Kapitel 35
𝙷𝚊𝚕𝚕𝚘 𝙲𝚑𝚒𝚜𝚑𝚒𝚢𝚊!
𝙸𝚌𝚑 𝚠𝚎𝚒ß 𝚍𝚞 𝚑𝚊𝚜𝚝 𝚐𝚎𝚜𝚊𝚐𝚝, 𝚍𝚊𝚜𝚜 𝚒𝚌𝚑 𝚖𝚒𝚌𝚑 𝚗𝚒𝚌𝚑𝚝 𝚖𝚎𝚑𝚛 𝚋𝚎𝚒 𝚍𝚒𝚛 𝚖𝚎𝚕𝚍𝚎𝚗 𝚜𝚘𝚕𝚕𝚝𝚎, 𝚊𝚋𝚎𝚛 𝚒𝚌𝚑 𝚠𝚘𝚕𝚕𝚝𝚎 𝚍𝚒𝚛 𝚠𝚎𝚗𝚒𝚐𝚜𝚝𝚎𝚗𝚜 𝚟𝚒𝚎𝚕 𝙴𝚛𝚏𝚘𝚕𝚐 𝚏ü𝚛 𝚍𝚎𝚒𝚗𝚎 𝚊𝚗𝚜𝚝𝚎𝚑𝚎𝚗𝚍𝚎 𝙿𝚛ü𝚏𝚞𝚗𝚐 𝚠ü𝚗𝚜𝚌𝚑𝚎𝚗. 𝙳𝚞 𝚜𝚌𝚑𝚊𝚏𝚏𝚜𝚝 𝚍𝚊𝚜 𝚐𝚊𝚗𝚣 𝚜𝚒𝚌𝚑𝚎𝚛.
Ich las mir meinen Text noch ein letztes Mal durch nachdem ich ihn mehrmals überarbeitet hatte und überlegte noch immer, ob ich ihn überhaupt abschicken sollte. Dank Nakamura wusste ich immerhin, dass seine erste Prüfung schon morgen stattfinden würde. Im Normalfall hätte ich mit Sicherheit versucht herauszubekommen, wo und um welche Uhrzeit genau sie stattfand, damit ich Chishiya dort aufsuchen und ihm diese Worte persönlich mitteilen konnte. Aber diesmal wusste ich, dass es vergebliche Mühe wäre ihm weiterhin zu folgen. Er hatte deutlich klar gemacht, dass ich ihn in Ruhe lassen sollte. Genau aus diesem Grund zögerte ich diesmal auch ungewöhnlich lange, bevor ich auf Senden drückte. Ich erwartete ohnehin keine Antwort darauf und ich hoffte es würde die Sache zwischen uns nicht weiter verkomplizieren. Schließlich war es völlig unverfänglich ihm viel Glück für seine Prüfungen zu wünschen. Und auch wenn ich noch immer wütend und enttäuscht war, so konnte ich es mir nicht nehmen lassen ihn wissen zu lassen, dass ich trotzdem an ihn dachte. Was ich allerdings lieber unerwähnt ließ, war meine letzte Sprachnachricht an ihn. Nicht nur, weil ich es lieber vergessen wollte, sondern auch weil ich mich noch immer an die winzige Hoffnung klammerte, dass er sie sich doch nicht angehört hatte.
Kurz nachdem ich den Text an Chishiya abgeschickt hatte, kam eine Nachricht von Usagi rein. Seit unserem Treffen im Maruka neulich meldete sie sich beinahe täglich bei mir, um mich nach meinem Wohlbefinden zu fragen. Offensichtlich hatte ich auf sie so einen zerrütteten Eindruck hinterlassen, dass sie sich nun übermäßig um mich sorgte.
𝙷𝚎𝚢 𝚃𝚜𝚞𝚔𝚒!
𝚆𝚒𝚎 𝚠𝚊𝚛 𝚍𝚎𝚒𝚗 𝚃𝚊𝚐? 𝙸𝚌𝚑 𝚑𝚘𝚏𝚏𝚎 𝚍𝚞 𝚋𝚒𝚜𝚝 𝚗𝚒𝚌𝚑𝚝 𝚖𝚎𝚑𝚛 𝚊𝚕𝚕𝚣𝚞 𝚝𝚛𝚊𝚞𝚛𝚒𝚐 𝚠𝚎𝚐𝚎𝚗 𝚍𝚎𝚛 𝚂𝚊𝚌𝚑𝚎 𝚖𝚒𝚝 𝙲𝚑𝚒𝚜𝚑𝚒𝚢𝚊. 𝙻𝚊𝚜𝚜 𝚍𝚎𝚗 𝙺𝚘𝚙𝚏 𝚗𝚒𝚌𝚑𝚝 𝚑ä𝚗𝚐𝚎𝚗. 𝙴𝚜 𝚠𝚒𝚛𝚍 𝚋𝚎𝚜𝚝𝚒𝚖𝚖𝚝 𝚋𝚊𝚕𝚍 𝚊𝚕𝚕𝚎𝚜 𝚠𝚒𝚎𝚍𝚎𝚛 𝚐𝚞𝚝. 𝚆𝚒𝚛 𝚔ö𝚗𝚗𝚎𝚗 𝚞𝚗𝚜 𝚓𝚎𝚍𝚎𝚛𝚣𝚎𝚒𝚝 𝚝𝚛𝚎𝚏𝚏𝚎𝚗, 𝚠𝚎𝚗𝚗 𝚍𝚒𝚛 𝚍𝚊𝚗𝚊𝚌𝚑 𝚒𝚜𝚝. 𝙴𝚒𝚗 𝚋𝚒𝚜𝚜𝚌𝚑𝚎𝚗 𝙰𝚋𝚕𝚎𝚗𝚔𝚞𝚗𝚐 𝚠𝚒𝚛𝚍 𝚍𝚒𝚛 𝚜𝚒𝚌𝚑𝚎𝚛 𝚐𝚞𝚝 𝚝𝚞𝚗. 𝙽𝚞𝚛 𝚍𝚎𝚗 𝙰𝚕𝚔𝚘𝚑𝚘𝚕 𝚕𝚊𝚜𝚜𝚎𝚗 𝚠𝚒𝚛 𝚍𝚊𝚗𝚗 𝚕𝚒𝚎𝚋𝚎𝚛 𝚠𝚎𝚐...
Ich seufzte etwas. Sie war tatsächlich ziemlich hartnäckig. Wenn ich ehrlich war, dann war mir im Moment eher danach mich zu Hause für immer zu verbarrikadieren. Meine sonstige Lebensfreude war zusammen mit Chishiya abhanden gekommen und ich hatte keine Ahnung wie ich sie je wiederfinden sollte. Ich schrieb ein paar halbherzige Zeilen zurück und erfand eine fadenscheinige Ausrede, weshalb ein Treffen im Moment unmöglich für mich war. Wahrscheinlich durchschaute sie das Ganze sowieso, aber selbst das war mir im Augenblick relativ egal.
Am nächsten Tag wartete ich hoffnungsvoll darauf, dass Nakamura mich kontaktierte. Ich musste wenigstens wissen, ob er mein Paket übergeben hatte. Den ganzen Tag verbrachte ich damit an Chishiya zu denken, der gerade seine Abschlussprüfung absolvierte. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er es schaffen würde. Er war bei weitem der intelligenteste Mensch, den ich je getroffen hatte und wenn jemand diese Prüfungen perfekt meisterte, dann war er das. Trotzdem war ich den ganzen Tag hinweg angespannt und nervös, weil ich Angst hatte, dass Nakamura womöglich vergessen würde mir zu schreiben, oder noch schlimmer: dass er vergaß das Paket Chishiya zu übergeben. Mit Sicherheit hatte Nakamura an seinem Prüfungstag ganz andere Sorgen als den Liebesbotschafter für mich zu spielen. Erst als es spät am Abend war, traf eine Nachricht von einer unbekannten Handynummer bei mir ein.
𝙷𝚎𝚢, 𝙽𝚊𝚔𝚊𝚖𝚞𝚛𝚊 𝚑𝚒𝚎𝚛.
𝙸𝚌𝚑 𝚑𝚊𝚋 𝚍𝚎𝚒𝚗𝚎𝚗 𝙰𝚞𝚏𝚝𝚛𝚊𝚐 𝚎𝚛𝚏𝚘𝚕𝚐𝚛𝚎𝚒𝚌𝚑 𝚊𝚞𝚜𝚐𝚎𝚏ü𝚑𝚛𝚝. 𝙰𝚕𝚕𝚎𝚜 𝚊𝚗𝚍𝚎𝚛𝚎 𝚕𝚒𝚎𝚐𝚝 𝚗𝚒𝚌𝚑𝚝 𝚒𝚗 𝚖𝚎𝚒𝚗𝚎𝚛 𝙼𝚊𝚌𝚑𝚝.
Erleichtert atmete ich aus, während ich schnell eine Antwort tippte.
𝙰𝚕𝚜𝚘 𝚑𝚊𝚝 𝚎𝚛 𝚎𝚜 𝚊𝚗𝚐𝚎𝚗𝚘𝚖𝚖𝚎𝚗? 𝚆𝚊𝚜 𝚑𝚊𝚝 𝚎𝚛 𝚐𝚎𝚜𝚊𝚐𝚝? 𝚆𝚒𝚎 𝚑𝚊𝚝 𝚎𝚛 𝚛𝚎𝚊𝚐𝚒𝚎𝚛𝚝?
𝙽𝚒𝚌𝚑𝚝𝚜 𝚠𝚎𝚒𝚝𝚎𝚛. 𝙴𝚛 𝚑𝚊𝚝'𝚜 𝚗𝚞𝚛 𝚎𝚗𝚝𝚐𝚎𝚐𝚎𝚗𝚐𝚎𝚗𝚘𝚖𝚖𝚎𝚗.
Die Antwort war nicht unbedingt das, was ich erhofft hatte. Aber ich versuchte mich damit zufrieden zu geben.
𝙾𝚔𝚊𝚢. 𝙸𝚌𝚑 𝚍𝚊𝚗𝚔𝚎 𝚍𝚒𝚛 𝚟𝚒𝚎𝚕𝚖𝚊𝚕𝚜. 𝙸𝚌𝚑 𝚋𝚒𝚗 𝚍𝚒𝚛 𝚓𝚎𝚝𝚣𝚝 𝚠𝚘𝚑𝚕 𝚠𝚊𝚜 𝚜𝚌𝚑𝚞𝚕𝚍𝚒𝚐. 𝚆𝚒𝚎 𝚕𝚒𝚎𝚏 𝚍𝚒𝚎 𝙿𝚛ü𝚏𝚞𝚗𝚐?
𝚆𝚒𝚛 𝚜𝚒𝚗𝚍 𝚍𝚘𝚌𝚑 𝚕ä𝚗𝚐𝚜𝚝 𝚚𝚞𝚒𝚝𝚝. 𝚆𝚎𝚒ß𝚝 𝚍𝚞 𝚗𝚒𝚌𝚑𝚝 𝚖𝚎𝚑𝚛? 𝙳𝚒𝚎 𝟷𝟶𝟶¥, 𝚍𝚒𝚎 𝚍𝚞 𝚖𝚒𝚛 𝚐𝚎𝚕𝚒𝚎𝚑𝚎𝚗 𝚑𝚊𝚜𝚝. 𝙱𝚘𝚊𝚛, 𝚎𝚛𝚒𝚗𝚗𝚎𝚛𝚎 𝚖𝚒𝚌𝚑 𝚋𝚕𝚘ß 𝚗𝚒𝚌𝚑𝚝 𝚊𝚗 𝚍𝚒𝚎 𝙿𝚛ü𝚏𝚞𝚗𝚐𝚎𝚗...𝚒𝚌𝚑 𝚠𝚊𝚛 𝚐𝚎𝚛𝚊𝚍𝚎 𝚍𝚊𝚋𝚎𝚒 𝚎𝚜 𝚣𝚞 𝚟𝚎𝚛𝚐𝚎𝚜𝚜𝚎𝚗 -.-
𝙴𝚒𝚐𝚎𝚗𝚝𝚕𝚒𝚌𝚑 𝚠𝚊𝚛𝚎𝚗 𝚍𝚒𝚎 𝚐𝚎𝚜𝚌𝚑𝚎𝚗𝚔𝚝, 𝚊𝚋𝚎𝚛 𝚠𝚎𝚗𝚗 𝚍𝚒𝚛 𝚍𝚊𝚜 𝚐𝚎𝚗ü𝚐𝚝, 𝚋𝚒𝚗 𝚒𝚌𝚑 𝚊𝚞𝚌𝚑 𝚎𝚒𝚗𝚟𝚎𝚛𝚜𝚝𝚊𝚗𝚍𝚎𝚗. 𝚂𝚘 𝚜𝚌𝚑𝚕𝚒𝚖𝚖?
𝚂𝚌𝚑𝚕𝚒𝚖𝚖𝚎𝚛.
Ich grinste ein wenig bei seiner letzten Nachricht. Ob es für Chishiya auch so schlimm gewesen war? Vermutlich nicht. Ich hätte dennoch zu gern gewusst, ob er sie gut überstanden hatte, doch auf meine letzte Nachricht kam wie ich schon erwartet hatte null Reaktion.
Einige Tage später hatte ich einen Termin in der Chirurgie des Tokyo University Hospitals, um mir meinen Gipsverband endlich entfernen zu lassen. Ich konnte es kaum erwarten den störenden Klumpfuß endlich loszuwerden, allerdings machte ich mir auch etwas Sorgen, ob ich es so schnell schaffen würde die ursprüngliche Kraft in meiner Beinmuskulatur wiederherzustellen. Um das sicherzustellen, bekam ich von dem zuständigen Arzt noch eine Reha-Behandlung verschrieben, die ich in der Anfangszeit dreimal die Woche wahrnehmen musste. Er empfahl mir außerdem leichten Sport und ausreichend Bewegung im Alltag: etwas worauf ich normalerweise nicht gerade scharf war, aber im Moment war ich immerhin soweit, dass ich alles getan hätte, um mich von meinen Gedanken an Chishiya abzulenken. Schon alleine das Krankenhaus erinnerte mich an ihn. Es gab kaum etwas in meiner Umgebung, das mich nicht in irgendeiner Form an ihn erinnerte. Ich vermisste ihn jeden verdammten Augenblick und hätte alles dafür gegeben ihn wiederzusehen oder wenigstens mit ihm zu sprechen.
***
Drei Wochen später:
"Alles Gute zum Geburtstag, Tsuki", sagte Hayato mit einem freundlichen Lächeln als ich früh meinen Arbeitsplatz im Lehrerzimmer aufsuchte. Ich deutete eine kleine Verbeugung an.
"Danke dir", sagte ich und erwiderte das Lächeln so aufrichtig wie möglich. Etwas gerührt sah ich auf den wunderschönen farbenfrohen Blumenstrauß, der auf meinem Platz stand. Außerdem bekam ich von meinen Kollegen einen Gutschein für einen Comicbuchladen ganz in der Nähe. Offensichtlich hatte Hayato ihnen verraten, dass ich gern Mangas las und auch selbst Comics zeichnete, denn es gab kaum jemand bei mir auf Arbeit, der von meiner Leidenschaft wussten. Ich bedankte mich beim Kollegium und beschloss als Dankeschön nach Feierabend wenigstens einen Kuchen für sie zu backen. So hatte ich immerhin eine Aufgabe. Je mehr Aufgaben, desto eher war mein Kopf wenigstens mit anderen Dingen beschäftigt. Am Wochenende hatte ich meine Familie zum Essen eingeladen um meinen Geburtstag in kleiner Runde nachzufeiern. Wenn ich in Gesellschaft war, war der Schmerz manchmal ein wenig erträglicher, aber womöglich auch, weil ich irgendwann dazu überging jedem vorzuspielen glücklich zu sein. Das tat ich dann meistens so lange bis ich mich beinahe selbst davon überzeugt hatte, dass alles in bester Ordnung war. Doch das qualvolle Stechen in meinem Herzen konnte auch mein perfekt einstudiertes Lächeln nicht vertreiben, egal wie sehr ich es auch versuchte. Jeder um mich herum schien zu glauben, dass es mir gut ging. Die einzigen, die die Wahrheit kannten, waren Usagi und Nakamura. Letzterer hatte mir immerhin vor etwa einer Woche eine kurze Nachricht zukommen lassen:
𝙿𝚛ü𝚏𝚞𝚗𝚐𝚎𝚗 ü𝚋𝚎𝚛𝚜𝚝𝚊𝚗𝚍𝚎𝚗! 𝙱𝚎𝚜𝚝𝚊𝚗𝚍𝚎𝚗 𝚠𝚘𝚑𝚕 𝚎𝚑𝚎𝚛 𝚗𝚒𝚌𝚑𝚝. 𝙰𝚋𝚎𝚛 𝚎𝚐𝚊𝚕. 𝙸𝚌𝚑 𝚋𝚎𝚜𝚊𝚞𝚏 𝚖𝚒𝚌𝚑 𝚓𝚎𝚝𝚣𝚝...
Ich musste zugeben, dass mir seine Worte immerhin ein kleines Kichern entlockt hatten. Tatsächlich war ich mir nichtmal sicher, ob die Nachricht überhaupt an mich gehen sollte. Nichtsdestotrotz antwortete ich, doch anscheinend war Nakamura zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr zurechnungsfähig, denn seine nachfolgenden Antworten waren eher kryptisch. Ich fragte mich, ob Chishiya ebenfalls bei dem Saufgelage der Medizinstudenten dabei war. Vorstellen konnte ich es mir jedenfalls nicht.
Als ich nach fast 8 Wochen zum ersten Mal das Klassenzimmer meiner ersten Klasse betrat, hatte ich mich im ersten Moment völlig fremd gefühlt. Die Kinder saßen alle aufrecht und stillschweigend auf ihren Bänken als ich vor die Klasse getreten war. Kein Mucks war von ihnen zu hören. Obwohl nur zwei Monate vergangen waren, war mir aufgefallen, dass manche von ihnen schon um einige Zentimeter gewachsen waren. Andere widerum hatten nur mehr Zahnlücken bekommen. Als ich dann meine übliche Begrüßung mit ihnen abgehalten hatte und sie nach ihren Erlebnissen in den letzten Wochen fragte, begannen schlagartig alle durcheinander zu reden. Es prasselten gefühlt einhundert neugierige Kinderfragen auf mich ein zu dem, was mir in Shibuya widerfahren war. Irgendwann stand ein Mädchen namens Kichi auf und kam auf mich zu um ihre Arme um mich zu legen.
"Wir haben Sie vermisst, Sensei. Frau Matsui war wirklich streng mit uns. Sie hat außerdem gesagt, dass die Katze auf meiner Zeichnung wie ein Schwein aussieht."
Kurz darauf hatten sich ihr auch einige der anderen Kinder angeschlossen und mich vollständig vereinnahmt, während sie beteuerten wie froh sie waren, dass ich endlich wieder zurück war. In diesem Augenblick war ich tatsächlich so gerührt, dass ich Tränen in den Augen hatte. Dabei hatte ich die Klasse noch nicht einmal sonderlich lange gehabt. Trotzdem schienen immerhin sie mich vermisst zu haben.
Obwohl ich heute Geburtstag hatte, fühlte es sich wie jeder andere Tag für mich an. Als mir alles Zuviel wurde mit der geheuchelten Fröhlichkeit, schaltete ich mein Handy vorerst ab. Immerhin die lästigen Anrufer konnten mir damit erstmal gestohlen bleiben. Normalerweise war ich an meinem Geburtstag Abends immer mit ein paar alten Freundinnen von der Oberstufe aus gewesen. Heute jedoch teilte ich ihnen mit, dass mir nicht wohl sei und es mir lieber wäre, wenn wir das Ganze auf ein anderes Mal verschieben. Aus irgendeinem Grund hatte ich die Menschheit heute satt und wollte lieber zu Hause in aller Ruhe meinen Kuchen backen. Ich packte also schnell meine Sachen zusammen und verließ das Schulgebäude.
"Izumi-Sensei."
Ich drehte mich etwas erstaunt zu der Stimme um.
"Ah, Kota-chan. Was machst du denn noch hier um diese Uhrzeit? Solltest du nicht längst zu Hause sein?"
Ich biss mir fest auf die Zunge nachdem ich die Worte ausgesprochen hatte. Ich hatte fast vergessen, dass Kota kein richtiges zu Hause mehr hatte. Soweit ich wusste, war er in einem Kinderheim untergekommen.
"Ach, das geht schon in Ordnung. Außerdem wollte ich Ihnen etwas zeigen."
"Du meinst jetzt?", fragte ich und runzelte die Stirn.
Er nickte.
"Ja, es dauert auch nicht lang."
"Also eigentlich...habe ich heute schon was vor, Kota. Ein anderes Mal vielleicht", sagte ich und setzte ein entschuldigendes Lächeln auf.
"Oh bitte, Sensei", drängte er und schob seine Lippen dabei etwas schmollend vor.
Ich seufzte etwas.
"Was willst du mir denn so unbedingt zeigen?"
"Das werden Sie schon sehen. Folgen Sie mir einfach, okay?"
Kota überquerte flink das Gelände um zum Schultor zu gelangen und ich musste mich bemühen ihm hinterher zu kommen. Inzwischen brauchte ich zwar keine Krücken mehr, aber trotzdem war mein Bein noch immer nicht so belastungsfähig wie früher.
"Hey! Warte mal kurz. Ich bin keine 17 mehr", beschwerte ich mich als ich ihn eingeholt hatte.
"Einer der Lehrer hat gesagt, dass Sie heute Geburtstag haben. Alles Gute", sagte Kota beiläufig und ging jetzt im normalen Lauftempo voraus, sodass ich ihm immerhin ohne Probleme folgen konnte.
"Danke dir", murmelte ich leise. "Gibt es eigentlich schon eine Pflegefamilie, die dich aufnehmen würde?", wechselte ich das Thema.
"Eine Frau hat mich vor einer Woche bei sich aufgenommen. Ihr Name ist Suzuki Mei. Ich glaube Sie kennen sie", sagte er mit einem spitzbübischen Lächeln.
"Erinnert sie sich etwa plötzlich wieder an die Dinge, die passiert sind?", fragte ich verblüfft.
Er nickte.
"Ja, aber es hat auch wirklich lange gedauert. Sie hatte gestern eine Verabredung mit diesem einen Kerl aus der Selbsthilfegruppe. Der mit den Narben."
"Bitte was?", fragte ich und sah ihn stutzig an. "Du meinst mit...Niragi?"
Kota nickte und zuckte mit den Schultern.
"Sie meinte sie mag ihn wohl ganz gern."
Diese Neuigkeit machte mich tatsächlich kurzzeitig sprachlos. Mei und Niragi hätten kaum unterschiedlicher sein können. Was fand sie nur an ihm? Sein Aussehen konnte es ja kaum sein, nachdem er das in den Flammen eingebüßt hatte. Und sein Charakter war jetzt auch nicht unbedingt von der liebenswerten Sorte. Aber ich erinnerte mich noch wie sie in der Gruppensitzung mehrmals über seine Witze gelacht hatte. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass Niragi Interesse an einer eher zurückhaltenden Frau wie Mei hatte und erst recht nicht an einer Liebesbeziehung mit ihr. Sollte er sich vielleicht tatsächlich zum Besseren verändert haben? Würde er in naher Zukunft vielleicht Kotas neuer Adoptivvater werden? Der bloße Gedanke ließ mich ungläubig aufschnauben. Es war mehr als absurd nach allem, was ich über Niragi wusste. Ich konnte nur inständig hoffen, dass er Mei und auch Kota gut behandeln würde.
"Hast du nicht gemeint, dass es nicht lange dauert?", fragte ich als wir schon einige Zeit unterwegs waren.
"Wir sind gleich da", meinte er nur sorglos. Ich sah mich eingehender in dem Wohngebiet um und betrachtete nachdenklich die Häuser ringsherum. Seltsamerweise kam es mir eigenartig vertraut vor, obwohl ich in dem Viertel für gewöhnlich nicht unterwegs war. Ich blieb vor den Stufen eines grauen klobigen Bauwerks stehen und blickte schweigend hinauf. Es war ein Gerichtsgebäude. Nicht irgendeins, sondern das in dem Chishiya gegen den Karo-König angetreten war. War es wirklich schon so lange her, dass ich auf diesen Stufen gesessen hatte und um sein Leben bangte? Es fühlte sich beinahe so an als wäre das in einem früheren Leben gewesen.
"Sensei?"
Kotas Stimme holte mich wieder zurück in die Realität.
"Tut mir leid. Ich komme", sagte ich schnell und versuchte wieder etwas an Geschwindigkeit zuzulegen, um ihn einzuholen. Mein Blick jedoch blieb bei dem angrenzenden Park hängen auf den Kota jetzt zusteuerte und plötzlich wurde mir etwas mulmig zumute, ohne, dass ich mir erklären konnte wieso. Womöglich war es die Erinnerung an das, was hier geschehen war. Damals hatte ich geglaubt, dass wir es nicht lebend aus diesem Park heraus schaffen würden. Jetzt jedoch wirkte alles vollkommen idyllisch als wäre es nie der Austragungsort tödlicher Spiele gewesen. Im Nachhinein betrachtet konnte ich manchmal selbst kaum glauben, dass wir all das wirklich erlebt hatten. Auf unserem Weg kamen uns Familien mit Kindern entgegen, die unbeschwert herumtollten, Hunde, die Stöckchen holten und Liebespaare, die händchenhaltend am Ufer des kleinen Sees entlang flanierten. Ich seufzte ein wenig als mein Blick kurzzeitig an einen von ihnen hängen blieb. Schnell wandte ich mich wieder ab und versuchte die aufkommende Traurigkeit mühevoll zu verdrängen.
Als ich wieder aufblickte, standen wir vor einem Spielplatz. Etwas in meiner Brust zog sich schmerzhaft zusammen bei dem Anblick. Wieso musste es ausgerechnet dieser Ort sein?
"Wir sind da", rief Kota und rannte vorraus um sich an dem großmaschigen Netz hochzuhangeln, das zu einem der Türme des Klettergerüsts hinaufführte. Ich sah ihm nur fassungslos hinterher.
"Und was machen wir hier?", fragte ich irritiert. "Du wolltest mir doch nicht nur diesen Spielplatz zeigen, oder?"
Kota war bereits oben auf einem der Türme und kletterte über eine wackelige Hängebrücke zum Nachbarturm.
"Was ich Ihnen zeigen will, ist hier oben", sagte er und blickte dann von dort auf mich herab.
Ich lachte etwas bitter auf.
"Ich glaube dafür bin ich wirklich etwas zu alt", sagte ich mit zweifelnder Miene.
"Kommen Sie schon! Ich habe etwas wirklich Interessantes entdeckt, das ich Ihnen zeigen will", drängte er und wirkte dabei sichtlich aufgeregt.
Ich stöhnte etwas auf.
"Na schön", gab ich mich geschlagen, besonders da ich Kota nicht enttäuschen wollte, nachdem ich immerhin extra mit ihm hierher gekommen war.
Um meine Muskulatur jedoch nicht gleich zu überstrapazieren, entschied ich mich wie beim letzten Mal an dem Seil hinaufzuklettern. Ich nahm etwas Anlauf und sprang ein wenig an dem Seil hoch. Als Kind war ich tatsächlich ganz gut im Seilklettern gewesen, doch ich merkte, dass ich längst nicht mehr so viel Kraft in meinen Armen hatte wie früher und diesmal musste ich auch nicht mein Leben retten, sodass mir der entsprechende Ansporn fehlte nach oben zu gelangen. Trotzdem schaffte ich es nach ein paar Anläufen hinauf zu dem Holzhäuschen zu gelangen. Völlig außer Atem kam ich dort an.
"Ich hoffe die Anstrengung lohnt sich für das, was du mir zeigen willst", keuchte ich und krabbelte auf allen Vieren zu ihm hinüber. Er deutete mit dem Finger auf die Holzwand. Ungläubig folgte ich seinem Blick. Eine gewöhnliche Skatkarte war daran festgepinnt.
Es war die Herzdame.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro