Kapitel 2
Als das Spiel beendet war, wurden wir wieder in die Freiheit entlassen. Wir hatten unsere Haftstrafe endlich abgesessen. Und wieder stand ich vor der gleichen ewigen Frage:
Was jetzt?
Schweigend sahen wir dabei zu wie der übergroße Zeppelin über dem Gebäude in Flammen aufging und die Trümmer das Gefängnis in Asche bedeckten.
Ein weiteres Spiel war geschafft und ich fragte mich nicht zum ersten Mal wie viele noch folgen würden. Es waren immerhin noch genug Bildkarten übrig. Im Moment war meine größte Sorge jedoch der Pikkönig, der nach wie vor sein Unwesen in der Stadt trieb. Zwei meiner Freunde hatten bereits ihr Leben lassen müssen, als sie bei einem Massaker eiskalt von einer Granate erwischt wurden. Und beinahe hätte er mich auch getötet.
Als ich meinen Blick umherschweifen ließ, sah ich, dass Banda und Yaba sich bereits vom Geschehen entfernten. Chishiya stand noch eine Weile neben mir und betrachtete schaulustig wie das Gebäude vor uns in Flammen aufging, fast so als würde er sich ein imposantes Feuerwerk anschauen.
"Das war's dann also", sagte ich und rührte mich nicht von der Stelle. Nicht, weil ich so scharf darauf war, diesem Schauspiel beizuwohnen, sondern eher weil ich nicht wusste, was ich mit mir anfangen sollte.
"Das war's", entgegnete Chishiya beinahe sehnsüchtig.
"Gib's zu. Du trauerst nur den Keksen hinterher", sagte ich und konnte mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.
"Nun, sie waren ziemlich gut."
Mit diesen Worten wandte er sich um und schlenderte in seiner lässigen Art davon. Ich sah ihm eine Weile hinterher, doch dann überkam mich eine unerklärliche innere Panik. Ich setzte mich ebenfalls in Bewegung und folgte ihm mit zögerlichen Schritten, darauf bedacht einen möglichst großen Abstand zwischen uns zu lassen. Nach einigen Minuten hielt Chishiya an, jedoch ohne sich zu mir umzudrehen.
"Warum folgst du mir?", fragte er. Reglos blieb ich stehen.
"Tu ich nicht. Ich muss zufällig in dieselbe Richtung. Ist ja nicht meine Schuld."
Jetzt drehte er sich vollständig zu mir um und kam direkt auf mich zu, lief jedoch konsequent an mir vorbei und steuerte dann geradewegs in die entgegengesetzte Richtung.
Irritiert sah ich ihm hinterher. Mir wurde schnell klar, dass er nur meine Reaktion testen wollte, dennoch folgte ich ihm erneut und versuchte ihn mit schnellen Schritten aufzuholen.
"Was ist? Warum stalkst du mich?", fragte er plötzlich und fuhr herum. Etwas erschrocken starrte ich ihn an.
"Also....ich wollte nur sagen. Du hast dieses Spiel echt gerockt."
Ich hielt meinen Daumen nach oben und grinste etwas peinlich berührt.
Chishiya hob überrascht eine Augenbraue. Dann verzog sich sein Mund zu einem selbstgefälligem Lächeln.
"Ach wie reizend. Danke dir" , machte er in übertrieben herablassendem Ton, kam auf mich zu und tätschelte dabei kurz meinen Kopf als wäre ich ein Hund, der gerade zum ersten Mal erfolgreich Sitz gemacht hatte.
Ich schob etwas trotzig meine Unterlippe vor.
"Ich meine das ernst. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so kalkuliert und gelassen vorgeht in einem Spiel um Leben und Tod."
Er wirkte nach wie vor unbeeindruckt.
"Ich weiß, ich bin einfach klasse. Aber auch ich brauche etwas Ruhe vor meinen Fans. Das verstehst du sicher."
Er steckte seine Hände wieder zurück in die Jackentaschen und sah mich dann auf eine seltsam belustigte Art an.
Ich rollte genervt mit den Augen.
"Ja, du bist super clever, aber es mangelt dir eindeutig an Bescheidenheit."
"Bescheidenheit ist was für Leute ohne Selbstbewusstsein", entgegnete er unbeeindruckt, und lief dann einfach an mir vorbei, wieder in die ursprüngliche Richtung, jedoch diesmal mit zügigerem Tempo als zuvor. Panisch eilte ich ihm hinterher.
"Willst du jetzt einfach abhauen?", rief ich ihm hinterher in der Hoffnung ihn noch einzuholen. Er drehte sich erneut um, diesmal sichtlich genervt.
"Ich bin nicht dein Babysitter. Geh weg!" Er hob übertrieben gestikulierend die Hand. "Kusch."
Langsam machte der Kerl mich wütend.
"Und ich kein Baby."
Er seufzte.
"Dann solltest du aufhören dich wie eines zu benehmen."
Innerlich gab ich ihm Recht und ich wusste es machte keinen Sinn es länger zu betreiten, deshalb beschloss ich einfach ehrlich zu sein.
"Bitte! Ich...weiß nicht, wo ich hingehen soll", nuschelte ich leise.
Chishiya runzelte die Stirn.
"Hast du keine Freunde oder sowas?"
Mein Blick wurde zerknirschter.
"Doch, aber...die hab ich verloren", sagte ich mit gesenkter Stimme.
"Dann geh sie doch suchen."
"Nein, ich meine...sie sind tot. Alle."
Ein gedehntes Schweigen entstand zwischen uns, was Bücher hätte füllen können. Chishiyas Miene war nach wie vor so undurchdringlich wie die Gefängnismauern, die wir gerade hinter uns gelassen hatten. Was dachte er nur?
"Das ist natürlich echt blöd gelaufen für dich. Aber das ist wohl kaum mein Problem. Damit musst du schon alleine klarkommen."
Seine kalten Worte waren ein Stich ins Herz. Was hatte ich auch erwartet, wenn ich jemanden wie ihn um Hilfe bat? Innerlich schalt ich mich für meine Naivität, überlegte jedoch trotzdem wie ich ihn noch umstimmen konnte.
"Ich will hier nur nicht alleine sein. Das ist alles. Und... ich weiß, das ist vielleicht kein Argument, aber immerhin habe ich bewiesen, dass du mir trauen kannst."
"Du hast Recht", sagte er schließlich. "Das ist kein Argument."
Ich stöhnte innerlich und machte mir bewusst, dass er wohl nicht nachgeben würde, egal was ich sagte. Wir waren schließlich keine Freunde. Nur flüchtige Bekannte.
"Schon gut", sagte ich und gab mir Mühe nicht zu enttäuscht dabei zu klingen. "Ich kann dir meine Anwesenheit nicht aufzwingen. Das wäre anmaßend von mir."
Wieder ein langes zermürbendes Schweigen.
"Richtig", sagte er irgendwann. "Also viel Glück."
Chishiya drehte sich mit einem letzten kurzen Winken von mir weg und setzte seinen Weg alleine fort. Ich sah ihm noch eine ganze Weile nach, folgte ihm aber nicht länger. Stattdessen stand ich nur da. Planlos und verloren. Mit Mühe konnte ich eine Träne unterdrücken. Ich musste mich zusammenreißen. Das hier war nicht das Ende der Welt. Ich war zwar jetzt vollkommen alleine und auf mich gestellt, aber irgendwie ging es immer weiter. Vielleicht würde ich jemand anderen treffen, der mich bei sich aufnehmen würde. Jemand der mir in dieser kranken Welt Gesellschaft leistete um nicht vollkommen den Verstand zu verlieren.
Gerade als ich meinen Blick von Chishiya abwenden wollte, blieb dieser abrupt stehen und hielt eine geraume Zeit inne. Er sah in den Himmel und drehte sich kurz wieder in die Richtung aus der wir gekommen waren. Ich folgte seinem Blick und drehte mich ebenfalls hinauf um nach oben zu sehen. Mein Herz blieb bei dem Anblick beinahe stehen. Das Luftschiff des Pikkönigs kam genau auf uns zu. Ich japste etwas auf und stolperte rückwärts. Chishiya währenddessen stand weiterhin nur ruhig da und beobachtete wie das silberne Flugobjekt immer näher kam. Noch war es weit genug von uns entfernt, aber das konnte sich schnell ändern, wenn wir zurückblieben. Nach einigen unendlichen Sekunden hörte ich wie er hinter mir aufseufzte.
"Schön, komm eben mit", sagte er schließlich. Ich drehte mich wieder zu ihm um und starrte ihn fassungslos an.
"Wirklich?", fragte ich voller Unglauben.
"Mir soll's egal sein, aber geh mir nicht auf die Nerven, verstanden?" Mein Gesicht hellte sich ein wenig auf. "Für's Erste sollten wir von hier verschwinden."
Ich nickte lächelnd. Er wandte sich wieder ab, fast gleichgültig und ich lief ihm leichtfüßig hinterher.
"Ich verspreche dir nicht zur Last zu fallen", flötete ich als ich ihn endlich eingeholt hatte.
"Ja, das sagen sie alle."
Ich war so froh, dass ich fast kurz davor war einen Luftsprung zu machen, konnte mich jedoch noch rechtzeitig beherrschen. Wir liefen eine ganze Weile nebeneinander her, ohne dass wir etwas zueinander sagten. Chishiya hatte etwas an sich, was es mir manchmal schwer machte ein normales Gespräch mit ihm zu führen. Er hatte diese mysteröse Aura, die ihn umgab und alle anderen ringsherum automatisch auf Abstand hielt. Irgendwann beschloss ich die etwas unangenehme Stille zwischen uns zu durchbrechen.
"Also wo gehen wir hin?", fragte ich zögerlich, aber auch etwas neugierig.
"Zu meinem Unterschlupf."
"Ah verstehe."
Ich spürte, dass er mit meiner Anwesenheit nicht wirklich einverstanden war. Aber wieso hatte er dann überhaupt eingewilligt? Bei jedem anderen wäre meine Vermutung wohl Mitleid gewesen, aber bei Chishiya? Mit Sicherheit nicht.
Erneut verfielen wir in Schweigen. Ich hatte gefühlt tausend Fragen an ihn, aber ich hatte wohl Angst etwas Dummes in seiner Gegenwart zu sagen und ihm auf die Nerven zu gehen. Schließlich könnte er seine Meinung jederzeit ändern und mich hier stehen lassen, um mich dann dem Pikkönig zum Fraß vorzuwerfen.
"Mein Name ist übrigens Izumi Tsuki", stellte ich mich vor, als die Stille irgendwann zu unerträglich wurde und auch um mich von dem Gedanken, dass der Pikkönig uns folgte abzulenken.
"Ich kenne deinen Namen. Er stand auf dem Monitor."
"Richtig. Und du bist Chishiya Shuntarō. Du erinnerst dich vielleicht nicht, aber wir kennen uns vom Beach."
Er blieb plötzlich abrupt stehen und sah mich dann sichtlich amüsiert an.
"Du stalkst mich also wirklich. Na, das ist ja mal eine Überraschung."
Entgeistert starrte ich ihn an.
"Ich hab dich nur ein oder zweimal dort gesehen. Mehr nicht", verteidigte ich mich, obwohl es definitiv mehr war als zweimal.
"Und schon konntest du mich nicht mehr vergessen. Ich muss wirklich Eindruck auf dich gemacht haben."
Es passierte normalerweise nicht so oft, dass ich vor Verlegenheit errötete, doch diesmal tat ich es.
"Nenn es wie du willst. Aber eine Stalkerin bin ich bestimmt nicht", herrschte ich ihn an.
"Dann frage ich mich, warum du dich ausgerechnet an meine Fersen geheftet hast."
"Nun, du hast mir das richtige Symbol genannt, was bedeutet, dass du mich nicht töten wolltest und mir auch genug Vertrauen entgegen gebracht hast. Reicht das als Grund?", fragte ich schnippisch und starrte ihn mit bohrendem Blick an. Chishiya erwiderte meinen Blick nur kurz, bevor er sich wieder von mir abwandte und unbeirrt weiterlief.
Eine Sache war mir jetzt schon klar: Es würde alles andere als einfach mit ihm werden. Doch für den Moment war ich einfach nur dankbar nicht alleine sein zu müssen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro