Kapitel 22
"...glaub wir haben sie... Pulsfrequenz normal.... Sauerstoffsättigung bei 86%..."
Dumpfe Stimmen drangen zu mir, doch das wattige Gefühl in meinen Ohren machte es fast unmöglich irgendwelche sinnvollen Sätze herauszufiltern. Beim Einatmen fühlte es sich an als würden meine Atemwege innerlich verbrennen und staubige Asche auf meinen Lungen liegen.
Immernoch etwas benommen öffnete ich die Augen, doch alles verschwamm zu einer einzigen unerkennlichen Masse. In meinem Kopf dröhnte es und durch mein rechtes Bein zog sich ein unerträglich stechender Schmerz. Noch halb benommen tastete ich mein Gesicht ab, weil dort etwas auf meine Wangen drückte, doch irgendjemand griff nach meiner Hand und legte sie wieder zurück.
"Nur die Ruhe", sagte eine angenehme Frauenstimme. "Wir mussten Sie reanimieren und mit Sauerstoff beatmen, aber wie es scheint hatten sie wirklich großes Glück."
Eine Hand legte sich auf meine Schulter.
Glück?
Wovon redete die Stimme da?
Was war passiert?
"Dieser Chishiya. Ist das Ihr fester Freund?", fragte sie jetzt fast beiläufig.
Ich versuchte ein weiteres Mal die Augen zu öffnen. Diesmal konnte ich immerhin ein paar unscharfe Konturen erkennen und sah wie sich eine Gestalt mit weißer Robe über mich gebeugt hatte.
"Chi-chishiya?", nuschelte ich konfus.
"Ja, Sie haben diesen Namen vorhin immer wieder vor sich hingemurmelt kurz nach ihrer Reanimation."
"Ich habe keinen Freund", brachte ich nur schwach heraus, während mein Bewusstsein zunehmend wegdriftete und meine Sicht sich wieder verdunkelte.
Als ich erneut die Augen öffnete und versuchte mich zu orientieren, war meine Umgebung schon viel deutlicher erkennbar. Ich starrte auf eine weiße Wand und stellte fest, dass es die Decke eines Zimmers war.
"Sie ist wach", sagte eine vertraute Stimme. "Sieh nur, Mum. Sie hat die Augen geöffnet."
Ich drehte meinen Kopf zur Seite und blinzelte dann verwirrt.
"Naoki?", hörte ich mich leise krächzen.
"Und sie weiß sogar noch, wer ich bin", grinste er über beide Ohren, während sein Gesicht meinem immer näher kam.
"Dumpfbacke", murmelte ich trotzig und schob seinen Kopf ein Stückchen von mir weg.
Naoki lachte nur.
"Jap, sie ist noch ganz die Alte."
Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Mum neben meinem Bruder saß mit einem Taschentuch in der Hand. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
"Tsuki...", schluchzte sie aufgelöst und griff fest nach meiner Hand. "Ich bin ja so froh, dass du es geschafft hast. Du musst schnell wieder gesund werden, hörst du?"
"Geschafft? Was hab ich geschafft? Was ist eigentlich passiert?", fragte ich unsicher, weil ich es tatsächlich nicht wusste. Im Moment konnte ich nicht einmal mit Sicherheit sagen welches Jahr wir gerade hatten, was mich doch ein wenig beunruhigte.
Das einzige, was ich wohl mit sicherer Gewissheit sagen konnte, war, dass ich mich in einem Krankenhausbett befand und offenbar auch medizinisch versorgt werden musste, doch meine Erinnerungen an die letzten Stunden waren sehr bruchstückhaft.
Ich blickte hinab zu meinem rechten Fuß, weil ich mich nur an die stechenden Schmerzen entsinnen konnte, die ich dort verspürt hatte. Mein rechtes Bein war bis zum Knie in einem festen Gips verhüllt. Dann sah ich wieder ungläubig zu Mum auf.
"Erinnerst du dich nicht?", fragte sie etwas erstaunt.
"Sonst würde ich wohl kaum fragen, oder?", sagte ich und hustete dann quälend auf. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl zu ersticken.
Naoki drückte mir jedoch rasch ein Beatmungsgerät an den Mund, was mir augenblicklich Erleichterung verschaffte.
"Tsuki, es gab..."
Meine Mutter brach ab und der Rest ihres Satzes ging in einem lauten Schluchzer unter.
Naoki legte seinen Arm tröstlich auf ihre Schulter und sprach dann für sie weiter:
"Ein Meteorit ist direkt über Shibuya explodiert. Es gab unzählige Verletzte und nach jetztigem Stand auch mindestens über 2000 Tote. Aber mit jedem Tag werden es mehr, die in den Trümmern geborgen werden."
Ich starrte ihn ungerührt an, während ich versuchte seine Worte sinnvoll zu verarbeiten. Ich richtete meinen Kopf ein wenig auf.
"Was sagst du da? Meteorit? Hier in Tokyo?"
Mein Bruder nickte langsam und wirkte plötzlich auch ziemlich betroffen.
"Ein Schulkamerad von mir war auch an dem Tag dort, doch er hat's nicht geschafft."
Fassungslos legte ich meine Hand auf die Stirn, auch weil in diesem Moment ein pulsierender Kopfschmerz einsetzte. Ich drehte meinen Kopf zur rechten Seite, wo ein weiteres Bett stand, in dem eine junge Frau untergebracht war, die offensichtlich nicht bei Bewusstsein war.
"War sie auch dort?", fragte ich und deutete auf das Bett neben mir.
Naoki folgte meinem Blick.
"Also ich nehme es an. Die meisten Opfer wurden hier ins University Hospital gebracht. Es ist das größte in der Stadt und hat die beste medizinische Versorgung."
"Also...ich erinnere mich an gar nichts. Wie lange ist das her?", wollte ich jetzt wissen, weil ich das Gefühl hatte, dass bereits eine Ewigkeit vergangen war fast so als hätte ich jahrelang im Koma gelegen.
"Vier Tage. Du hattest einen Herzstillstand und wurdest auf dem Weg ins Krankenhaus wiederbelebt. Dann warst du die ganze Zeit auf der Intensivstation, weil du eine Rauchvergiftung hattest. Sie hatten dich die ganze Zeit am Beatmungsgerät. Heute morgen haben sie dich dann hierher verlegt, weil du außer Lebensgefahr bist. Die Intensivstationen sind aber immernoch komplett überfüllt. Sie haben gesagt, dass du von Glück sprechen kannst keine äußeren Verbrennungen davongetragen zu haben."
Ich presste das Beatmungsgerät fest an mein Gesicht und holte tief Luft. Warum konnte ich mich an nichts davon erinnern, was sie da erzählten? Warum war ich überhaupt in Shibuya gewesen an diesem Tag?
Ich keuchte auf vor Schmerz. Mein Kopf fühlte sich an wie in einer Schraubzwinge.
"Soll ich lieber eine Schwester holen?", fragte Mum jetzt besorgt, die sich inzwischen wieder einigermaßen beruhigt hatte.
Ich schüttelte den Kopf.
"Wo ist Dad? Ist er auch hier?", fragte ich und rieb mir dabei die Stirn.
"Er war hier, aber du warst noch nicht ansprechbar. Er lässt sich entschuldigen. Wegen diesem tragischen Vorfall muss er jetzt jeden Tag Überstunden machen. Aber er hat ein paar Blumen für dich da gelassen."
Ich sah zu dem Beistelltisch neben mir und sah dort mehrere bunte Blumensträuße stehen.
"Wer war noch hier?"
"Deine beiden Freundinnen Sakura und Ren. Und ein Mann, der gesagt hat er wäre ein Kollege von dir. Von ihm sind die Rosen", sagte sie mit einem gezierten Kichern. "Ein sehr netter gutaussender Mann."
Ich lächelte fahrig.
"Das war bestimmt Hayato-san."
Meine Mum wirkte ein bisschen überrascht.
"Achso. Ich hatte angenommen sein Name wäre Chishiya."
"Was? Wieso das denn?", fragte ich stirnrunzelnd.
Meine Mutter zuckte mit den Schultern.
"Die Schwester auf der Intensivstation hat zu mir gemeint, dass du diesen Namen immer wieder vor dich hingebrabbelt haben sollst. Da habe ich natürlich gedacht er wäre dein neuer Freund."
Meine Augen weiteten sich.
"Mum, wenn ich einen Freund hätte, dann hätte ich dir das doch gesagt. Im Ernst. Ich kenne keinen Chishiya", sagte ich und verschränkte dabei entrüstet die Arme vor der Brust. Wobei mir der Name irgendwie bekannt vorkam, doch ich konnte nicht sagen woher, egal wie sehr ich mir den Kopf zerbracht, aber womöglich lag das auch an den unerträglichen Kopfschmerzen, die mich pemanent folterten.
Kurze Zeit später kam eine Schwester vorbei und gab mir immerhin ein paar stärkere Schmerzmittel und machte nebenher einige Routineuntersuchungen.
"Scheint alles bestens zu sein", sagte die Schwester mit einem freundlichen Lächeln. "Wir müssen nur noch einige Zeit die Sauerstoffsättigung kontrollieren. Die Rauchgasvergiftung kann auch Tage später noch schlimme Symptome verursachen. Wenn es Ihnen also plötzlich schlechter geht, rufen Sie uns einfach."
Zusätzlich bekam ich regelmäßige Therapiesitzungen in einer Überdruckkammer verordnet, die dabei helfen würden meine Sauerstoffsättigung auf Dauer wieder stabil zu halten. Anhand meines Zustandes war momentan auch nicht abzusehbar, wann ich die Klinik wieder verlassen durfte.
"Hier, ich hab dir was gegen die Langeweile mitgebracht."
Naoki reichte mir ein paar Mangas und meinen Zeichenblock mit dem Federmäppchen.
"Ihr wart also in meiner Wohnung?", fragte ich überrascht.
"Ja, irgendwer musste sich ja auch um Nanya kümmern."
"Oh je, sie fühlt sich bestimmt so alleine", sagte ich und hatte augenblicklich ein schlechtes Gewissen.
Nanya war eine weiße Katzendame mit langem plüschigem Fell, die erst seit einem Jahr bei mir lebte. Sie hatte mir oft über meine einsamen Phasen hinweg geholfen. Besonders auch über die Trauer nach der Trennung von meinem Ex-Freund.
"Keine Sorge. Mum und ich haben sie zu uns geholt so lange du weg bist."
Ich atmete erleichtert aus.
"Da bin ich wirklich froh. Danke für die Sachen, Naoki."
Für den Rest des Tages unterhielten wir uns nur, doch die vielen Medikamente ließen mich schnell ermüden. Sie versprachen allerdings am nächsten Tag schon wiederzukommen. Als sie aus der Tür waren, war ich fast ein wenig erleichtert endlich für mich selbst zu sein. Ich blickte aus dem Fenster und betrachtete wehmütig den rosaroten Sonnenuntergang.
Dann versuchte ich mich etwas aufrichten und griff nach den Karten, die neben den Blumen standen um sie zu lesen. Sakura und Ren hatten zusammen eine Genesungskarte geschrieben und ich musste lächeln als ich sie las. Dann griff ich nach einer weiteren Karte.
Sie war von Hayato.
Liebe Tsuki,
Ich wünsche dir viel Kraft für die kommenden Wochen und eine schnelle Genesung. Es tut mir wirklich Leid, dass ich unsere Verabredung verpasst hab. Mir kam etwas Wichtiges dazwischen, aber das erzähle ich dir lieber persönlich.
Mit besten Grüßen,
Hayato
Ich ließ die Karte fassungslos sinken. In dem Moment als ich seine Worte las, kamen einige meiner Erinnerungen wieder. Hachiko-Denkmal. Das war unser Treffpunkt.
Ich erinnere mich wie wir das Treffen miteinander ausgemacht hatten. Ich musste also dort gewesen sein. Vor genau vier Tagen. Warum nur fiel es mir so schwer mich an irgendwelche Details von diesem Tag zu erinnern? Egal wie sehr ich nachgrübelte: da war einfach nichts.
Ich blickte erneut zu dem Nachbarbett hinüber. Wenn diese Frau endlich aufwachen würde, könnte ich sie vielleicht fragen, ob sie sich an irgendwas erinnerte.
Ich nahm meinen Zeichenblock zur Hand und versuchte dann irgendetwas aufs Papier zu bringen, doch in meinem Kopf herrschte eine Denkblockade. Aber immerhin waren die Schmerzen jetzt weg. Frustriert legte ich den Block wieder beiseite und drehte mich um. Vielleicht konnte ich mich ja eher erinnern, wenn ich ausgeschlafen hatte.
Kurz bevor ich einschlief, musste ich wieder an diesen Namen denken, den Mum erwähnt hatte und so eigenartig vertraut klang.
Chishiya.
Am nächsten Morgen verteilten die Schwestern das Frühstück in die jeweiligen Zimmer.
"Ähm Entschuldigung", sprach ich die Schwester an, die mir das Tablett mit dem Essen hingestellt hatte. Sie blickte fragend zu mir. "also, ist es normal, dass ich nicht mehr weiß, was an dem Tag dieser Katastrophe passiert ist?"
Sie sah mich etwas mitleidig an.
"Nun, ich würde behaupten, dass es jedenfalls nicht ungewöhnlich ist. Bei einer Dissoziativen Amnesie werden oft Erinnerungen im Zusammenhang mit einem traumatischen Ereignis gelöscht. Das Bewusstsein verdrängt sie einfach, um unsere Psyche zu entlasten", erklärte sie geduldig.
"Verstehe, aber können diese Erinnerungen auch irgendwann wieder zurückkommen?"
Jetzt lächelte sie.
"Ja, aber das passiert eher rein zufällig. Man sieht zum Beispiel einen Ort, einen Gegenstand oder eine Person, die mit den Ereignissen zusammenhängen und manchmal kommen einzelne Erinnerungen dann wieder zurück. Andere bleiben leider für immer vergessen."
Ich nickte zuversichtlich.
"Okay, danke. Das hat mir schon geholfen."
"Versuchen Sie es doch später mal mit einem kleinen Spaziergang an der frischen Luft. Manchmal kann das auch schon dabei helfen die grauen Zellen etwas in Schwung zu bringen. Auch bei Rauchvergiftung ist das übrigens eine sehr effektive Maßnahme."
Sie zwinkerte mir zu und ging dann wieder aus dem Zimmer.
Ich seufzte und lehnte mich wieder in mein Kissen zurück. Hoffentlich hatte sie Recht. Doch mit dem Spaziergang wollte ich lieber noch warten bis Mum und Naoki vorbeikamen, denn ich war mir noch etwas unsicher wie weit ich alleine überhaupt kommen würde in meinem Zustand.
Bis dahin vertrieb ich mir die Zeit damit ein paar der Mangas anzulesen, die Naoki mir mitgebracht hatte. Überwiegend waren es jedoch Sachen, die er mit Vorliebe las, aber normalerweise eher nicht mein Genre waren. Er war gerade in dem Alter, wo ihn Horror und Action am meisten interessierte. Je blutiger und je mehr brutale Kämpfe es gab, desto besser. Ich versuchte es mit Demon Slayer und las mich daran fest, weil ich feststellte, dass es gar nicht mal so übel war. Trotzdem war ich froh als endlich Mum und Naoki in meinem Zimmer auftauchten.
"Und wie war die Schule?", fragte ich an meinen Bruder gerichtet und grinste ein wenig.
"Hör bloß auf damit. Die Lehrer trietzen uns ganz schön vor den großen Abschlussprüfungen. Ich kann's kaum erwarten endlich auf eine Uni zu gehen."
"Bin ja gespannt, ob du dafür überhaupt den Notendurchschnitt erreichst."
Naoki schmollte. Und das konnte er gut. Er hatte schließlich den gleichen Schmollmund wie ich.
"Also deine gehässigen Kommentare hab ich wirklich nicht vermisst."
"Wenn du Nachhilfe brauchst, musst du nur fragen, du kleines Genie", zog ich ihn ein wenig auf.
"Als ob ich Nachhilfe von einer Grundschullehrerin bräuchte. Und so schlau warst du auch wieder nicht. Ich erinnere nur an deine unterirdische Mathenote im vorletzten Schuljahr."
"Dafür kann ich wenigstens Englisch und Japanisch, Dumpfbacke."
Meine Mum seufzte schwer als sie uns zuhörte.
"Zankt ihr euch schonwieder? Wann werdet ihr denn endlich mal erwachsen?"
Ich verzog trotzig mein Gesicht.
"Wer will denn schon erwachsen sein? Ist ja langweilig."
"Da geb ich Tsuki ausnahmsweise mal Recht. Wobei ich trotzdem erwachsener bin als sie."
"Tsss..."
Ich griff nach dem Manga und gab ihm damit einen Klaps auf die Schulter.
"Hast du das gesehen, Mum? Die schlägt mich. Meine eigene Schwester", rief er mit gespieltem Entsetzen.
"Wenn ihr jetzt nicht sofort damit aufhört, schlag ich euch beide."
Sie setzte einen strengen Blick auf, der gleichzeitig aber auch etwas amüsiert wirkte.
"Das Wetter ist so schön draußen.", sagte ich dann mit einem sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster. "Ich würde gern etwas frische Luft schnappen."
"Tsuki, denkst du wirklich, dass du das schon schaffst? Du bist gestern erst von der Intensivstation runter", gab meine Mum zu bedenken.
"Die Schwester hat vorhin gemeint, dass mir das guttun würde. Oh bitte!"
Ich setzte meinen flehendsten Gesichtsausdruck auf und den unwiderstehlichsten Schmollmund zu dem ich in der Lage war. Mums Miene wurde daraufhin etwas weicher. Dann seufzte sie ergeben.
"Na gut, aber lass dir Zeit. Es gibt keinen Grund zur Eile und wenn du nicht mehr kannst, dann gib uns rechtzeitig Bescheid."
Ich nickte eifrig und meine Mum reichte mir zwei Gehilfen, mit denen ich mich vom Bett hochzog. Ich spürte noch immer wie mich jede kleinste Bewegung anstrengte, doch für Notfälle hatte ich einen Inhaltor bekommen, den ich mir in die Hosentaschen gesteckt hatte.
Zu dritt gingen wir in Richtung Aufzug, doch ich merkte schnell, dass es tatsächlich anstrengender war als ich zuerst geglaubt hatte. Naoki drückte im Aufzug auf die 0, doch im letzten Moment zwängte sich noch eine junge Frau durch die Tür.
Sie war viel größer als ich und hatte ein außerordentlich hübsches Gesicht. Ihre Haare trug sie zu einem Zopf und dieser bestand aus langen Rastalocken in denen viele bunte Bänder eingeflochten waren. An ihrem Arm hatte sie ein paar Verbände und sie humpelte ein wenig, verzichtete jedoch offensichtlich auf eine Gehilfe.
Ich starrte sie eine Weile lang fasziniert an, ohne zu wissen wieso.
War es ihre Schönheit oder ihr exotische Erscheinung?
Sie lächelte jedoch nur freundlich, als sie bemerkte, dass sie von mir beobachtet wurde. Ich erwiderte ihr Lächeln. Je länger ich sie ansah, umso mehr bekam ich das Gefühl sie schon einmal gesehen zu haben.
War sie womöglich auch da an dem Tag der Katastrophe? Erinnerte sich mein Unterbewusstsein möglicherweise an sie?
Als wir im Erdgeschoss angekommen waren, verließ sie ebenfalls mit uns den Aufzug.
"Äh Entschuldigung", ergriff ich schließlich das Wort, bevor ich sie wieder aus den Augen verlieren würde. Sie wandte sich etwas verwirrt zu mir um.
"Ja?"
"Also... warst du zufällig auch in Shibuya an dem Tag als dieser Meteorit explodierte?"
Sie lächelte, diesmal jedoch wirkte es etwas bedrückt.
"War ich. Du auch?"
Ich nickte erleichtert.
"Ja, richtig. Also..." Ich senkte etwas verlegen den Blick. "ich wollte eigentlich nur wissen, ob du dich an irgendetwas erinnern kannst... kurz bevor es passierte."
Sie seufzte etwas.
"Na ja, nicht viel. Ich muss gerade auf dem Weg zu meiner Spätschicht gewesen sein, aber das war's auch schon. Ich weiß nicht was Sekunden davor passierte, wenn es das ist, was du wissen willst."
"Nun ich habe das Gefühl, dass der ganze Tag bei mir weg ist. Das ist ein wenig seltsam."
Sie nickte verstehend.
"Ja, als hätte man etwas sehr wichtiges vergessen, dabei waren es eigentlich nur wenige Minuten, wenn überhaupt. Verrückt, oder?", grinste sie. Es war tatsächlich verrückt wie sehr sie mir damit aus der Seele sprach.
"Ja, genau das dachte ich auch. Ich fühlte mich als wäre ich aus einem langen Koma auferwacht. Dabei war ich in Wirklichkeit nur wenige Tage nicht ansprechbar."
Sie zuckte mit den Schultern.
"Manche Dinge sind und bleiben unerklärlich. Ich versuche einfach nicht so viel darüber nachzudenken. Ich sehe es als eine Chance neu anzufangen. Bisher lief alles besser für mich seit diesem Vorfall. Ich will nicht sagen, dass es gut war, was geschehen ist, aber die Auswirkungen auf mein Leben waren es auf jeden Fall."
Sie strahlte über beide Ohren und irgendwie konnte ich in dem Moment nicht anders als mich für sie mitzufreuen. Da meine Mum und Naoki jedoch schon eine Weile auf mich warteten und das lange Stehen mir zunehmend Schmerzen bereitete, sah ich mich gezwungen unsere Unterhaltung zu beenden.
"Ich muss jetzt leider weiter. War schön mit dir zu reden, ähm-...wie ist dein Name?"
"Kuina Hikari, aber du kannst Hikari sagen, wenn du möchtest."
"Der Name passt zu dir. Du strahlst wie das Licht", sagte ich lächelnd. "Ich bin Izumi Tsuki."
"Danke. Vielleicht laufen wir uns ja nochmal über den Weg, Tsuki."
Sie winkte kurz, bevor ich mich wieder von ihr abwandte.
"Tut mir Leid", sagte ich dann an Mum und Naoki gerichtet.
"Alles gut, Schatz", sagte Mum und legte einen Arm um mich. "Es ist vollkommen normal, dass du dich mit anderen austauschen willst, die das Gleiche durchgemacht haben wie du. Vielleicht gibt es ja eine Art Selbsthilfegruppe für die Opfer der Katastrophe. Ich werde mich danach erkundigen."
"Ja, keine schlechte Idee eigentlich. Ich würde gern wissen wie die Anderen damit klar kommen. Es ist sicher schwer für die, die nicht so viel Glück hatten wie ich."
Wir drehten eine kleine Runde in dem Park des Krankenhausgeländes. Es gab viele, die das schöne Wetter nutzten um nach draußen zu gehen. Leider reichte meine Kondition nicht für mehr. Schon nach kurzer Zeit musste ich mich auf einem Stuhl in dem Parkcafé niederlassen.
"Lasst uns zusammen einen Kaffee trinken, Kinder", hatte Mum gesagt und hatte sich schon am Tresen angestellt.
"Eigentlich wollte ich ihr noch sagen, dass sie Donuts mitbringen soll", murrte ich.
Naoki grinste.
"Kaum kannst du wieder laufen, denkst du schonwieder an Süßigkeiten."
"An was soll ich denn sonst denken an einem deprimierend Ort wie diesen?", fragte ich schmollend.
"Keine Ahnung. Du könntest zum Beispiel darüber nachdenken wie man sich einen Arzt angelt. Die verdienen ziemlich gutes Geld. Dann kannst du mir mal was spendieren, statt immer rumzujammern, dass du pleite bist."
"Sag mal, geht's noch?", fragte ich und trat ihm mit meinem gesunden Bein gegen sein Schienbein. "Du denkst nur an dich selbst. Streng dich lieber in der Schule an und werd selber Arzt."
"Ach nö, dafür muss man ja ewig studieren."
"Du bist so faul, Nao-chan. Was soll nur aus dir werden?"
"War sowieso eine blöde Idee. Welcher Arzt würde dich auch schon nehmen? Der müsste ja blind sein."
Dafür bekam er einen weiteren heftigen Triff. Er jaulte etwas gespielt auf.
"Wenn du so weiter machst, dann bist du derjenige, der hier einen Arzt nötig hat."
Im gleichen Moment kam unsere Mutter wieder zurück an den Tisch und stellte den Kaffee vor uns ab. Dann gab sie uns beiden gleichzeitig einen Klaps auf den Hinterkopf.
"Ahhh, Mum", beschwerten wir uns beide gleichzeitig.
"Hört auf euch schonwieder zu streiten. Und dann noch in der Öffentlichkeit. Ihr seid wirklich peinlich."
"Warum hast du dir denn auch zwei Kinder angeschafft? Mit einem wäre das nicht passiert", sagte ich grinsend und nippte dann an meiner Tasse.
Mum seufzte schwer und sah uns dann streng an.
"Jetzt ist aber wirklich gut, ihr zwei."
Danach versuchten Naoki und ich uns zusammenzureißen, doch vermutlich würde das ohnehin nicht lange anhalten. Wir stichelten uns schon gegenseitig seit Naoki sprechen gelernt hatte und es war einfach ein Stück zu Hause. Aber egal wie sehr wir uns zankten. Am Ende des Tages hatten wir uns immer wieder vertragen. Und das meiste davon war ohnehin nur Spaß. Was das betraf, hatten wir einfach die gleiche Art von Humor. Meine Mutter hingegen brachte das oft genug zur Verzweiflung. Unser Dad schmunzelte jedoch nur darüber.
Wir saßen eine Weile im Café und redeten nur, während wir uns die Sonne ein wenig ins Gesicht scheinen ließen.
Irgendwann holte Naoki eine kleine Schachtel aus seiner Hosentasche hervor. Es war ein Skatspiel.
"Lust auf Mau-Mau? Das haben wir ewig nicht mehr gespielt."
Ich lächelte. Früher hatten wir oft Spieleabende veranstaltete und regelrechte Mau-Mau Turniere abgehalten, aber das war schon lange her.
"Klar gern."
Mum willigte ebenfalls ein und Naoki verteilte die Karten. Für einen Moment hatte ich Probleme mich an die Spielregeln zu erinnern, doch nach und nach kamen die Erinnerungen wieder zurück.
Sofort lag Naoki in Führung und ließ mich gnadenlos immer mehr Karten ziehen. Diese Runde würde ich wohl verlieren. Ich zog erneut eine Karte und starrte sie etwas ratlos an. Es war der Herzbube. Seltsamerweise überkam mich urplötzlich heftiges Herzrasen beim Anblick dieser Karte und ich konnte mir nicht erklären wieso. Die Karte fühlte sich... vertraut an. Nicht nur die Karte an sich. Dieses ganze Spiel fühlte sich an als ob...
"Tsuki? Hallo?" Naokis Hand wedelte vor meinem Gesicht herum und ich schreckte etwas zusammen. "Du bist dran."
Ich lächelte nervös.
"Ah ja. Entschuldige. Ähm..."
Ich glaubte mich daran zu erinnern dass Bube hieß, dass man sich ein Symbol wünschen konnte, egal welches. Und im Moment strotzte mein Blatt nur so vor Herzkarten. Ich musste sie also irgendwie loswerden.
"Ich wünsche mir Herz", sagte ich siegessicher.
Naoki stöhnte.
Er hatte noch nie ein gutes Pokerface gehabt. Und obwohl er nur noch zwei Karten auf der Hand hatte, schien kein Herz dabei zu sein. Innerhalb kürzester Zeit hatte er wieder mehr Karten auf der Hand als ich. Und auch Mum erging es nicht viel besser.
"Mau Mau", sagte ich und streckte ihm die Zunge raus.
"Ich will eine Revanche! Jetzt!", wetterte Naoki knurrend.
Wir spielten also zwei weitere Runden, in denen einmal Mum und einmal wieder ich gewann. Da es jedoch langsam anfing zu dämmern, machten wir uns wieder auf dem Rückweg zu meinem Zimmer. Doch eine Sache ging mir für den Rest des Tages nicht mehr aus dem Kopf.
Der Herzbube.
Etwas in meinem Kopf schien sich erinnern zu wollen.
Nur an was... das wusste ich noch nicht genau.
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