Kapitel 34
Es war kurz vor 18 Uhr als ich das Maruka betrat. Suchend hielt ich Ausschau nach Usagi und fand sie tatsächlich an einem der Holztische vor. Das Maruka war ein recht kleines Restaurant, aber hatte den Ruf eines der besten Udon-Nudel-Restaurants in Tokyo zu sein. Es war ein echter Geheimtipp, allerdings musste man darauf gefasst sein, dass es fast zu jeder Tageszeit gut gefüllt war. Am Eingang wurde bereits meine Bestellung aufgenommen, denn so waren die Wartezeiten erheblich kürzer.
Usagi lächelte als ich mich zu ihr setzte. Sie machte auf mich einen viel positiveren Eindruck als noch vor wenigen Wochen in der Klinik. Außerdem trug sie recht feminine Kleidung, was ich an ihr bisher so noch nicht gesehen hatte. Ich musste jedoch zugeben, dass ihr der Look überraschend gut stand und ihre Weiblichkeit mehr zur Geltung brachte.
"Hallo Tsuki. Ich bin wirklich froh dich zu sehen", sagte sie munter. "Wie geht es dir?"
Ich lächelte zurück, aber befürchtete, dass man mir anmerkte, dass es nur ein aufgesetztes Lächeln war.
"Also gesundheitlich geht es mir wieder ganz gut. Und dir?"
"Ich bin auch fast wieder die Alte. Wenn die Reha vorbei ist, kann ich hoffentlich endlich wieder loslegen."
Sie klang so unglaublich motiviert, dass ich kurzzeitig beinahe neidisch auf sie war. Meine Motivation hingegen hatte ziemlich gelitten seit Chishiyas Hiobsbotschaft am Vortag. Auch wenn ich mich mühevoll dazu gezwungen hatte weiterzumachen, war ich mit meinem Webtoon seitdem kaum einen Schritt voran gekommen. Stattdessen war ich damit beschäftigt Trübsal zu blasen und mich in meinem Selbstmitleid zu suhlen. Wenn das so weiterging, konnte ich das Ganze auch gleich sein lassen.
"Freut mich zu hören", erwiderte ich und versuchte dabei auch wenigstens so zu klingen.
"Ist alles okay?", fragte sie zögerlich. "Du wirkst etwas niedergeschlagen."
Ich setzte ein unbekümmertes Lächeln auf.
"Keine Sorge. Sag mir lieber, wie es bei dir und Arisu läuft."
Ihr Gesicht bekam plötzlich etwas mehr Farbe.
"Also es läuft überraschend gut. Wir sind...zusammen glaube ich."
Ich starrte sie stirnrunzelnd an.
"Du glaubst? Habt ihr das etwa noch nicht geklärt?"
"Also wir verbringen fast jeden Tag miteinander und wir tun Dinge, die ein Paar tut, aber offiziell haben wir es nicht gemacht. Allerdings wollen wir uns demnächst zusammen nach einer Wohnung umsehen."
"Oh, dann muss es wirklich ernst sein zwischen euch", sagte ich erstaunt, während ich ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Brust verspürte. Ich müsste lügen, wenn ich behauptete, dass ich nicht neidisch auf die beiden war. Offensichtlich lief bei ihnen alles super, während mein Leben gerade den Bach runterging.
"Was ist mit dir und Chishiya?", fragte sie zögerlich.
Ich lachte bitter auf und nahm einen großzügigen Schluck von dem Reiswein.
"Nächste Frage bitte."
"Erinnert er sich noch immer nicht an dich?"
Ich schüttelte nur den Kopf.
"Das ist seltsam. Weißt du, ein Grund warum ich dich treffen wollte, ist, weil ich mich inzwischen wieder erinnert habe. Ich meine an alles." Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. "Auch an Borderland."
Ich starrte sie vollkommen perplex an.
"Ist das...wahr? Du erinnerst dich daran?", fragte ich bestürzt. "Wie?"
"Es waren vor allem Situationen mit Arisu, die ähnlich denen waren, die wir schoneinmal durchlebt haben. Je mehr Zeit wir miteinander verbracht haben, umso mehr kamen die Erinnerungen Stück für Stück wieder zurück. Und er erinnert sich inzwischen auch wieder an das Meiste."
"Er weiß also, dass ihr euch schon vorher kanntet?"
Usagi nickte.
"Ja, es hat zwar auch etwas länger bei ihm gedauert, aber irgendwann kamen seine Erinnerungen von ganz alleine zurück."
Ich ließ betrübt den Kopf hängen und nippte wieder an dem Wein.
"Das ist wirklich schön für euch."
"Hast du nochmal mit Chishiya gesprochen seit dem Krankenhaus?"
Ich nickte.
"Ja....ich war jeden Tag bei ihm auf Arbeit. Ich wollte um jeden Preis, dass er sich erinnert. Das hat allerdings nicht ganz so funktioniert wie ich es gehofft hatte. Trotzdem schien er mich gern zu haben. Jedenfalls hatte ich das bis vor kurzem geglaubt."
"Was ist denn passiert?"
"So genau weiß ich das auch nicht. Einen Abend sind wir uns näher gekommen und haben uns geküsst. Alles war perfekt, aber schon im nächsten Moment will er plötzlich nichts mehr von mir wissen."
Sie seufzte und sah mich mitfühlend an.
"Vielleicht hat euer Kuss ihn an etwas erinnert?"
"Ich glaube nicht, dass es der Kuss war. Es war etwas anderes. Aber selbst, wenn er sich erinnert hätte. Warum will er dann keinen Kontakt mehr zu mir? Das ergibt absolut keinen Sinn."
"Hmm ich verstehe, warum dich das verwirrt. Chishiya ist ja eher ein Einzelgänger. Vielleicht braucht er mehr Zeit um das Ganze zu verarbeiten. Aber so gut kenne ich ihn natürlich auch nicht."
Neben uns stand plötzlich die Bedienung und stellte uns jeweils eine Schüssel heiß dampfende Udon-Nudelsuppe auf den Tisch. Wir bedankten uns und ich griff erwartungsvoll nach den Stäbchen. Inzwischen war ich ziemlich ausgehungert, weil ich heute kaum etwas essbares heruntergebracht hatte.
"Sieht wirklich gut aus. Lass es dir schmecken", sagte Usagi und griff ebenfalls nach ihrem Besteck.
"Danke, dir auch."
Als wir fertig mit Essen waren, griff Usagi unser Gespräch von vorhin jedoch wieder auf.
"Vielleicht solltest du ihm wirklich die Zeit geben, die er braucht, auch wenn es mit Sicherheit schwer für dich ist. Aber jeder geht anders mit solchen Nahtod-Erlebnissen um."
"Denkst du, dass es überhaupt so etwas war? Manchmal glaube ich, dass das, was wir dort erlebt haben die Realität gewesen ist. Wie sonst ist es möglich, dass wir uns alle an das Gleiche erinnern?", gab ich zu Bedenken.
"Ja, darüber hab ich auch schon nachgedacht. Vielleicht ist es wirklich real gewesen. Unsere Erinnerungen sind es auf jeden Fall. Und ich bin mir sicher, dass Chishiya sich auch bald an alles erinnern wird und zu dir zurückkommt. Er hat schließlich sein eigenes Leben für dich aufs Spiel gesetzt. Ihm hätte ich so eine selbstlose Tat ehrlichgesagt als Allerletztes zugetraut. Er muss dich also wirklich gern haben."
Was Usagi da sagte, klang auf jeden Fall einleuchtend. Nichtsdestotrotz war ich mir inzwischen sehr unsicher, ob er zu mir zurückkommen würde.
"Im Beach muss er wohl nicht so nett zu euch gewesen sein", sagte ich mit schuldbewusster Miene als wäre ich diejenige, die dafür verantwortlich war.
"Nun, er hat Arisu absichtlich in die Falle gehen lassen und riskiert, dass er dabei sterben könnte. Und mich hat er an Niragi ausgeliefert. Gerade deshalb hat es mich wohl überrascht, dass er ausgerechnet mit jemanden wie dir zusammen ist. Du bist so ziemlich das Gegenteil von ihm. Aber vielleicht ist das ja der Grund, warum es funktioniert."
"Er hat sich seitdem auch sehr verändert."
"Offensichtlich hast du ihn verändert", sagte sie mit einem amüsierten Lächeln.
Meine Wangen wurden etwas warm.
"Schon möglich..."
Wir unterhielten uns noch eine Weile über Usagis Zukunftspläne und Arisus neues Studium als Spieleentwickler an einer renommierten Fakultät für Informatik. Laut Usagi wollte er unbedingt ein Computerspiel nach dem Vorbild von Boderland entwickeln, was ich zugegeben ziemlich cool fand.
Als ich ihr erzählte, dass Chishiya Medizinstudent ist, war sie fast genauso überrascht wie ich als ich es damals erfahren hatte. Sie meinte, dass sie sich Chishiya eher irgendwo in der IT-Branche oder als Chemiker in einem abgeschotteten Labor vorgestellt hatte. Bei dem Gedanken musste ich tatsächlich etwas kichern. Womöglich lag das aber auch daran, dass ich inzwischen schon mein drittes Glas Sake hinter mir hatte. Als ich ein Viertes bestellen wollte, hielt Usagi mich jedoch glücklicherweise rechtzeitig davon ab und rief die Kellnerin zum Tisch um unsere Rechnung zu bezahlen. Ich war inzwischen so gut angeheitert, dass ich großzügig auch Usagis Anteil bezahlte, obwohl sie mehrmals Einwände formulieren wollte.
"Du verträgst nicht gerade viel", stellte Usagi fest, als wir das Lokal verlassen hatten.
"Nee, aber das macht nix. So spar ich immer 'ne Menge Geld."
"Du solltest dich nicht gedankenlos betrinken nur weil's dir gerade schlecht geht. Chishiya würde das bestimmt auch nicht befürworten."
"Is mir ehrlichg'sagt egal, ob er das gut findet oder nich. Das geht ihn'n Scheiß an."
"Ich verstehe ja, dass es den Schmerz etwas betäubt, aber es ändert doch nichts an der Situation", sagte sie ruhig, während wir nebeneinander herliefen. Ihre Worte trieben seltsamerweise die Tränen in meine Augen und ich schluchzte plötzlich laut auf.
"Warum tut er mir das an? Ich hasse ihn!", jammerte ich und heulte dabei auf wie ein leidender Schlosshund. Innerhalb kürzester Zeit liefen mir die Tränen und der Rotz übers ganze Gesicht, doch mir war gerade alles egal.
Usagi schien etwas überfordert von meinem plötzlichen emotionalen Ausbruch und reichte mir ein Taschentuch.
"Beruhige dich, Tsuki. Alles wird gut. Und ich glaube auch nicht, dass du ihn hasst. Das sagst du nur, weil du jetzt verletzt und wütend bist."
"Ich hasse ihn", wiederholte ich erneut mit bebender Stimme und wischte mir mit dem Tuch übers Gesicht. "Für wen hält er sich eig'tlich, dass er mich behand'lt wie den letzt'n Dreck? Er hat mich nich verdient. Ich bin viel zu nett für ihn."
Ich lehnte mich resigniert gegen Usagi, die etwas ratlos ihre Arme um mich legte, um mich zu trösten.
"Tsuki, bitte beruhige dich. Die Leute gucken schon komisch."
"Soll'n sie doch. Mir egal"
Ich warf den besagten Leuten einen bedrohlichen Blick zu. "Habt ihr noch nie jemand mit Liebeskummer geseh'n oder was?", fuhr ich sie trotzig an.
Usagi seufzte schwer.
"Komm!", meinte sie geduldig. "Ich bestelle dir ein Taxi."
Sie zog ihr Handy hervor und wählte dann eine Nummer. Ich hörte wie sie ein paar Worte mit dem Anrufer wechselte.
"In 15 Minuten wird eins hierherkommen und dich abholen", teilte sie mir mit als sie aufgelegt hatte. "Ich bleib so lange noch hier, okay?"
"Ich hab doch nix falsch gemacht", wimmerte ich weiter und klammerte mich wieder hilfesuchend an ihr fest. "Warum ist er denn nur so gemein zu mir?"
Usagi strich hilflos über meine Schulter, um mich zu besänftigen.
"Ich weiß es nicht. Aber du musst versuchen das nicht persönlich zu nehmen. Es ist nicht deine Schuld."
"Aber es tut sooo weh", klagte ich wehleidig.
"Ich weiß, ich weiß..."
Usagi wirkte fast erleichtert, als das Taxi endlich auftauchte und gab dem Taxifahrer etwas Geld für die Fahrt.
"Bringen Sie sie bitte sicher nach Hause. Sie hat etwas zuviel getrunken", sagte sie mit gesenkter Stimme zu ihm.
Torkelnd ließ ich mich auf den Rücksitz fallen und nannte dem Fahrer meine Adresse.
"Pass auf dich auf, Tsuki, okay? Trink viel Wasser und ruh dich aus. Gute Nacht."
Usagi schloss die Autotür und winkte mir noch zu, bevor wir losfuhren und sie außer Sichtweite verschwand. Der Weg zu mir nach Hause war glücklicherweise nicht weit. Inzwischen bereute ich es, dass ich soviel Sake getrunken hatte. Anfangs war ich nur etwas unbeschwerter gewesen, doch inzwischen spürte ich wie auch unbändige Wut in mir aufkam. Ich war wütend auf Chishiya, aber vor allem auch auf mich selbst, weil ich diese Gefühle nicht besser im Griff hatte. Aber auch weil ich wieder mal so naiv gewesen war zu glauben, dass alles zwischen uns wieder so sein könnte wie es mal war.
Als ich es hoch in meine Wohnung geschafft hatte, ließ ich mich erschöpft auf mein Bett fallen und hielt dabei mein Handy fest umklammert in der Hand, auf dem gerade der Chat mit Chishiya angezeigt wurde.
Wie schon am Vortag drückte ich auf das Mikrofon, um ihm eine Sprachnachricht zu hinterlassen:
"Chishiyaaah... hörs' du mich? Ich wollt dir nur sag'n, dass du mich mal kreuzweise kanns', hörs' du? Ich. Hasse. Dich. Un' ich vermiss' dich auch nich'...nur damit du nich' auf falsche Gedank'n komms'. Du bis' mir absolut egal und ich komm auch gut ohne dich klar. Mir gehts blendend...nur damit du's weißt. Un' ja ich hab getrunken, bevor du frags', aber du redest ja eh nich mehr mit mir. Also schön's Leb'n dir noch, Doc. Ciao."
Ich warf das Handy achtlos beiseite und weinte dann bitterlich in mein Kopfkissen. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich jetzt noch miserabler als vorher. Während Usagi mit Arisu ein offenbar unbeschwertes Leben zusammen führte, war ich dazu verdammt einsam und unglücklich zu sein. Dabei wollte ich nur eine einzige Sache. Chishiya.
Auch, wenn mein Alkoholkonsum am Vorabend vielleicht nicht die beste Idee gewesen war, so ließ er mich immerhin tief und fest schlafen. Allerdings wachte ich dafür am nächsten Morgen mit einem dröhnenden Schädel auf, was wenig verwunderlich war bei meiner niedrigen Alkoholtoleranz. Ich erinnerte mich vage daran, dass ich ziemlich emotional geworden war und Usagi wohl ganz schön blamiert hatte mit meinem Verhalten. Vermutlich sollte ich mich möglichst bald bei ihr entschuldigen. Vorher jedoch warf ich mir fix eine Ibuprofen ein, um die anhaltenden Kopfschmerzen etwas einzudämmen. Erst dann griff ich nach meinem Handy. Ich entsperrte das Display und starrte auf den geöffneten Chat mit Chishiya. In dem Moment als ich die letzte Nachricht sah, erinnerte ich mich an meine letzte Handlung kurz bevor ich eingeschlafen war. Ich griff mir stöhnend an die schmerzende Stirn. Verdammt. Was hatte ich nur getan? Zögerlich drückte ich auf Play und hörte mir die gesamte Sprachnachricht an, während ich mein Gesicht mit jeder vergangenen Sekunde zunehmend in den Händen vergrub. Inzwischen war es schon fast 11 Uhr und er hatte die Nachricht mit Sicherheit schon längst abgehört. Sie jetzt zu löschen würde also wenig Sinn machen. Was würde Chishiya jetzt nur von mir denken? Als meine Worte in der Aufnahme erstarben, hörte man nur noch ein weit entfernes Schluchzen. Ich weiß ehrlichgesagt nicht, was schlimmer war. Meine unbedachten hasserfüllten Worte an ihn im alkoholisierten Zustand oder dass er gehört hatte, wie ich mich im Anschluss unkontrolliert meinen Tränen hingab. Beides war zugegeben einfach nur erbärmlich und am liebsten wäre ich vor Scham im Erdboden versunken. Ich wählte die Nachricht an und löschte sie, auch wenn mir klar war, dass ihm das mit Sicherheit schon bald auffallen würde. Vermutlich hatte ich die Chancen auf eine Beziehung mit ihm jetzt endgültig ruiniert. Nicht, dass es noch einen großartigen Unterschied machen würde. Anscheinend war ich ihm ohnehin völlig egal.
Als ich merkte, dass ich eine neue Nachricht hatte, öffnete ich sie schnell. Wie schon erwartet, kam sie von Usagi.
𝙶𝚞𝚝𝚎𝚗 𝙼𝚘𝚛𝚐𝚎𝚗, 𝚃𝚜𝚞𝚔𝚒!
𝙸𝚌𝚑 𝚑𝚘𝚏𝚏𝚎 𝚍𝚞 𝚋𝚒𝚜𝚝 𝚐𝚎𝚜𝚝𝚎𝚛𝚗 𝚐𝚞𝚝 𝚗𝚊𝚌𝚑 𝙷𝚊𝚞𝚜𝚎 𝚐𝚎𝚔𝚘𝚖𝚖𝚎𝚗 𝚞𝚗𝚍 𝚎𝚜 𝚐𝚎𝚑𝚝 𝚍𝚒𝚛 𝚠𝚒𝚎𝚍𝚎𝚛 𝚎𝚒𝚗 𝚋𝚒𝚜𝚜𝚌𝚑𝚎𝚗 𝚋𝚎𝚜𝚜𝚎𝚛. 𝚆𝚎𝚗𝚗 𝚍𝚞 𝚛𝚎𝚍𝚎𝚗 𝚠𝚒𝚕𝚕𝚜𝚝, 𝚔𝚊𝚗𝚗𝚜𝚝 𝚍𝚞 𝚖𝚒𝚌𝚑 𝚐𝚎𝚛𝚗 𝚓𝚎𝚍𝚎𝚛𝚣𝚎𝚒𝚝 𝚔𝚘𝚗𝚝𝚊𝚔𝚝𝚒𝚎𝚛𝚎𝚗.
Ich biss mir fest auf die Unterlippe als ich ihren Text las. Nach allem, was passiert war, war sie trotzdem immer noch freundlich und verständnisvoll.
𝙷𝚊𝚕𝚕𝚘 𝚈𝚞𝚣𝚞!
𝙺𝚎𝚒𝚗𝚎 𝚂𝚘𝚛𝚐𝚎, 𝚒𝚌𝚑 𝚋𝚒𝚗 𝚐𝚞𝚝 𝚗𝚊𝚌𝚑 𝙷𝚊𝚞𝚜𝚎 𝚐𝚎𝚔𝚘𝚖𝚖𝚎𝚗. 𝙴𝚜 𝚝𝚞𝚝 𝚖𝚒𝚛 𝚠𝚒𝚛𝚔𝚕𝚒𝚌𝚑 𝚜𝚎𝚑𝚛 𝚕𝚎𝚒𝚍 𝚠𝚒𝚎 𝚒𝚌𝚑 𝚖𝚒𝚌𝚑 𝚐𝚎𝚜𝚝𝚎𝚛𝚗 𝚟𝚎𝚛𝚑𝚊𝚕𝚝𝚎𝚗 𝚑𝚊𝚋𝚎. 𝙸𝚌𝚑 𝚝𝚛𝚒𝚗𝚔𝚎 𝚜𝚘𝚗𝚜𝚝 𝚎𝚑𝚎𝚛 𝚜𝚎𝚕𝚝𝚎𝚗 𝚞𝚗𝚍 𝚍𝚊𝚗𝚗 𝚊𝚞𝚌𝚑 𝚠𝚎𝚒𝚝𝚊𝚞𝚜 𝚠𝚎𝚗𝚒𝚐𝚎𝚛...𝙳𝚊𝚗𝚔𝚎 𝚓𝚎𝚍𝚘𝚌𝚑 𝚏ü𝚛 𝚍𝚎𝚒𝚗 𝚅𝚎𝚛𝚜𝚝ä𝚗𝚍𝚗𝚒𝚜 𝚞𝚗𝚍 𝚍𝚊𝚜 𝚗𝚎𝚝𝚝𝚎 𝙰𝚗𝚐𝚎𝚋𝚘𝚝.
𝚁𝚒𝚌𝚑𝚝𝚎 𝙰𝚛𝚒𝚜𝚞 𝚕𝚒𝚎𝚋𝚎 𝙶𝚛üß𝚎 𝚟𝚘𝚗 𝚖𝚒𝚛 𝚊𝚞𝚜.
Für einen kurzen Moment überlegte ich ihr die Sache mit meiner Sprachnachricht an Chishiya zu beichten, entschied mich dann aber dagegen. Das Ganze war mir sowieso schon unangenehm genug. Je weniger davon wissen, desto besser.
Die nächsten zwei Tage war ich nur ein Schatten meiner selbst. Ich aß kaum etwas und schaffte es auch nicht den ersehnten Schlaf zu finden. Meine Gedanken bewegten sich nur noch im Kreis. Als ich vorm Grafiktablett saß, hinderten sie mich daran, irgendetwas sinnvolles zu Stande zu bringen. Ich war schon fast froh, dass ich bald wieder Arbeiten gehen durfte. Meine Existenz fühlte sich im Moment völlig überflüssig an. Der Grund mich für etwas zu motivieren war einfach verschwunden. Trotzdem sah ich jeden Tag auf mein Handy und hoffte auf irgendeine winzige Reaktion seinerseits. Offensichtlich hatte ich mich jedoch geirrt. Er mochte mich nicht. Andernfalls hätte er sich schon längst bei mir gemeldet. Selbst Chishiya würde nicht so eiskalt sein den Menschen, den er mochte auf diese Art zu behandeln. Ich konnte es mir jedenfalls nicht vorstellen. Und das konnte nur bedeuten, dass ich ihm von Anfang an egal gewesen war. Den Kuss neulich hatte er vielleicht nur aus reiner Höflichkeit erwidert.
Usagi schrieb mir seit unserem Treffen beinahe täglich und fragte mich nach meinem Wohlergehen. Ich versicherte ihr jedes Mal, dass alles in Ordnung sei, auch wenn es alles andere als in Ordnung war, aber ich wollte sie auch nicht unnötig weiter mit meinem verwirrenden Gefühlschaos belästigen.
Vier Tage bevor meine Krankschreibung endete, beschloss ich jedoch egal wie noch etwas Motivation aufzubringen für die letzten zwei verbliebenen Kapitel meines Webtoons. Ich hatte so viel Arbeit in dieses Projekt investiert, dass ich so kurz vorm Ende nicht einfach aufgeben wollte. Und ich hielt noch immer daran fest ihn Chishiya zukommen zu lassen, egal was gerade zwischen uns stand. Und ich hatte auch schon einen Plan. Ich zog die verbliebenen freien Tage komplett durch inklusive Nachtschichten. Im Moment war dieses Projekt das einzige, das mir von Chishiya noch geblieben war. Es war mein einziger Trost und auch die beste Ablenkung von den quälenden Schmerzen und den immer gleichen wiederkehrenden Gedanken.
Im Nachhinein war ich zwar wieder um ein paar Augenringe reicher, aber immerhin konnte ich behaupten etwas konsequent bis zum Ende durchgezogen zu haben. Und es war tatsächlich schon lange her, dass ich so viel Herzblut in etwas gesteckt hatte wie in diesen Webtoon. Als ich es endlich geschafft hatte, weinte ich vor Erleichterung, aber auch weil es mich tatsächlich traurig machte, dass nun alles vorbei war. Es war als würde man schlagartig in ein tiefes schwarzes Loch fallen, ohne zu wissen wohin es einen führte. In einen einfachen Kaninchenbau oder möglicherweise doch ins Wunderland?
Der vertraute Geruch von Desinfektionsmittel stieg mir in die Nase als ich zum wiederholten Male das Sakurazaka Krankenhaus betrat. Auch wenn ich nicht sicher war, ob Nakamura überhaupt da sein würde, musste ich es wenigstens versuchen. In seinem Büro hatte ich diesmal kein Glück, aber immerhin gab man mir dort die Auskunft, dass er Spätschicht hatte. Da es kurz nach Mittag war, musste ich also fast zwei Stunden Wartezeit in Kauf nehmen. Ich setzte mich wieder aus Gewohnheit auf die gepolsterte Bank. Kurzzeitig war mir fast so, als würde Chishiya jeden Moment am Ende des Korridors auftauchen und mir sagen, dass alles gut werden würde. Aber das war wohl vielmehr mein persönliches Wunschdenken. Ich entsperrte das Display meines Smartphones und betrachtete wehmütig das Foto von ihm, das noch immer als mein Hintergrundbild eingestellt war. Irgendwie hatte ich es nicht übers Herz gebracht es zu ändern. Es anzusehen reichte, um mich lächeln zu lassen und in glücklicher Erinnerung zu schwelgen. Gleichzeitig machte es mich aber auch unendlich traurig. Die Sehnsucht nach ihm wurde mit jedem Tag unerträglicher. Dass es ihm offensichtlich nicht so erging, war für mich noch immer unbegreiflich. Naiv wie ich war, hatte ich tatsächlich geglaubt, dass ich Chishiya wichtig wäre. Wenn er mir wenigstens offen und ehrlich mitteilen würde, dass ich ihm egal war, dann würde ich versuchen das zu akzeptieren, auch wenn es letztendlich sehr schmerzhaft für mich wäre. Aber die dauernde Ungewissheit brachte mich beinahe um den Verstand.
"Du schonwieder", hörte ich eine vertraute Stimme ganz in der Nähe. Ich blickte auf und sah Nakamura nur wenige Meter entfernt auf mich zukommen. "Ich hab dir doch gesagt, dass Chishiya nicht mehr wiederkommt."
Er blieb vor mir stehen und ich stand auf.
"Ich weiß. Ich wollte auch zu dir."
Er wirkte etwas erstaunt.
"Aha und wie kann ich dir helfen?"
"Ich möchte, dass du Chishiya etwas von mir aushändigst."
Er verdrehte die Augen und seufzte.
"Du lässt also immernoch nicht locker. Ich dachte du bist inzwischen zur Vernunft gekommen und hättest eingesehen, dass er nicht gut für dich ist."
"Ich bitte dich inständig darum. Es ist wirklich wichtig für mich, dass er diese Sache bekommt", drängte ich und sah ihn flehend dabei an.
Er schüttelte verständnislos den Kopf.
"Hast du denn kein bisschen Stolz, Izumi? Ihm so hinter zu rennen, obwohl er dich offensichtlich nicht schätzt und er deine Gefühle mit Füßen tritt, ist doch irgendwie armselig. Du findest jemanden, der besser ist als das."
Ich wurde plötzlich ungehalten.
"Ich habe dich nicht nach deiner Meinung gefragt, Nakamura, sondern bitte dich lediglich um diese eine Sache. Ist das wirklich zuviel verlangt?"
Seine Miene wirkte etwas überrascht von meiner trotzigen Reaktion.
"Wie du willst", stöhnte er ergeben. "Dann renn doch geradewegs in dein Unglück. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt."
Ich öffnete meine Tasche und nahm ein flaches Paket heraus. Darin war ein Tablet und auf dem Tablet hatte ich den fertigen Webtoon geladen. Ich hatte mich dagegen entschieden ihn einfach in eine Cloud zu laden und ihm den Link zu schicken. Ich wollte, dass ihm bewusst wurde, wie viel mir diese Sache bedeutete und außerdem sollte er sich den Webtoon in Originalgröße anschauen können und nicht nur übers Smartphone. Nakamura nahm das Paket mit dem Tablet entgegen.
"Wann werdet ihr euch wiedersehen?", fragte ich ungeduldig.
"In zwei Tagen. Da ist unsere erste Abschlussprüfung."
Ich nickte verstehend.
"Ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du ihm das gibst, okay?"
"Was genau ist da drin?", wollte er wissen. "Für einen Liebesbrief ist es etwas schwer."
"Nichts, was du wissen müsstest."
"Was soll denn diese Geheimniskrämerei?"
"Tu bitte einfach, worum ich dich gebeten habe."
"Gut. Ich mach's. Aber ich kann nicht versprechen, dass er es annimmt."
Ich zog einen Zettel und einen Stift hervor und kritzelte schnell meine Handynummer darauf. Dann reichte ich ihm die Notiz.
"Hier! Gib mir bitte Bescheid, wenn du ihm das Paket gegeben hast!"
"Sonst noch was?", knurrte er missmutig. Ich setzte ein mattes Lächeln auf.
"Nein. Das war alles."
"Gut, ich muss jetzt auch wieder weitermachen. Du hältst mich schon viel zu lange auf."
"Ich danke dir wirklich sehr", beteuerte ich und verbeugte mich tief vor ihm.
"Schon okay", sagte er und wandte sich dann zum Gehen. "Bis irgendwann."
"Viel Glück bei den Prüfungen", sagte ich und winkte kurz zum Abschied.
Seine Miene verzerrte sich für einen Augenblick fast schmerzvoll.
"Ja, das kann ich gebrauchen."
Ich atmete erleichtert aus, als er verschwunden war. Hoffentlich würde alles gut gehen. Der Webtoon war vielleicht meine allerletzte Chance, dass Chishiya sich an alles erinnerte. Und wenn das passierte, würde er sich womöglich endlich wieder bei mir melden...
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