Kapitel 3
"Wir sind da."
Wir standen vor einem fünfstöckigen Wohnblock mit mehreren Apartments. Chishiya öffnete die schwere Haustür, die uns in ein geräumiges Treppenhaus führte, das jedoch schon so verfallen wirkte als hätte es schon länger niemand mehr betreten. Ich konnte noch immer kaum glauben, dass Chishiya mich tatsächlich zu seinem Unterschlupf bringen wollte und grübelte noch eine ganze Weile über seine möglichen Beweggründe. Wir liefen hinauf bis zur obersten Etage. Wehmütig sah ich zu dem Aufzug, der wie jegliche andere Technik in Borderland außer Betrieb war. Etwas außer Atem lehnte ich mich gegen die nackte kalte Wand im Korridor.
"Lass mich raten: Pikspiele sind eher nicht dein Metier."
Ich zog eine Schnute hinsichtlich seiner spitzen Bemerkung. Dann zog er einen silbernen Schlüssel aus seinen Taschen hervor und steckte ihn ins Schloss der Wohnungstür.
"Du hast sogar einen Schlüssel?", fragte ich baff.
"Natürlich hab ich einen. Ich hatte nicht vor den Pikkönig zum Kaffeetrinken einzuladen", entgegnete er und stieß die Tür auf. "Auch wenn ihn eine einfache Tür kaum aufhalten wird. Deshalb ist es wichtig sich möglichst unauffällig zu verhalten."
Ich nickte verstehend und sah mich in dem kleinen Apartment um. Wir standen in einem spärlich eingerichtetem Zimmer mit einem Futonbett und einer kleinen Küchenzeile. In der Mitte stand lediglich ein kleiner Tisch mit einem kleinem Campingkocher und ringsherum stapelten sich einige Konservendosen und Wasserflaschen. Auch wenn der Raum minimalistisch eingerichtet war, so konnte man doch deutlich erkennen, dass hier schon länger jemand lebte. Die aufgezogene Bettwäsche sah bereits zerknittert aus und auf dem Kopfkissen konnte ich ein aufgeschlagenes Buch erkennen. Ein paar Pfannen und benutzte Töpfe standen auf dem Küchentresen und irgendwo in einer hinteren Ecke lag ein Wäschehaufen mit getragener Kleidung. An der Wand hingen vereinzelt ein paar deprimierende Bilder. Eines davon war ein schwarz-weiß Foto auf dem eine schwarze Katze auf einem Grabstein saß, ein anderes ein gruseliges Porträt von einer Frau im Spiegel. Wer immer hier einmal gelebt hatte, gehörte nicht gerade zu der fröhlichen Sorte Mensch. Während ich mich umsah, sicherte Chishiya die Tür von innen mit mehreren Riegeln und Schlössern. Dann hockte er sich an den niedrigen Tisch, während ich noch etwas verloren in dem spärlichen Zimmer stand.
"Willst du lieber stehen?", fragte er ohne mich eines Blickes zu würdigen und nahm dann einen sauberen Topf zur Hand.
"Ist das wirklich okay für dich, wenn ich hier bin?", fragte ich etwas zögerlich.
"Warum bist du mitgekommen, wenn du jetzt schon ein schlechtes Gewissen hast?"
Er sah auf ohne eine Miene zu verziehen.
"Also ich..."
"Oh bitte. Jetzt setz dich einfach hin", entgegnete er augenrollend.
Peinlich berührt legte ich meine Tasche mit meinem wenigen Hab und Gut beiseite und nahm gegenüber vom Chishiya Platz.
"Hunger?", fragte er, während er eine der Konserven öffnete und den Inhalt in den Topf umfüllte.
Bei dem Geruch des Essens, spürte ich tatsächlich wie mein Magen rebellierte.
"Schon gut. Ich kann nicht einfach deine Vorräte verbrauchen. Ich werde mir morgen was eigenes suchen", versprach ich. Genau in diesem Moment musste mein leerer Magen natürlich ein unüberhörbares Knurren von sich geben.
Ich lächelte etwas peinlich berührt.
"Erst rückst du mir nicht von der Pelle, aber jetzt plötzlich willst du wieder unabhängig sein. Beides funktioniert nicht. Also isst du jetzt was mit oder nicht?"
Er hob erwartungsvoll die Augenbrauen und ich legte etwas beschämt von der Situation die Hände in meinen Schoß.
"Ich....na gut", gab ich nach. "Aber ich revanchier mich dafür."
Er seufzte etwas.
"Tu was du nicht lassen kannst. Mir egal."
Er stand kurz auf und schien in den Küchenschränken nach etwas zu suchen. Dann kam er mit einer zweiten Suppenschale und Stäbchen an den Tisch zurück. Ich beobachtete wie er die Udon-Nudelsuppe im Topf auf den Campingkocher stellte und ihn einschaltete. Wieder einmal herrschte eine betretene Stille zwischen uns. Ich hatte ein schlechtes Gewissen mich ihm so aufgedrängt zu haben, doch Chishiya schien vollkommen unbefangen damit umzugehen, obwohl er anfangs nicht gerade scharf darauf war mich mitzunehmen. Als das Essen erhitzt war, teilte er es auf die beiden Schüsseln auf.
"Hier", sagte er und reichte mir eine, "Ist nicht das Beste, aber es füllt den Magen."
Dankbar nahm ich sie entgegen.
"Danke dir. Es riecht wirklich lecker."
Ich lächelte ihn warm an in der Hoffnung er würde mein Lächeln erwidern. Doch Chishiyas Miene blieb unbeweglich. Ich griff nach den Stäbchen und probierte, während er mich aus den Augenwinkeln dabei beobachtete ohne, dass sein Gesichtsausdruck irgendeinen seiner Gedanken offenbart hätte.
"Also Chishiya-kun", testete ich zögerlich seinen Namen. Es gefiel mir ihn auszusprechen. "Warst du seit dem Untergang vom Beach die ganze Zeit alleine hier unterwegs?"
"Größtenteils ja", erwiderte er knapp und schob sich dann nebenher ein paar Nudeln in den Mund.
Ich nickte anerkennend.
"Hast du sonst nicht immer mit diesem taffen Mädchen rumgehangen? Wie hieß sie nochmal? Kaori?"
"Kuina."
"Ah ja, Kuina. Es lag mir auf der Zunge."
Chishiyas Augen wurden kurzzeitig schmal.
"Dafür, dass du mich nur maximal zweimal gesehen hast, weißt du ja ziemlich viel über mich."
Verdammt. Er hatte mich durchschaut.
Schnell wandte ich meinen Blick von ihm ab und rührte verlegen mit den Stäbchen in meiner Suppe herum.
"Vielleicht war es auch dreimal oder so..."
"Oder so? Klingt nicht als wärst du dir da ganz sicher."
Ich rollte etwas mit den Augen.
"Ja, okay. Vielleicht auch öfter. Höchstwahrscheinlich. Nun zufrieden?"
Chishiya grinste süffisant.
"Da hab ich ja einen echten Fan."
Seine kleinen Sticheleien machten mich langsam wirklich wütend. Und er schien es zu genießen mich dabei zu beobachten wie ich zunehmend meine Geduld verlor.
"Du verstehst das falsch. Ich kann Leute, die ich einmal gesehen habe, nur nicht vergessen. So ist es eben", log ich.
"Nun seltsamerweise kann ich mich überhaupt nicht an dich erinnern. Also besteht auch die Möglichkeit, dass du dir das alles nur ausgedacht hast."
Ich stutzte.
"Bitte? Ich lüge nicht."
"Kannst du das beweisen?"
"Ich muss dir gar nichts beweisen, Chishiya", sagte ich nun mit unüberhörbar trotziger Stimme. "Und ich hätte auch keinen Grund zu lügen."
Er lächelte überlegen.
"Du lässt dich viel zu leicht provozieren, weißt du das? Wenn du ruhiger bleiben würdest, würdest du einen klareren Kopf behalten und dich auf die wichtigen Dinge fokussieren."
Ich schnaubte auf.
"Was soll das werden? Eine Lektion fürs Leben?"
"Nur ein Tipp für die Zukunft."
"Ich habe dich nicht um Rat gefragt."
Er zuckte mit den Schultern.
"Du musst ihn auch nicht befolgen."
Ich nahm die Stäbchen wieder zur Hand und schob mir missmutig ein paar Nudeln in den Mund, bevor ich die Schüssel an meine Lippen setzte und die restliche Brühe ausschlürfte. Auch Chishiya war inzwischen fertig mit Essen.
"Nachschub?", fragte er immer noch in einem leicht angriffslustigen Ton.
"Nein, danke", lehnte ich schroff ab. "Verrat mir lieber, warum du doch noch zugestimmt hast mich zu dir mitzunehmen? Du scheinst mir nicht gerade der gesellige Typ zu sein...und auch nicht jemand, der aus Mitleid Leute bei sich aufnimmt."
Er grinste spöttisch und lehnte sich lässig gegen die Säule hinter ihm, die die Küche vom Wohnbereich trennte.
"Nun ich dachte ich probiere mal was Neues aus."
Ich schnaubte erneut.
"Bist du so eine Art...Soziopath? Muss ich Angst haben, dass du mich für deine Zwecke manipulierst?"
Seine Miene wurde wieder einen Hauch kühler.
"Kein Soziopath. Ich bevorzuge es lediglich alleine zu arbeiten."
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er fast etwas gekränkt von meinen Worten war.
"Umso überraschender, dass du mich hierher gebracht hast."
"Schön", sagte er fast schroff. "Wenn du darauf bestehst. Ich bin ein Soziopath. Jetzt zufrieden?"
Ich kicherte leise.
"Ja, vollkommen", entgegnete ich eine Spur freundlicher. "Trotzdem danke für das Essen. Ich weiß du hättest es nicht mir mir teilen müssen. Also vielleicht bist du doch gar nicht so übel..."
Er zuckte mit den Schultern.
"Was soll ich sagen? Auch ich habe manchmal meine Momente."
"Oh wirklich? Erzähl mir mehr!", bat ich mit einem herausfordernden Lächeln.
"Mehr worüber? Über den Soziopathen in mir oder meine Momente?"
"Zweiteres."
"Nun zum einen ziehe ich es vor nicht Soziopath genannt zu werden. Ich bevorzuge charmanter, intelligenter und gutaussehender Typ mit einem Hauch von Zwielichtigkeit", sagte er mit vollkommen ernster Miene.
Ich hatte keine Ahnung wie er es anstellte, aber er brachte mich mit seiner Art erneut dazu haltlos zu kichern. Wer hätte gedacht, dass Chishiya so ein Charmeur sein konnte? Ein überaus narzisstischer Charmeur, aber immerhin. Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich Chishiya als Mann nicht interessant fand. Er zog mich an auf eine seltsame Art. Das war schon damals beim Beach so gewesen. Er suggerierte anderen stets seine Überlegenheit schon alleine durch seine bloße Präsenz und er schien jede schwierige Situation auf Anhieb unter Kontrolle zu haben. Ich bewunderte ihn ehrlichgesagt für diese Fähigkeiten. Und außerdem war da noch die Sache mit Niragi für die ich ihm mehr als nur dankbar war...
"Ich werd's mir merken", versprach ich mit süßlicher Stimme.
Chishiya stand plötzlich auf und räumte unsere Schüsseln beiseite. Ich erhob mich ebenfalls um ihm beim Abräumen zu helfen.
"Hör zu", sagte er ruhig aber bestimmt. "Das hier ist mein Versteck und ich will, dass du hier nichts anfasst ohne meine Erlaubnis."
Ich setzte einen Schmollmund auf und er riss mir die Schüssel förmlich aus der Hand.
"Ich wollte nur helfen."
"Denkst du, was du mir jetzt schuldig bist, kannst du einfach mit ein bisschen Hausarbeit wieder gutmachen?"
"Aha und womit dann? Willst du vielleicht, dass ich mich in einem Spiel für dich opfere?"
Chishiyas Grinsen wurde etwas breiter.
"Das klingt zumindest schon etwas verlockender."
Ich verschränkte missmutig die Arme und grummelte:
"Also darüber hättest du mich auch vorher mal aufklären können. Gibt's sonst noch irgendwelche Dinge im Kleingedruckten, die ich vielleicht wissen sollte?"
Chishiya machte ein angestrengt nachdenkliches Gesicht.
"Ja", sagte er als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen. "Verlieb' dich nicht in mich!"
Dann sah er mich triumphierend an als erwartete er, dass ich ihm für diesen unnötigen Satz noch Beifall zollte. Ich gab ein abschätziges Geräusch von mir.
"Du glaubst also ich würde mich in dich verlieben? Das würde ja bedeuten ich müsste gegen deine Selbstverliebtheit ankommen, was wirklich schwer zu überbieten ist, wenn wir ehrlich sind."
Chishiya lächelte fast lautlos in sich hinein.
"Da hast du wohl Recht. Trotzdem, ich habe dich gewarnt."
"Du erwartest jetzt hoffentlich keinen Dank von mir für diese großzügige Geste."
Ein winziges stummes Lächeln lag auf seinen Lippen, während er den Wasserhahn aufdrehte und den schmutzigen Topf darunter stellte. Ich starrte vollkommen ungläubig auf den Wasserstrahl und konnte meinen Augen kaum trauen.
"Wart mal...du hast...fließendes Wasser hier?"
"Ja, es gibt hier eine Anlage, die mit einem Generator betrieben wird. Ich habe auch Strom, aber die Leistungsfähigkeit des Generators ist nur begrenzt. Zuviel auf einmal kann ihn schnell lahmlegen."
"Hast du den selbst gebaut?", fragte ich verblüfft. Chishiya fand diese Frage offensichtlich amüsant.
"Ich habe viele Fähigkeiten, aber ein Generator zu bauen gehört nicht dazu. Da muss ich dich enttäuschen. Das Notstromaggregat war bereits installiert als ich herkam. Ich hatte wohl Glück, dass es vor mir noch keiner bemerkt hat."
"Das heißt also du hast auch warmes Wasser?", fragte ich hoffnungsvoll. Ich konnte es kaum glauben. Das wäre zu schön um wahr zu sein. Ich hatte mich schon gewundert, dass Chishiya einer der wenigen im letzten Spiel war, der immer einen angenehmen frischen Geruch verströmte. Seit dem Ende vom Beach roch fast niemand mehr wirklich hygienisch sauber. Auch meine letzte richtige Dusche musste schon eine ganze Weile her sein, wenn ich genau darüber nachdachte.
"Richtig, aber wie gesagt. Ein Notstromaggregat hält nur für begrenzte Zeit, daher solltest du sparsam mit allem umgehen. Ich hoffe es hält wenigstens noch für die Zeit, die wir brauchen um alle Bildkarten zu gewinnen."
Ich nickte verstehend.
"Okay, ich verspreche ich werde sparsam sein."
Der Gedanke an ein warmes Bad oder wenigstens eine heiße Dusche ließ mich jedoch kaum noch los. Doch nach seinen Worten traute ich mich nicht direkt danach zu fragen. Ich sollte mit dem zufrieden sein, was ich hatte: warmes Essen und einen sicheren Platz zum Schlafen. Aus irgendeinem Grund jedoch hatte ich das Gefühl selbst das nicht verdient zu haben. Chishiya hatte mich entgegen meiner Erwartungen in sein Versteck gebracht und sogar seine Vorräte mit mir geteilt. Auch wenn sein großkotziges Verhalten teilweise echt anstrengend war, wusste ich das durchaus zu schätzen. Ich sah mich ein weiteres Mal in dem Raum um, während Chishiya den Abwasch erledigte (ein wirklich ungewohnter Anblick wie ich zugeben musste). Mein Blick schweifte zu seinem Bett hinüber, während ich mich gleichzeitig fragte, wo ich in der kommenden Nacht schlafen würde. Chishiya beobachtete mich dabei und warf mir einen wissenden Blick zu als wüsste er ganz genau, was ich dachte.
"Willst du wissen, wo dein Schlafplatz sein wird?", fragte er süffisant. Ich nickte etwas zögerlich. "Also du hast zwei Möglichkeiten. Entweder du schläfst irgendwo auf dem Boden oder..." Er machte eine dramatische Pause. "...neben mir im Bett."
Verwirrt sah ich ihn an, während er überheblich seine Lippen kräuselte. Meine Wangen wurden daraufhin ein wenig warm.
"Ich glaube dafür kennen wir uns noch nicht gut genug" , sagte ich mit kühlem Unterton. "Zudem glaube ich kaum, dass das ernst gemein war, oder?"
"War ich denn jemals nicht ernst?", fragte er mit gespielt unschuldiger Stimme.
Ich hob die Brauen.
"Ich werde dann auf dem Boden schlafen", sagte ich seine letzte Frage ignorierend.
"Wenn es das ist, was du willst."
"Weißt du, Chishiya, ich sehe vielleicht aus wie eine verhätschelte Prinzessin, aber ich habe kein Problem damit auf dem Boden zu schlafen. Nur fürs Protokoll."
"Oh sicher. Du siehst genau aus wie die Art von Mädchen die lieber auf dem Boden schlafen würde als in einem schönen weichen Bett", erwiderte er und versuchte dabei nicht einmal seinen sarkastischen Tonfall zurückzuhalten. Dann ging er zu einer kleinen Holztruhe und öffnete sie. "Nun wie auch immer. Hier ist eine Futonmatte, ein Kissen und 'ne Decke. Mach's dir irgendwo gemütlich."
Er warf mir die Sachen lieblos zu und ich fing sie etwas ungeschickt auf und ließ das Kissen dabei beinahe fallen.
"Danke", knurrte ich und verzog mich dann damit in die hinterste Ecke des Raumes, darauf bedacht den größtmöglichen Abstand zu seinem Bett zu lassen. Chishiya schüttelte währenddessen seine eigene Bettdecke auf.
"Ich hoffe du schnarchst nicht, sonst muss ich dich wohl im Schlaf ermorden."
"Haha", erwiderte ich tonlos. "Und nein, tue ich nicht."
Chishiya grinste mich wie immer mit spöttischem Lächeln an. Dann drehte er sich von mir weg und streifte seine weiße Jacke ab. Es war das erste Mal, dass ich ihn in etwas Kurzärmeligen sah und ich war gerade noch dabei diesen Anblick zu verarbeiten, als er sich das schwarze T-Shirt kurzerhand über den Kopf zog und in eine Ecke des Zimmers manövrierte. Schnell wandte ich meinen Blick von ihm ab, spürte jedoch augenblicklich wie mein Gesicht heiß wurde.
Reiß dich zusammen, Tsuki!
Das ist schließlich nichts, was du nicht schonmal gesehen hättest, ermahnte mich eine innere Stimme.
Trotzdem schaffte ich es aus irgendeinem Grund nicht den Blick wieder zu heben. Als ich es irgendwann doch tat, trug er ein anderes Shirt diesmal in grau. Er sah mich an und zuckte amüsiert mit den Mundwinkeln, als könnte er meine unanständigen Gedanken erahnen, sagte jedoch nichts über mein Verhalten.
"Willst du dich nicht auch umziehen?", fragte er nur und griff nach seinem Buch auf dem Kopfkissen. "Da drüben ist das Badezimmer, wenn es dir zu peinlich ist in meiner Gegenwart."
Ein Schmollen trat auf meine Lippen, doch das war nur von kurzer Dauer, denn etwas anderes kam mir in den Sinn.
"Darf ich-...also dürfte ich vielleicht auch die Dusche benutzen?", fragte ich zögerlich und senkte etwas verlegen die Stimme.
Chishiya, der sich bereits in die Waagerechte begeben hatte, richtete sich etwas auf und hob eine Augenbraue.
"Du verlangst ja ziemlich viel."
Ich senkte den Blick und sah auf meine Hände.
"Ich weiß. Tut mir Leid. Ich werde auch nur so wenig Wasser wie möglich verwenden", sagte ich in fast in flehendem Ton. "Versprochen!"
"Nun ich werde nicht abstreiten, dass du eine Dusche nötig hättest. Also meinetwegen", sagte er fast gleichgültig und lehnte sich wieder zurück mit dem Buch in der Hand.
Erleichtert stand ich auf und suchte ein paar meiner Sachen zusammen, die ich immer bei mir hatte, seit wir hier in Borderland waren. Darunter auch frische Unterwäsche, bei der ich bisher gezwungen war sie hin und wieder im Fluss zu reinigen. Als ich an Chishiyas Bett vorbeiging, machte ich einen tiefen höflichen Knicks vor ihm und murmelte ein "Dankeschön".
Er blickte unbeeindruckt über den Rand seines Buches, dessen Titel ich jetzt deutlich lesen konnte: Alles, was wir geben mussten von Kazuo Ishiguro.
"Falls das ein Versuch ist dich bei mir einzukratzen. Lass es."
"Tsss...", machte ich nur missbilligend und steuerte erhobenen Hauptes die Tür an, die zum Badezimmer führte.
Als ich endlich alleine war, atmete ich etwas auf. So froh ich auch war, nicht ganz auf mich gestellt sein zu müssen, war ich trotzdem dankbar für eine kurze Erholung ohne jegliche Gesellschaft. Ich sah mich in dem Bad um. Es war größer als ich gedacht hatte und es gab tatsächlich eine Badewanne. Dennoch würde ich mich vorerst mit einer warmen Dusche zufrieden geben. Ich hatte immerhin versprochen Chishiya nicht unnötig zur Last zu fallen und wollte ihn auch nicht ausnutzen für mein Verlangen nach einem heißen Bad. Ich blickte zu dem Türschloss, doch entschied es nicht zu verriegeln. Chishiya war zwar ein wahnsinnig selbstgefälliger Kerl, aber ich traute ihm nicht zu, dass er einfach ohne Ankündigung hier hereinplatzen würde.
Da es langsam draußen dämmerte, betätigte ich den Lichtschalter und tatsächlich glimmte, wenn auch recht schwach eine Glühbirne über dem Spiegel auf. Ich begutachtete die Dusche etwas näher und sah auf der Ablage ein Duschgel für Männer stehen. Ich ging zu dem Badschrank und öffnete ihn in der Hoffnung noch etwas anderes zu finden. Ein immerhin halb gefülltes Duschbad mit Rosenduft fiel mir in die Hände und eine einfache Shampooflasche. Ich stellte beides ebenfalls auf die Ablage und begann dann mich langsam zu entkleiden. Danach band ich meine Haare zusammen und ging in die Duschkabine. Ich drehte das Wasser auf und seufzte wohlig auf als ich mich unter den Wasserstrahl stellte. Noch nie hatte sich warmes Wasser besser auf meiner Haut angefühlt. Ich musste zugeben, dass es wirklich schwer war mich wieder davon zu trennen, doch ich hatte Chishiya versprochen nicht verschwenderisch mit dem Wasser umzugehen. Ich trocknete mich mit einem der Handtücher ab, die fein säuberlich zusammengelegt in dem Schrank unterm Waschbecken lagen. Nach der Dusche fühlte ich mich zwar endlich wieder frisch, aber dafür auch ausgesprochen schwach auf den Beinen. Schon vorhin hatte ich deutlich gespürt, dass mein Körper nach Ruhe verlangte. Was mich jedoch mehr beunruhigte war das leichte Ziehen im Hals und meine miserable Kondition. Normalerweise war ich nicht so schnell außer Atem, aber die paar Treppen vorhin hatten mich bereits nach wenigen Stufen aufkeuchen lassen. Ob das noch Nachwirkungen von der Erkältung waren, die ich gerade erst hinter mir hatte? Ich hatte sie mir eingefangen kurz nachdem der Beach untergegangen war, doch es war nur eine leichte Erkältung mit etwas Schnupfen, Hals- und Kopfschmerzen. Nichts Weltbewegendes. Doch nun fühlten sich meine Beine wackelig an wie Götterspeise als ich versuchte in meine Schlafsachen zu schlüpfen. Ich schob es auf die Anstrengung der letzten Tage und den psychischen Stress. Wenigstens hatten wir jetzt erstmal 11 Tage Visum durch das letzte Spiel erhalten. Das sollte reichen, um sich etwas von den Strapazen zu erholen.
Als ich wieder aus dem Badezimmer kam, spürte ich kurrzeitig Chishiyas Blick auf mir, der noch immer in seinem Buch las. Er sagte jedoch nichts. Ebenfalls schweigend ging ich zu meinem Schlafplatz und versuchte es mir dort etwas bequem zu machen. Dann setzte ich mich auf die Futonmatte und kramte meinen Skizzenblock und den Bleistift hervor. Als ich bemerkte, dass es zu dunkel war zum Zeichnen, sah ich mich kurz um und entdeckte über mir eine kleine Wandleuchte, die ich sogleich ausprobierte. Ich sah vorsichtig zu Chishiya und beobachtete wie seine Augen schmaler wurden.
"Übertreib es nicht."
"Nur ein paar Minuten", bat ich und begann das Layout fortzuführen, das ich vorhin begonnen hatte. Doch schon währendessen fielen mir beim Zeichnen fast die Augen zu.
"Was genau soll das eigentlich werden? Ein Manga?", fragte Chishiya plötzlich als ich kurz vorm Wegnicken war. Ich musste zugeben, dass ich etwas erstaunt war von seinem plötzlichen Interesse.
"Eigentlich ein Webtoon", erwiderte ich, ohne den Bleistift beiseite zu legen. "Es geht um Borderland und unsere Erlebnisse hier. Wenn ich es schaffe zu überleben, dann werde ich ihn fertigstellen und veröffentlichen."
"Der Webtoon handelt also von dir selbst?"
"Nein, es sind verschiedene Geschichten von den Leuten vom Beach. Ich habe einige dort interviewt und sie haben mir dann von ihren Erlebnissen Bericht erstattet."
"Also gibt es keinen Hauptcharakter in dieser Geschichte?", fragte er.
Ich lächelte.
"Bis jetzt nicht. Aber das sind auch erstmal alles nur rohe Entwürfe."
"Werde ich auch vorkommen?", grinste er großspurig.
Ich hielt kurz inne und dachte nach. Tatsächlich hatte ich bereits ein paar Entwürfe für Chishiya, aber das wollte ich ihm ungern unter die Nase reiben, um seinen Stalker-Sticheleien zu entgehen.
"Hmm, mal sehen...", antwortete ich vage.
"Also du meinst ich nehme dich hier großzügig bei mir auf und teile bereitwillig alle meine Ressourcen mit dir, aber als Dank bekomme ich nicht einmal eine winzige Rolle in deinem Webtoon? Mann, du bist herzloser als ich angenommen hatte", seufzte er übertrieben theatralisch.
Ich lächelte matt.
"Ich sagte ja... mal sehen."
"Was für eine langweilige Geschichte wäre denn das, wenn ich nicht darin vorkomme?"
"Ich denk drüber nach, okay?", entgegnete ich eine Spur gereizter, legte die Zeichenutensilien beiseite und knipste das Licht dann wieder aus. "Ich werde jetzt schlafen", informierte ich ihn, bevor ich mich von ihm wegdrehte mit dem Gesicht zur Wand.
"Na, das kam unerwartet."
Ich antwortete nicht und hörte nur noch wie Chishiya auch seine Nachttischlampe ausschaltete. Die Dunkelheit war seltsam angenehm und ließ mich endlich zur Ruhe kommen. Der Gedanke, dass Chishiya so dicht in meiner unmittelbaren Nähe war und schlief, machte mich trotzdem ein wenig nervös.
"Gute Nacht, Chishiya" , flüsterte ich leise, "Und Danke."
Was folgte war durchdringende Stille.
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