Kapitel 28
"Und wie war deine Verabredung mit Lockenköpfchen?"
Niragi lag weit zurückgelehnt in seinem Bett, als ich in das Krankenzimmer zurückkehrte, und sah sich den Geräuschen nach zu urteilen gerade einen stupiden Action-Film auf seinem Smartphone an. Nichts wirklich neues also.
Ich nahm mein Buch zur Hand, schlug es auf und lehnte mich gegen mein Kissen.
"Nichts als Zeitverschwendung", entgegnete ich knapp, weil ich wenig Lust hatte die Sache näher zu erörtern.
"Was wollte die Kleine denn so dringendes nachdem sie mich ja regelrecht angebettelt hat dich zu einem Treffen zu bequatschen?"
"Keine Ahnung. Sie ist davon überzeugt mich zu kennen. Ich glaube eher sie hat Wahnvorstellungen oder so."
"Ah, sie ist also nicht nur süß, sondern auch durchgeknallt. Darauf steh ich bei Frauen. Und ihre üppigen Brüste erst. Nackt sieht sie bestimmt zum Anbeißen aus. Denkst du nicht auch?"
Ich hielt kurz inne ohne zu ihm aufzusehen.
"Hab ich nicht drauf geachtet."
Niragi gluckste und warf mir einen unglaubwürdigen Seitenblick zu.
"Stehst wohl nicht auf Frauen, was?", grinste er hämisch.
"Ich lege einfach keinen Wert auf sowas", erklärte ich ruhig und hoffte insgeheim er würde endlich aufhören zu reden. Ich für meinen Teil werde Niragis Anwesenheit jedenfalls nicht sonderlich vermissen, wenn unsere Wege sich ab morgen wieder trennten.
"Wäre ich an deiner Stelle gewesen, hätte ich meinen Spaß mit ihr gehabt. So besessen wie sie von dir ist, hätte sie mit Sicherheit alles für dich getan. Das ist das beste Los, was man kriegen kann. Aber du lässt dir diese einmalige Chance natürlich entgehen. Das ist ja typisch für einen Langweiler wie dich."
Ich zog geringschätzig meine Augenbraue nach oben.
"Wir haben wohl unterschiedliche Ansichten zum Thema Spaß."
"Nichts für ungut, Blondie, aber für mich siehst du nicht so aus als hättest du in deinem Leben jemals Spaß bei irgendwas gehabt."
Ich verzog amüsiert die Lippen.
"Wahrscheinlich hast du sogar Recht."
Ich wandte mich wieder dem Buch zu in der Hoffnung, dass Niragi mich endlich ungestört lesen ließ. Doch meine Gedanken drifteten schnell weg von dem Text und landeten bei dieser seltsamen Frau, die mich so unbedingt hatte sprechen wollen. Die Dinge, die sie von sich gegeben hatte, klangen mehr nach einer absurden Dystopie als nach einer aufschlussreichen Erklärung. Meinen Namen hätte sie leicht irgendwo aufschnappen können, doch woher sie wusste, was der wirkliche Grund für mein Medizinstudium gewesen war, blieb nach wie vor rätselhaft. Diese Sache hatte ich mit Sicherheit nie jemandem erzählt, weil die meisten Menschen das ohnehin nie verstehen würden. Nicht einmal meine Eltern kannten den Grund.
Angenommen ihre seltsame Geschichte würde also wirklich stimmen, dann müsste ich ihr ein erhebliches Vertrauen entgegengebracht haben. Wie war es also möglich, dass ich mich an etwas derartiges nicht erinnerte? Es ergab keinen Sinn. Und das lag nicht einmal an ihrer Erwähnung von Nahtoderfahrungen. Es gab tatsächlich zahlreiche Studien aus der Hirnforschung über dieses Phänomen, von dem viele Menschen, die dem Tod bereits nahe waren, berichteten. Der Grund dafür war eine erhöhte Gehirnaktivität kurz vorm Tod, die man theoretisch auch mit Drogenkonsum künstlich herbeiführen könnte.
Allerdings war es nahezu unmöglich, dass sie in dieser Phase Wissen über andere Menschen erlangen konnte, die sie bis Dato nicht einmal gekannt hatte. Das Ganze warf eher noch mehr Fragen auf, als es tatsächlich beantwortete. Es gab also demzufolge keine logische Erklärung für die Dinge, die sie über mich wusste. Könnte sie dennoch die Wahrheit gesagt haben? Ich schüttelte bei diesem Gedanken unwillkürlich den Kopf.
Unmöglich.
Nachdenklich sah ich zu Niragi hinüber, dessen Namen sie ebenfalls erwähnt hatte.
"An was erinnerst du dich, als dein Herz stehen geblieben ist?", fragte ich ihn schließlich.
Niragi sah etwas erstaunt von seinem Handy-Bildschirm auf. Dann verzog er seinen Mund zu einem süffisanten Grinsen und sah sehnsüchtig zur Decke.
"Boar, das war als wäre ich auf 'nem ultimativen Trip gewesen. Ich war völlig frei und konnte tun und lassen, was ich wollte. Selbst die Mädels haben alles getan, was ich von ihnen verlangt habe. Alle haben mich gefürchtet und ich hab mich kurzzeitig unbesiegbar gefühlt."
"Bist du dort jemanden begegnet, den du hier wiedergetroffen hast?"
"Kein Plan. So genau erinnere ich mich auch nicht daran. Es war eben wie ein krasser Drogenrausch."
Was Niragi erzählte, stimmte immerhin mit den wissenschaftlichen Studien zu Nahtoderfahrungen überein. Aber wie war es dann möglich, dass die junge Frau mit den wirren Haaren sich an so viele Details erinnern konnte, während ich mich an rein gar nichts erinnerte? Logisch, weil sie gelogen hatte, beantwortete ich mir meine eigene Frage. Nur was wollte sie mit dieser Lüge bezwecken? Wollte sie damit nur meine Aufmerksamkeit erregen oder war sie wirklich einfach nur verrückt?
Egal wie lange ich darüber nachgrübelte. Ich wurde nicht schlau aus diesem Mädchen.
Nur wenige Tage nach meiner Entlassung aus der Klinik, durfte ich wieder arbeiten gehen. Von dem einem Krankenhaus ins Nächste sozusagen, mit dem Unterschied, dass ich diesmal wieder auf der anderen Seite stand. Das sonderbare Mädchen war schon längst wieder aus meinem Kopf verschwunden, weil der Arbeitsalltag mich schnell wieder eingeholt hatte.
Obwohl ich beschlossen hatte nach meinem Beinahe-Tod mein Leben von Grund auf zu verändern, blieb alles weitesgehend beim Alten. Transplantationsreihenfolgen wurden nach Willen des Chefarztes verändert, als würde er es lieben Gott zu spielen. Als wären die Leben für ihn nur Figuren auf seinem ganz persönlichen Schachbrett. Kleine unwichtige Bauern, die keine Daseinsberechtigung hatten, wurden abgeschoben und zum Sterben verurteilt. Zum ersten Mal wurde mir bewusst wie ungerecht das Ganze war.
Nein, tatsächlich hatte ich es schon immer gewusst, aber erst jetzt konnte ich es sehen - wie krank diese Welt in Wirklichkeit war. Und dabei hatte ich mein ganzes Leben lang geglaubt, dass ich derjenige war, mit dem etwas nicht stimmte.
Ich dachte ich sei abgestumpft und skrupellos, ohne jegliches Mitleid für andere. Dabei wollte ich in Wirklichkeit nur etwas fühlen, sei es Traurigkeit oder Glück. Beides hätte mich gleichermaßen zufriedengestellt.
Doch was ich inzwischen empfand, war vielmehr Wut. Und es war unbefriedigend. Mein Hirn war zwar beschäftigt, doch mein Geist war ruhelos. Ich sah weinende Mütter und zornige Väter. Aber vor allem sterbende Kinder. Es war ein Wunder, dass die Klinik bisher keine schwerwiegenden Klagen am Hals hatte. Ich vermutete es war nur eine Frage der Zeit.
Ich gab mich als stiller Beobachter wie sonst auch, doch in Wirklichkeit zählte ich die Tage bis zum Ende des Semesters. Zuvor jedoch musste ich meine erste eigene OP durchführen, mit der man als Medizinstudent das praktische Jahr abschließen würde. Da es sich dabei jedoch nur um eine einfache Appendektomie, umgangssprachlich also eine Blinddarmentfernung handelte, machte ich mir wenig Sorgen, denn den Ablauf einer solchen hätte ich im Schlaf herbeten können.
Nur ein Tag vorher jedoch, passierte etwas Unerwartetes als ich meine Frühschicht antrat. Auf meinem Schreibtisch lag eine Tüte mit Keksen. Doch das war nicht das, was mich irritierte. Es war die Skatkarte, die darauf festgeklebt war.
Die Karte des Herzbuben.
"Wie kommt das hierher?", fragte ich an Nakamura gerichtet, der ebenfalls Medizinstudent war und zur gleichen Zeit mit mir hier angefangen hatte.
Er zuckte mit den Schultern.
"Der Chef sagt das hat deine Freundin gestern für dich abgegeben, nachdem du schon weg warst."
Ich sah ihn erstaunt an.
"Ich habe keine Freundin."
Nakamura grinste.
"Dann war es wohl nur eine Verehrerin. Könntest mir wirklich mal ein paar davon abgeben", empörte er sich und verließ dann das Büro. Stirnrunzelnd sah ich auf die Karte und zog sie mit einem kurzen Ruck von der Plastiktüte ab. Ich drehte sie um und las:
𝓔𝓽𝔀𝓪𝓼 𝓝𝓮𝓻𝓿𝓮𝓷𝓷𝓪𝓱𝓻𝓾𝓷𝓰.
𝓘𝓬𝓱 𝓭𝓮𝓷𝓴𝓮 𝓭𝓾 𝔀𝓲𝓻𝓼𝓽 𝓼𝓲𝓮 𝓶ö𝓰𝓮𝓷.
𝓖𝓾𝓽𝓮𝓷 𝓐𝓹𝓹𝓮𝓽𝓲𝓽!
Auch, wenn es keinen Absender gab, wusste ich genau von wem dieses Präsent kam. Ich seufzte kurz auf. Offensichtlich wusste sie also auch, wo ich arbeitete. Warum überraschte mich das nicht?
Für den restlichen Tag grübelte ich darüber nach, warum sie das getan hatte. Glaubte sie noch immer, dass wir uns aus einer seltsamen Parallelwelt kannten? Und wieso schenkte sie mir ausgerechnet Kekse? War das womöglich eine vermeintliche Botschaft oder versuchte ich zuviel in diese Sache hinein zu interpretieren?
Nur einen Tag später, kam Nakamura und suchte mich im Zimmer einer jungen Patientin auf, welche sich beim Inlinerfahren mehrere fatale Knochenbrüche zugezogen hatte. Ich war gerade dabei einen Gipsverband an ihr Handgelenk anzulegen, als er sich zu mir beugte und die Stimme senkte.
"Deine Verehrerin ist da", säuselte er leise. "Sie wartet draußen im Korridor. Und sie sieht ziemlich niedlich aus. Also falls du ihr einen Korb gibst, darf sie sich gern bei mir ausweinen."
"Wie du siehst, habe ich gerade zu tun", sagte ich kurz angebunden, obwohl es mich etwas überraschte, dass sie tatsächlich hierher gekommen war nach unserem letzten Gespräch. Offensichtlich hatte ich ihr nicht deutlich genug verklickert, dass ich nichts mit dieser Geschichte zu tun haben wollte.
"Naja, es sah zumindest danach aus, als würde sie auch länger warten, wenn's nötig ist. Ich dachte jedenfalls nur du solltest es wissen."
"Danke, Nakamura", sagte ich nur und wandte mich dann wieder meiner Tätigkeit zu. Nach zehn Monaten hatte er immer noch nicht begriffen, dass er nicht ungefragt mit Nichtigkeiten ins Behandlungszimmer platzen sollte. Es war immer wieder das Gleiche.
"Ist das so angenehm?", fragte ich als ich mit dem Anlegen des Verbands fertig war. Das 13-jährige Mädchen namens Yoko nickte schüchtern und ihre Wangen wurden etwas rosa.
"Du warst sehr tapfer", lobte ich sie.
"Haben Sie eine Freundin, Doctor?", fragte sie leise und kaute nervös auf ihre Unterlippe herum.
Ich hob erstaunt eine Augenbraue.
"Du meinst außer dir? Nein."
Sie verdeckte ihr Gesicht verlegen mit den Händen.
"Ich meine doch eine feste Freundin."
"Nein, habe ich nicht. Wieso?", fragte ich leicht belustigt.
Sie kicherte geziert.
"Nur so..."
"Ruh dich jetzt ein wenig aus so lange bis dein Vater dich abholt."
Yoko nickte zögerlich.
Ich stand auf und verließ dann das Zimmer. Mein Blick fiel sofort auf die Bank im Korridor, wo die junge Frau saß, die Nakamura erwähnt hatte. Es war tatsächlich die verrückte Stalkerin aus der Klinik. Sie saß vollkommen alleine dort und drehte gedankenverloren an einer Haarlocke. Sie trug ein fast weißes Kleid mit Rüschen am Saum und einem abgerundeten Kragen. Darüber hatte sie eine dünne hellblaue Strickjacke gezogen. Ihr Bein hingegen trug noch immer den Gipsverband. Als sie mich registrierte, hellte sich ihr Gesicht schlagartig auf.
Mit einer Gehilfe zog sie sich langsam von der Bank hoch, blieb jedoch etwas zögerlich an Ort und Stelle stehen, als wollte sie versuchen sich zurückzuhalten. Ein verlegenes Lächeln umspielte ihre Lippen als ich auf sie zukam und direkt vor ihr stehen blieb.
"Hallo Chishiya", murmelte sie.
"Du hast also auch herausgefunden, wo ich arbeite. Ach nein...lass mich raten: das hab ich dir bestimmt auch erzählt."
Sie schob etwas trotzig ihre Unterlippe vor.
"Nicht ganz. Eigentlich weiß ich es, weil wir zusammen hier waren."
"Logisch. Darauf hätte ich ja selbst kommen können", sagte ich und konnte den sakrastischen Unterton in meiner Stimme nicht zurückhalten. "Was genau ist es, das du von mir willst?"
Sie senkte bedrückt den Blick.
"Eigentlich...wollte ich dich nur sehen. Das ist schon alles." Ich legte nachdenklich den Kopf zur Seite und musterte sie eingehend, doch ihre Mimik wirkte überraschend aufrichtig. Sie sah wieder zu mir auf und blickte mir direkt in die Augen. "Hast du mein kleines Geschenk bekommen?"
Ich nickte.
"Ja. Auch wenn ich nicht ganz verstehe, was du mir damit sagen willst."
"Probier sie einfach. Vertrau mir", sagte sie zuversichtlich.
"Dir vertrauen? Obwohl ich dich nicht einmal kenne?"
"Ich weiß, dass das nicht leicht ist. Aber ich hoffe immer noch darauf, dass deine Erinnerungen wieder zurückkehren."
"Warum ausgerechnet ich? Bei Niragi schien es dir offensichtlich egal zu sein, ob er sich erinnert oder nicht."
Sie lächelte befangen.
"Ehrlichgesagt war Niragi auch jemand, den ich lieber vergessen würde."
"Okay, also mal angenommen deine Geschichte wäre wahr, dann hatten wir beide also vermutlich ein engeres Verhältnis zueinander?"
"Richtig", sagte sie, legte die Hand in den Nacken und errötete dabei ein wenig.
"War es diese Art von Verhältnis?", wollte ich jetzt wissen, obwohl ihre Körpersprache mir bereits die Antwort darauf gegeben hatte.
"Ja", hauchte sie und versuchte ihre roten Wangen mit den Händen zu verdecken. "Aber du glaubst mir ja sowieso nicht, also ist das auch egal. Das einzige, was ich will, ist hier zu sitzen und in deiner Nähe zu sein. Falls es nicht zu komisch für dich ist..."
Ich runzelte die Stirn ein wenig über ihre Aussage, doch ich hatte keine Zeit länger darüber nachzudenken.
"Ich muss jetzt weitermachen, Izumi-san. Alles, was ich dazu sagen kann, ist: Dies ist ein öffentliches Gebäude."
Ich wandte mich von ihr ab, ohne ihre Reaktion abzuwarten.
"Nenn mich bitte einfach Tsuki, okay?", hörte ich sie mir hinterrufen.
Warum wollte sie, dass ich sie beim Vornamen nannte? Vermutlich weil ich das schonmal getan hatte, laut ihrer zweifelhaften Aussagen. Dennoch wäre es seltsam, wo ich sie doch kaum kannte. Sie war rein theoretisch eine Fremde für mich und doch beschäftige mich ihr plötzliches Auftauchen bei mir auf Arbeit mehr als ich geglaubt hätte.
"Was ist los mit Ihnen, hm?", fragte mich Uchida, der Chefarzt, während ich ihm am selben Tag bei einer Leistenbruch-Operation assistierte.
"Was soll mit mir sein?", fragte ich mit erhobener Augenbraue.
"Sie sind nicht bei der Sache. Hatte ich etwa gesagt, dass wir ein Netz für diese OP bräuchten?", fragte er und sah skeptisch auf die Instrumente und Materialien, die ich bereitgelegt gelegt hatte. "Bei jüngeren Kindern arbeiten wir nur mit einer Naht, weil sie sich noch im Wachstum befinden und das Kunststoffnetz im Körper nicht mitwächst. Ich bin davon ausgegangen, dass Sie das wissen, Chishiya."
"Entschuldigung, Sensei. Wird nicht wieder vorkommen", versprach ich und legte stattdessen chirugisches Nahtmaterial bereit.
"Vergessen Sie Ihre privaten Angelegenheiten und konzentrieren Sie sich."
Ich nickte und versuchte dann meine Gedanken wieder zusammen zu nehmen.
Nach der Operation desinfizierte ich meine Hände und machte mich auf dem Weg zum Getränkeautomaten, um mir einen Kaffee zu holen. Mein Körper verlangte um diese Uhrzeit nach Koffein, um mich einigermaßen wachzuhalten. Ich hatte mich nach all der Zeit noch immer nicht an die langen Nachtschichten gewöhnt.
Als ich den Korridor entlang lief, kam mir die Stalkerin erneut entgegen und hielt einen Kaffeebecher in ihren Händen. Mit einem warmen Lächeln reichte sie ihn mir.
"Hier, den hab ich gerade geholt. Er ist noch heiß."
Diesmal war ich wirklich überrascht. Zum einen, weil sie noch immer hier war und zum Anderen, weil sie offensichtlich meine Gedanken gelesen hatte.
"Was machst du noch hier?", fragte ich, ohne den Becher entgegenzunehmen. "Es ist schon halb 1 durch."
"Mach dir keine Sorgen. Ich bin sowieso eine Nachteule."
"Und offensichtlich sehr naiv. Glaubst du wirklich, dass ich dir deine absurde Geschichte glaube, nur weil du mir einen Kaffee spendierst?"
Sie senkte etwas traurig den Blick.
"Nein, Chishiya. Das glaube ich nicht. Ich wollte nur nett sein."
"Warum?"
"Weil ich....dich mag. Sehr. Aber das weißt du sicher schon längst."
"Ich hatte so eine Ahnung."
"Nimm ihn bitte!"
Sie hielt mir erneut den Becher hin und sah mich dabei erwartungsvoll an.
Ich seufzte ergeben und nahm ihn ihr ab. Unsere Finger berührten sich dabei kurz und just in dem Moment schoss mir blitzartig ein einzelnes Bild durch Kopf. Ich saß in einem Auto und die junge Frau namens Izumi saß direkt neben mir auf dem Beifahrersitz. Meine Hand ruhte auf dem Schalthebel und ihre Finger strichen währenddessen zögerlich über meinen Handrücken.
Ich zuckte bei der Berührung etwas zurück als hätte ich mich an ihr verbrannt und starrte dann entgeistert meine Hand an. Dann sah ich wieder zu ihr auf. Izumi lächelte sanft und erzeugte damit einen angenehm warmen Schauer in mir.
"Danke", sagte ich schließlich und nahm einen Schluck von dem Kaffee. Ihre unerwartete Berührung hatte mich für einen Moment etwas aus der Bahn geworfen. Oder vielmehr das, was dadurch ausgelöst wurde.
Dieses Bild in meinem Kopf... ich hatte keine Ahnung, wo es herkam. Ich war mir sicher Izumi vorher noch nie gesehen zu haben. Offensichtlich begann ich nun selbst verrückt zu werden.
"Gern. Und du musst mir das Geld dafür auch nicht zurückzahlen, okay?"
"Wenn du darauf bestehst..."
"Tue ich."
"Okay, jetzt mal ernsthaft. Wie hast du herausbekommen, wo ich arbeite?", wollte ich wissen, weil mich diese Frage noch immer beschäftigte.
Sie schmunzelte belustigt.
"Ich habe natürlich meine magische Glaskugel befragt."
"Du wirst es mir nicht sagen, oder?", knurrte ich.
"Ich hab es dir bereits gesagt, Chishiya. Warum sollte ich dich anlügen?"
"Ich glaube es ist besser, wenn du jetzt gehst. Die Besuchszeiten sind längst vorbei und die anderen Angestellten werden bald anfangen Fragen zu stellen."
Mit trauriger Miene senkte sie den Blick.
"Wenn du verlangst, dass ich gehe, dann tu ich es. Ich kann dir meine Anwesenheit schließlich nicht aufzwingen. Aber ich würde gern wiederkommen, wenn ich darf."
"Du bist ziemlich hartnäckig, was?"
Sie lächelte wieder.
"Jemand, der mir sehr viel bedeutet, hat mal zu mir gesagt, dass er meinen unermüdlichen Kampfgeist bewundert. Seitdem bin ich gewillt niemals aufzugeben, egal wie aussichtslos die Situation auch erscheint."
"Soll das bedeuten, dass du mich jetzt mein ganzes Leben lang verfolgen wirst?"
"Nur so lange bis du dich wieder erinnerst."
"Und falls nicht?"
"Falls nicht... muss ich wohl doch aufgeben, auch wenn es schwer ist. Alles, was ich will ist, dass du glücklich bist, Chishiya."
Ich starrte sie verständnislos an und war milde erstaunt von ihrer Selbstlosigkeit.
Warum scherte sie sich darum, ob ich glücklich war? Für sie war ich schließlich nichts als ein Fremder. Hatte ich zumindest geglaubt, doch was wenn sie doch die Wahrheit sagte?
Konnte es sein, dass wir uns tatsächlich schon einmal getroffen hatten? Und falls ja, hatte ich ihre Gefühle erwidert?
Unwahrscheinlich.
Wenn ich eines wusste, dann, dass ich mich mit Sicherheit nicht kopflos in jemanden verlieben würde. Es lag nicht in meiner Natur meine Unabhängigkeit leichtfertig aufzugeben und mich irgendeiner beliebigen Frau an den Hals zu werfen. Es war nicht so, dass ich das nicht schonmal probiert hätte. Letztendlich jedoch war es nur ein weiterer verzweifelter Versuch gewesen mich irgendwie lebendig zu fühlen. Doch selbst der Sex hatte sich stumpf und unbefriedigend angefühlt, sodass ich bisher nicht den Drang verspürt hatte es erneut zu versuchen. Es mangelte nicht an Angeboten, sondern vielmehr an meinem Interesse darauf einzugehen. Es gab bisher einfach keinen einzigen Menschen, der meine Neugier entfachte. Doch die junge Frau mit dem warmherzigen Lächeln vor mir blieb mir weiterhin ein Rätsel.
Ich hatte anfangs tatsächlich geglaubt sie wäre lediglich eine besessene Stalkerin mit seltsamen Wahnvorstellungen, aber sie wirkte auf mich weder verwirrt noch psychotisch.
"Du solltest jetzt gehen", entgegnete ich nur und wandte mich dann von ihr ab. "Ich habe noch zu tun."
"Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht abhalten", entschuldigte sie sich. Ich antwortete nicht, sondern ließ sie mitten auf dem Gang stehen. "Bis morgen", rief sie mir noch hinterher.
Seltsamerweise glitt mir bei ihren Worten ein winziges Lächeln über die Lippen.
Die Blinddarmentfernung verlief, wie ich es erwartet hatte unproblematisch und der Chefarzt sprach immerhin ein ehrliches Lob für meine Arbeit aus, was bei ihm für gewöhnlich eher selten vorkam.
"Er scheint dich zu mögen", vermutete Nakamura in der daran anschließenden Pause.
"Unsinn", widersprach ich.
"Er mag dich, weil du so unfassbar klug bist. Ich wünschte mir würde auch alles so zufallen wie dir. Du bist ein echter Glückspilz", seufzte er theatralisch und schob sich dann ein paar Reisbällchen in den Mund.
"Intelligenz nützt einem nur wenig, wenn man machtlos ist."
"Häh, fie meinst du daf?", schmatzte er mit vollem Mund.
"Egal", sagte ich und bereute es überhaupt damit angefangen zu haben.
Als könnte diese Leuchte das auch verstehen...
"Ach ja. Die Kleine war vorhin wieder da."
Ich hob hellhörig den Kopf.
"Die junge Frau?"
"Ja, deine Verehrerin. Hat mich nach dir gefragt."
"Was hast du gesagt?"
"Dass du ein eiskalter Mistkerl bist, der allen Frauen den Laufpass gibt und es besser wäre, wenn sie dich aufgibt und stattdessen mit mir ausgeht."
"Das hast du gesagt?", fragte ich stirnrunzelnd.
"Was denn? Das erzählt man sich hier so." Ich stand plötzlich auf. Er sah mich irritiert an. "Wo willst du jetzt hin?"
Ich lächelte abschätzig.
"Ihr einen Laufpass geben."
Nakamura starrte mir mit offenem Mund hinterher und ich war erneut fasziniert davon wie leichtgläubig er war.
Als ich sie fand, saß sie auf derselben Bank wie am Tag zuvor und hatte einen Zeichenblock auf ihrem Schoß. Sie schien vollkommen in eine Skizze vertieft zu sein als ich mich ihr näherte. Als sie auf meine Schritte aufmerksam wurde, hob sie den Kopf und sah mich aus großen Augen an. Sofort wurden ihre Gesichtszüge weicher.
"Chishiya", hauchte sie und klappte rasch ihren Block zu.
"Du hast offensichtlich kein zu Hause", sagte ich anklagend und verschränkte dabei die Arme vor der Brust.
"Naja ich bin noch eine Weile krankgeschrieben und mir fällt ohnehin die Decke auf den Kopf. Aber ich freue mich natürlich auch, wenn ich dich wiedersehen darf."
"Du weißt aber schon, dass Stalking eine Straftat ist", sagte ich und hob dabei eine Augenbraue.
"Ich verspreche nichts zu tun, was dich ablenken oder aufregen könnte. Ich will nur in deiner Nähe sein. Wenn du das nicht möchtest, dann sag es einfach."
Ich seufzte leise.
"Mach, was du willst. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass sie dich nicht irgendwann rauswerfen."
Sie grinste.
"Naja immerhin sehe ich doch wie eine Patientin aus mit meinem Gipsbein."
"Nur nicht gerade wie eine Minderjährige."
"Da ist wohl was dran", gab sie mit einem verlegenen Kichern zu.
"Versuche am besten niemandem im Weg herumzustehen."
Sie nickte verstehend.
"Hast du schon die Kekse probiert?"
"Noch nicht."
"Du solltest es tun", entgegnete sie beharrlich.
Ich schüttelte etwas ungläubig den Kopf und ging dann an ihr vorbei. Warum nur wollte sie, dass ich unbedingt diese Kekse probierte? Hatten sie womöglich mit unserer angeblichen gemeinsamen Vergangenheit zu tun?
Ich ging zu meinem Schreibtisch und öffnete die Schublade, in der die Kekse lagen und griff danach. Es waren einfache runde Weizenkekse mit Vanillegeschmack. Nichts spektakuläres.
Ich öffnete sie, nahm einen heraus und betrachtete ihn kurz, bevor ich davon abbiss. Der Geschmack war eigenartig vertraut und irgendwie mochte ich ihn. Der Schreibtisch vor meinen Augen verschwand und verwandelte sich in einen langen Holztisch. Und auch der Rest des Raumes glich jetzt vielmehr einem Lagerraum als einem Büro. Vor mir sah ich eine Gruppe von Menschen, die seltsame Halsbänder mit Symbolen darauf trugen.
Nur wenige Meter weiter am Tisch saß eine junge Frau mit dunklen Locken, die völlig abwesend etwas mit Bleistift auf einen Block skizzierte. Als sie jedoch bemerkte, dass sie von mir beobachtet wurde, errötete sie und strich mit gesenktem Blick ihr Pony in die Stirn, sodass ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte.
Ich ließ meinen Arm fassungslos sinken und starrte den angebissenen Keks in meiner Hand reglos an. Diese sehr reale Vision war so schnell wieder verschwunden wie sie aufgetaucht war und ich glaubte mich für einen kurzen Moment vage an etwas zu erinnern.
Auch, wenn ich das Gesicht der jungen Frau nicht erkennen konnte, so war ich mir ziemlich sicher, dass es sich dabei um Izumi handelte, was widerrum nur bedeuten konnte, dass sie Recht hatte mit dem, was sie behauptete.
Dennoch fehlte nach wie vor die entsprechende Erinnerung dazu.
Diese Rückblende hatte sich so angefühlt als würde ich eine Szene aus einem Film betrachten und nicht so als wäre es etwas, das ich selbst einmal erlebt hatte.
Als ich dann ein zweites Mal in den Keks biss, passierte überhaupt nichts.
Frustriert verschloss ich die Verpackung wieder und legte sie zurück in das Schubfach.
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