte ich die Schüssel auf einem Tablett wieder auf seinen Schoß. Neben die Schüssel hatte ich eine Tasse Tee, eine Penicillin sowie zwei von seinen Lieblingskeksen hingelegt. Als er sie sah, hob er seinen Blick und musterte mich mit fast schon interessierter Miene. Er griff jedoch zuerst nach der Penicillin und hielt sie etwas skeptisch ins Licht.
Währenddessen drehte ich etwas nervös an einer Haarsträhne.
"Das ist keine Paracetamol, richtig?", fragte er und sah mich an.
Ich kicherte verlegen.
"Also... weißt du..."
Er seufzte.
"Warum gibst du mir Penicillin?", wollte er jetzt wissen.
"Vorhin da...ging es dir ziemlich schlecht. Du hattest Fieber und hast wirres Zeug erzählt. I-iich dachte-..."
"Hör auf zu denken!", unterbrach er mich harsch. "Das Penicillin war nicht für mich gedacht."
Sein Ton klang fast schon ärgerlich.
"Ich komme schon klar", sagte ich mit fester Stimme. "Es geht mir schon viel besser."
Um ehrlich zu sein, war das eine Lüge, denn mein Husten hatte sich nicht wesentlich verbessert und mein rasselnder Atem war immer noch unüberhörbar. Trotzdem versuchte ich dabei einigermaßen überzeugend zu klingen, doch ich sah an seinem Blick, dass er mir das nicht abkaufte.
"Wie viele hast du schon genommen?", fragte er.
"Zwei. Gestern Abend und heute Morgen. Und dir habe ich eine bisher gegeben. Also haben wir noch sieben übrig."
"Sechs, wenn ich diese hier nehme. Die werden nicht für uns beide reichen. Das ist dir hoffentlich klar."
Ich nickte schuldbewusst.
"Ich weiß, aber ich wollte nur den Schaden wieder gut machen, den ich angerichtet habe. Es ist immerhin meine Schuld, dass dir das passiert ist."
Chishiya schnaubte abfällig.
"Ist das der wahre Grund, warum du noch hier bist? Wegen deiner Schuldgefühle?"
Ich starrte ihn perplex an und schüttelte dann den Kopf.
"Was? Nein? So ist das nicht. Aber dennoch stimmt es... ohne mich wäre das alles nicht passiert."
"Schon möglich, aber wenn wir ehrlich sind, wäre ich ohne dich auch schon tot."
Diesmal wurden meine Wangen etwas warm bei seinen Worten, obwohl sie weder liebevoll noch sonderlich dankbar klangen.
"Nimm sie einfach bitte!", sagte ich in flehendem Ton. "Wir können uns ja reinteilen bis sie leer sind und vielleicht geht es einem von uns bis dahin ja wieder so gut, dass wir rausgehen und neue Antibiotika besorgen können."
Chishiya sah noch nicht hundertprozentig überzeugt aus von meinem Vorschlag.
"Da gibt es nur ein Problem. Es gab kein weiteres Antibiotika in der Apotheke, wo ich war."
"Aber vielleicht woanders."
"Ich wüsste, wo eventuell noch etwas ist, aber das ist ein längerer Fußmarsch bis dorthin. Ich bezweifle, dass das einer von uns in unserer jetzigen Situation schaffen würde."
Ich lächelte jedoch zuversichtlich.
"Am Besten wir machen uns darüber erst Gedanken, wenn es soweit ist. Das Wichtigste ist jetzt, dass wir uns auskurieren so gut es eben möglich ist mit unseren vorhandenen Mitteln und dann sehen wir weiter."
Ich merkte Chishiya an, dass er noch immer nicht angetan war von meiner Idee, aber es sah so aus als würde er dennoch nachgeben.
"Schön. Meinetwegen", sagte er irgendwann und nahm die Tablette, bevor er sich seinem Essen zuwandte. Ich atmete etwas erleichtert auf und hoffte, dass ihm die Antibiotika helfen würden das Ganze unbeschadet zu überstehen. Die Zeit würde es zeigen.
Eine Frage brannte mir jedoch noch auf den Lippen.
"Als du gesagt hast, dass das Penicillin bei dir nicht helfen würde..."
"Ja, das war gelogen."
Ich nickte und lächelte etwas.
"Das dachte ich mir. Du wolltest nur, dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss. Warum?", wollte ich wissen.
Er hielt für einen Augenblick inne und dachte nach.
"Schätze, ich hatte wieder einen dieser Momente."
Er sah mich nicht an, als er das sagte, sondern nahm stattdessen einen Löffel mit Haferbrei.
Ich schmunzelte etwas in mich hinein.
"Diese Momente scheinen ja in letzter Zeit gehäuft aufzutreten."
Diesmal bekam ich keine Antwort, sondern nur ein fast unmerkliches aber amüsiertes Lächeln.
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