Kapitel 5
Ich starrte noch eine Weile zur Tür tief in Gedanken versunken und merkte, dass die Tabletten langsam zu wirken begannen, denn ich fühlte mich wieder ein wenig besser.
Trotzdem war ich nach wie vor träge und schlapp auf den Beinen. Kraftlos stand ich auf und lief etwas ziellos durch das Apartement und nahm dabei jeden Winkel etwas genauer unter die Lupe. Ich griff etwas neugierig nach dem Buch, das Chishiya am Vortag gelesen hatte und las mir kurz die Inhaltsangabe durch. Der Roman klang gar nicht so übel, wie ich zugeben musste. Als ich es wieder beiseite gelegt hatte, ging ich um das Bett herum und sah, dass er seine weiße Kapuzenjacke mit einem Kleiderbügel zum Trocknen vors Fenster gehangen hatte. Meine Hand glitt kurz prüfend über den glatten Stoff. Dann fiel mein Blick auf sein Bett mit der flüchtig zusammengefalteten Decke.
Bevor ich lange darüber nachgedacht hatte, ließ ich mich vorsichtig auf der Matratze nieder und vergrub meine Nase in seinem Kissen. Ich war nicht enttäuscht. Der herbe, aber frische Geruch erinnerte mich ein wenig an Teebaumöl. Sein Duft und das bequeme Bett zusammen fühlten sich an wie ein Paradies für meine Sinne und je länger ich so da lag, desto weniger wollte ich wieder zu meiner harten Futonmatte am Boden zurückkehren. Irgendwann hob ich jedoch völlig erschüttert über mich selbst den Kopf. Was zur Hölle tat ich hier eigentlich? Chishiya hatte Recht. Ich war eine geisteskranke Stalkerin. Nur so jemand würde völlig benebelt an dem Kissen seines Zielobjekts herumschnuppern, oder? Und die Schmerzmittel taten wohl ihr übriges...
Ich setzte mich kopfschüttelnd wieder auf und trennte mich schweren Herzens von der weichen Matratze. Dann versuchte ich mühevoll das Bett wieder in seinen Urzustand zu bringen und betrachtete anschließend unschlüssig mein Resultat. In meinem Kopf spann ich mir schon seltsame Ausreden zusammen wie:
"Ich bin gestolpert und auf dein Bett gefallen, Chishiya." Bei dem Gedanken musste ich haltlos kichern.
Nach einigen Minuten sinnlosen Umherirrens beschloss ich dann etwas Sinnvolles zu tun und Duschen zu gehen, solange ich mich noch einigermaßen fit dafür fühlte. Im Bad fand ich noch einen weiteren Morgenmantel mit einem Kirschblüten-Motiv, den ich mir nach dem Duschen fix überzog. Meine nassen Haare hatte ich mir in einem Turban um den Kopf gewickelt.
Das Atmen fiel mir jedoch von Sekunde zu Sekunde wieder etwas schwerer. Wenn ich nur irgendwas zur Inhalation da hätte. Keuchend stützte ich mich auf dem Waschbecken ab und wünschte für einen Augenblick, dass Chishiya schonwieder zurück wäre von seinem Ausflug. Als angehender Mediziner hätte er bestimmt irgendeinen Tipp für mich parat. Schwächelnd ging ich in die Küche und versuchte meine Haare nebenher etwas trocken zu rubbeln.
Ich sah das dreckige Geschirr im Abwasch stehen und beschloss wenigstens es schnell abzuwaschen, um mich zumindest etwas nützlich zu machen. Danach war ich so fertig, als hätte ich gerade ein tödliches Pik-Spiel hinter mich gebracht. Daher ließ ich mich unendlich erschöpft wieder auf meine Futonmatte sinken und fiel schon bald darauf in einen tiefen Schlummer.
Ein leises Klirren ließ mich wieder aus dem Schlaf schrecken. Anschließend hörte ich wie jemand einen Schlüssel ins Schloss steckte und ihn herumdrehte. Ich richtete etwas panisch meinen Oberkörper auf und zog den Morgenmantel hektisch enger, unter welchem ich im Moment, abgesehen von meiner Unterwäsche, nichts weiter trug. Die Tür öffnete sich und Chishiya betrat den Raum.
"Da bist du ja wieder", sagte ich erleichtert.
Chishiya sah mich jedoch nicht einmal an. Er ließ seinen Rucksack unsanft auf den Boden fallen und taumelte zielgerichtet zu seinem Bett. Kurz davor jedoch sah ich wie seine Beine nachgaben und er sich mit dem Rücken gegen die Säule sinken ließ. Als ich erkannte, dass etwas nicht stimmte, sprang ich sofort auf und eilte zu ihm.
"Chishiya, was ist los?", rief ich fast hysterisch und ging vor ihm in die Knie. Sein Gesicht war kreidebleich und sein Blick starrte etwas abwesend ins Leere. Als ich an ihm hinabsah, fiel mir zum ersten Mal auf, dass er ein Stück Stoff fest gegen seinen Unterarm presste. "Was ist passiert?", fragte ich erneut mit drängender Stimme als ich sah, dass sein hochgekrempelter Jackenärmel voller Blut war.
Sein diffuser Blick wurde wieder fokussierter und endlich schien er mich wahrzunehmen.
"Nichts. Mir geht's gut", presste er angestrengt hervor. Ich konnte nicht fassen, was er da sagte.
"Nichts?", wiederholte ich ungehalten. "Ist das dein verdammter Ernst?"
Chishiya schaffte es immerhin noch genervt mit den Augen zu rollen.
"Sei nicht so dramatisch. Ist nur ein Kratzer. Hol mir einfach den Erste-Hilfe-Kasten! Der ist in dem Schrank dort drüben."
Ich folgte seinem Blick und sprintete hinüber, um ihn zu holen. Glücklicherweise war der große Alu-Koffer leicht zu finden. Als ich wieder bei ihm war, öffnete ich ihn etwas unsicher.
"Sag mir, was ich tun soll!", entgegnete ich etwas verzweifelt und merkte wie meine Stimme vor Aufregung bebte.
"Lass mich einfach kurz allein, ja? Ich mach das schon."
Ich starrte ihn völlig entgeistert an als hätte er den Verstand verloren.
"Das werde ich garantiert nicht tun. Ich bin zwar kein Arzt, aber ich bin auch nicht vollkommen bescheuert, also hättest du jetzt die Güte mir zu sagen, was genau vorgefallen ist?", engegnete ich aufgebracht. Ich merkte wie Chishiyas Griff um seinen verletzten Arm langsam nachließ und damit ungehindert Blut aus der Wunde trat, also half ich ihm stattdessen dabei das Stückchen Stoff weiter gegen seine Wunde zu pressen.
"Es ist eine Schussverletzung", brachte er irgendwann hervor.
Kurz darauf merkte ich wie sein Kopf immer öfter zur Seite sackte als ob er zunehmend sein Bewusstsein verlor, aber versuchte noch dagegen anzukämpfen.
"Chishiya, bleib bitte bei mir!", flehte ich hilflos. "Sag mir, was ich tun soll!"
Ich war völlig überfordert und konnte kaum klar denken.
Doch dann kam mir plötzlich ein kurzer Geistesblitz und ich eilte zu meiner Futonmatte und schnappte mir die Paracetamol und eine Wasserflasche. Als ich wieder bei ihm war, drückte ich zwei Stück mit zitternden Händen aus der Verpackung. Da Chishiya erneut weggetreten war, legte ich eine Hand auf seine Schulter und schüttelte ihn kurz. Das schien ihn für einen Augenblick wieder zurück in die Gegenwart zu versetzen.
"Hier", sagte ich und hielt ihm die Tabletten hin, während ich den Stoff weiter fest gegen seinen Arm presste. Ohne Fragen zu stellen, nahm er sie und schluckte sie zusammen mit dem Wasser hinter. Ich kramte etwas verzweifelt in dem Medizin-Koffer und fand schnell wonach ich gesucht hatte. Ich hatte absolut keine Ahnung wie dieses schwarze Band hieß, aber ich hatte schon in Filmen gesehen, dass man es dafür nutzte, um den Blutfluss zu unterbinden. Ich lockerte es und hob vorsichtig seinen verletzten Arm ein wenig an und schob es hoch bis zu seinem Oberarm. Dann verschloss ich es fest mit dem Klettverschluss.
"Du musst es... zudrehen." Chishiyas Stimme war nur noch ein schwaches Hauchen und für einen Moment war ich überfragt. Ich betrachtete mein Werk erneut etwas hilflos, doch dann machte es Klick. Schnell drehte ich den kleinen Stift an dem Band ein paar Mal bis Chishiya schmerzvoll aufstöhnte. "Das reicht."
"'Tschuldige...", sagte ich beklommen. "Was jetzt?"
Ich sah ihn ernsthaft besorgt, aber auch erwartungsvoll an.
"Die Kugel muss raus."
Ich nickte übereifrig.
"Okay, die Kugel", wiederholte ich wie ein Mantra und nickte, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich das anstellen sollte. Ich versuchte sowas wie eine Pinzette in dem Koffer ausfindig zu machen und als ich endlich eine gefunden hatte, hielt ich sie entschlossen hoch.
"Beim Tisch...", begann Chishiya dann zusammhanglos, doch seine letzten Worte gingen in einem angestrengtem Keuchen unter.
"Was soll dort sein?", fragte ich stirnrunzelnd.
"A-a...alkohol."
Ich blickte hinüber und sah tatsächlich eine Flasche Wodka neben dem Tisch stehen.
"Ich nehme mal an, der ist nicht zum Trinken gedacht..."
"Gut erkannt."
Mich verwunderte, dass er es trotz seiner Situation noch schaffte seinen sarkastischen Unterton aufrechtzuerhalten. Ich holte die Flasche und sah ihn dann fragend an. Doch Chishiya schien wieder im Delirium zu sein. Vorsichtig nahm ich das Tuch von seiner Wunde, das inzwischen blutgetränkt war und begutachtete sie zum ersten Mal. Sie war wesentlich kleiner als ich angenommen hatte und blutete jetzt kaum noch. Mein Puls raste förmlich als ich die Flasche Wodka öffnete und vorsichtig ein paar Tropfen auf seine Verletzung gab. Diesmal stöhnte er laut auf.
"Verdammt. Du hattest mich vorwarnen können", fuhr er mich an.
"Ich weiß nicht, ob das besser gewesen wär."
Er antwortete nicht. Doch das war verständlich. Ich atmete tief ein und kippte mir noch etwas Wodka über die Hände. Der Gestank ließ mich angeekelt meine Nase rümpfen. Dann griff ich erneut nach seinem Unterarm und platzierte ihn so, dass ich eine gute Sicht darauf hatte.
"Licht", murmelte Chishiya undeutlich.
Ich hielt einen Moment inne.
"Das ist eine gute Idee", sagte ich und ging zum Lichtschalter, obwohl es noch taghell draußen war, aber angesichts dem, was ich gleich tun musste, konnte es wohl nicht hell genug sein. Meine Finger begannen wieder stärker zu zittern unter der Anspannung, als ich mich mit der Pinzette der Wunde näherte.
Ich wollte ihm nicht wehtun, aber fürchtete, dass es sich unter den gegebenen Umständen nicht vermeiden ließ und ich ihm nur auf diese Weise helfen konnte. Als das Metall in seine Haut eindrang, keuchte er dumpf auf, als wollte er krampfhaft versuchen seine Schmerzenslaute währenddessen zu unterdrücken. Selbst schwer verwundet schaffte er es noch einigermaßen die Fassung zu bewahren. Ganz im Gegensatz zu mir. Mein Atem beschleunigte sich rasant und diesmal hatte ich das Gefühl mir würde jemand die Kehle zudrücken. Ich hustete nach Luft ringend in meine Armbeuge.
Währenddessen zuckte Chishiyas Unterarm unkontrolliert hin und her. Als sich mein Atem wieder etwas normalisiert hatte, griff ich bestimmt danach um ihn still zu halten. Es reichte schließlich schon, wenn meine Hände unruhig waren bei dem was ich tat. Ich startete einen zweiten Versuch.
"Sei nicht so zärtlich! So wirst du sie nie rausbekommen", entgegnete er plötzlich scharf.
Ich war etwas überrascht, dass er mit mir sprach, denn ich hatte angenommen er wäre schon längst nicht mehr bei vollem Bewusstsein. Doch seine Worte klangen inzwischen wieder einigermaßen klar bei Verstand und ich fragte mich, ob es die Schmerztabletten waren, die ihren Teil dazu beitrugen.
"Okay..."
Ich versuchte es erneut, diesmal etwas weniger rücksichtsvoll, was zugegeben wirklich schwer für mich war. Irgendwann stieß ich mit der Pinzette auf hartes Metall. Das musste sie sein. Ich grub mich etwas tiefer in sein Fleisch. Es war fast unmöglich sein schmerzvolles Stöhnen nebenbei auszublenden. Nach weiteren qualvollen Minuten zog ich sie hervor und betrachtete sie vollkommen fasziniert. Unfassbar, dass dieses winzige Ding so einen großen Schaden anrichten konnte.
Ich legte die Kugel auf dem blutverschmierten Tuch ab, dann sah ich zu Chishiya, der erneut am Rande der Bewusstlosigkeit umhertrieb.
"Sie ist raus", raunte ich ihm zu. "Was soll ich jetzt tun?"
Seine Augenlider flatterten wieder etwas auf und ich ahnte die Antwort schon, bevor er sie mir gab.
"Nähen", murmelte er geistesabwesend.
Genau das hatte ich befürchtet, denn ich war mir ziemlich sicher, dass das der Punkt war, an dem ich mit Sicherheit versagen würde. Dennoch wusste ich, dass ich es wenigstens probieren musste. Auch spezielle Nadel und Faden für chirurgische Zwecke fand ich in dem Medizin-Koffer. Nur das einfädeln gestaltete sich mit meinen nervösen Fingern schwierig. Als ich es endlich geschafft hatte, desinfizierte ich die Nadel und versuchte mir dann vorstellen, dass es nur eine einfach Stoffnaht war.
Ich hatte zugeben nicht viel Ahnung von Handarbeit, aber eine normale Naht sollte theoretisch keine große Herausforderung darstellen. Allerdings war ich mir unsicher, ob das in dem Falle überhaupt möglich war. Ich versuchte mir erneut klar zu machen wie wichtig es war, das hier richtig zu machen, denn ich wusste, dass ich keinesfalls mit der Schuld leben konnte Chishiya auf dem Gewissen zu haben.
Schon der Anfang gestaltete sich jedoch schwierig und ich musste zugeben, dass mir bei dem Anblick der Wunde immer flauer im Magen wurde.
"Es tut mir Leid, es tut mir Leid, es tut mir Leid....", murmelte ich wie vom Dämon besessen vor mich hin, während mir dabei die Tränen in den Augen standen. Ich versuchte ab einem gewissen Punkt mein Hirn für einen Moment komplett auszuschalten und einfach Stich für Stich weiterzumachen und es half tatsächlich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich die Wunde irgendwie verschlossen und betrachtete mein Werk noch immer völlig aufgelöst als ich fertig war. Schön war auf jeden Fall anders und wenn Chishiya nicht an seiner Verletzung starb, dann mit Sicherheit bei dem schockierenden Anblick dieser Naht. Trotzdem war es immerhin noch besser als nichts. Das redete ich mir jedenfalls ein und nahm dann eine Mullbinde aus dem Alu-Koffer und band sie anschließend fest um seinen Arm, um die Wunde wenigstens vor Keimen und anderen äußeren Einflüssen zu schützen. Ich atmete erleichtert aus, als ich auch das hinter mich gebracht hatte.
Zum Schluss entfernte ich das schwarze Band an seinem Oberarm, was ihn offensichtlich wieder kurz aus seiner Trance weckte. Ein leiser Seufzer kam über seine Lippen, während ich erleichtert war immerhin ein kleines Lebenszeichen von ihm zu bekommen. Ich kontrollierte jedoch zur Sicherheit nochmal seinen Puls am Handgelenk, doch mir fiel dabei nichts ungewöhnliches auf.
"Du solltest dich jetzt hinlegen und ausruhen", sagte ich sanft und sah hinüber zu seinem Bett, das nur wenige Meter entfernt war. Kurz nachdem ich das ausgesprochen hatte, ließ er sich jedoch an Ort und Stelle zur Seite auf den Boden sinken. Ich seufzte kurz auf. Wenn Chishiya es nicht bis zum Bett schaffte, dann musste das Bett eben zu ihm kommen. Ich kletterte auf die Matratze und griff nach seinem Kissen und seiner Decke. Dann legte ich die Decke vorsichtig auf seinen Körper und schob das Kissen ein Wenig unter seinen Kopf.
"Schlaf gut, Chishiya", sagte ich, immer noch in aufrichtiger Sorge.
Dann räumte ich den Erste-Hilfe-Kasten wieder beiseite und entsorgte das blutdurchtränkte Tuch mit der Kugel. Ich betrachtete Chishiyas leblos wirkende Gestalt noch eine ganze Weile lang mit nachdenklicher Miene. Im Moment sah sein Gesicht vollkommen friedlich aus als würde er nur ein kurzes Nickerchen halten. Ich hoffte inständig, dass all meine Mühe nicht umsonst war und er wieder schnell genesen würde.
Seit ich hier war hatte ich mich vielen Herausforderungen stellen müssen, doch diese hier war mit Abstand die bisher Schwierigste von allen. Das einzig Positive daran war, dass es mich immerhin ein Wenig von meinem eigenen Leiden abgelenkt hatte. Nun hieß es abwarten und beten...
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AN: Ich übernehme keinerlei Haftung für medizinische Korrektheit. Ich bin ein Laie und mein medizinisches Halbwissen beschränkt sich auf ein paar Dr. House Folgen, die ich vor Ewigkeiten gesehen habe. Aber für eine FF Medizin zu studieren, wäre vllt doch etwas übertrieben xD
Wenn euch gefallen hat, was ihr bisher gelesen habt, würde ich mich sehr freuen, wenn ihr einen Kommentar und/oder einen Vote da lasst. Danke schonmal :)
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