Kapitel 12
Die Pfeile führten mich zu einem riesigen mehrstöckigem Parkhauskomplex mit unzähligen verwinkelten Treppenaufgängen. Dicht darüber schwebte ein Luftschiff mit dem riesigen Banner der Pikdame, der bedrohlich im Wind flatterte. Ich holte tief Luft. Was hatte ich schon zu verlieren? Außer meinem Leben natürlich. Aber im Moment hing ich ohnehin nicht sonderlich daran und ich war froh für jede Ablenkung von dem unerträglichen Schmerz in mir.
Ich verschaffte mir also einen groben Überblick über die Umgebung und fand kurz darauf einen Fahrstuhl, mit dem man offensichtlich zum Startpunkt des Spiels gelangte. Ich blickte auf meine Füße hinab, an denen ich momentan nur ein paar zerfledderte Sandalen trug. Für Pikspiele auf jeden Fall eher ungeeignet.
Ich setzte meine Tasche ab und suchte darin nach ein paar festen Schuhen. Was mir jedoch zuerst in die Hände fiel, war etwas vollkommen anderes. Ich starrte den Gegenstand etwas ratlos an, als ich ihn herauszog. Wie war das denn in meine Tasche gekommen?
Augenscheinlich war es eine Spritze, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Daran klebte ein kleiner Zettel mit einer handschriftlichen Bemerkung:
𝓖𝓮𝓰𝓮𝓷 𝓕𝓮𝓲𝓷𝓭𝓮.
Ich brauchte nicht lange zu überlegen, wer mir das zugesteckt hatte. Aber was war in der Spritze enthalten? Gift? Oder vielleicht irgendwelche Drogen? Wenn es gegen Feinde helfen sollte, würde es auf jeden Fall nichts harmloses sein. Ich zog mir eine leichte Strickjacke über und ließ die Spritze dann zögerlich in die Jackentaschen gleiten. Dann tauschte ich meine Sandalen schnell gegen meine braunen Leder-Boots und versteckte den Rest meiner Sachen in einer leeren Mülltonne. Anschließend nahm ich den Fahrstuhl und fuhr hinauf bis zur obersten Etage.
Als sich die Aufzugtüren wieder öffneten, sah ich, dass sich schon zahlreiche Spieler auf dem Plateau versammelten hatten. Alle warfen mir zunächst einen flüchtigen Blick zu, wandten sich jedoch genauso schnell wieder von mir ab. Für einen Moment stutzte ich jedoch innerlich.
Ein Kind war ebenfalls unter den Anwesenden. Es war das erste Mal, dass ich eins sah, seit ich hier in dieser Welt gefangen war. Wie grausam musste man sein, um ein Kind an solchen brutalen Spielen teilnehmen zu lassen? Und vor allem wieso?
Zu dem Kind schien eine junge Frau zu gehören. Beide drehten sich unverwandt zu mir um, als ich mich neugierig umsah.
"Izumi-sensei?", fragte der Junge und sah mich überrascht an. "Was machen Sie denn hier?"
Erst jetzt, als ich sein Gesicht sah, bemerkte ich, dass ich den Junge kannte. Er ging an die Schule, in der ich als Referendarin angefangen hatte zu unterrichten. Er gehörte zwar nicht zu meiner Klasse, die ich übernommen hatte, aber ich hatte ihn desöfteren gesehen, als ich in meiner Anfangszeit nur beobachtend am Schulunterricht teilnehmen durfte.
"Du bist..." Ich kramte kurz nach seinem Namen in meinem Gedächtnis. "Kota, richtig?"
Die Frau neben ihm verfolgte unser Gespräch interessiert, während der Junge nur nickte.
"Sag mal kennen wir uns nicht auch?", fragte sie jetzt an mich gerichtet. Ich nahm zum ersten Mal Blickkontakt mit ihr auf und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
"Ja, du warst doch beim Beach, richtig? Du warst diejenige, die Niragi angegriffen hat, als er am Ende bei der Hexenjagd komplett durchgedreht ist."
Sie nickte lächelnd.
"Richtig."
"Das war ziemlich cool", sagte ich anerkennend. "Ich bin übrigens Izumi."
"Usagi", stellte sie sich freundlich vor.
Plötzlich wandte sich uns einer der anderen Spieler zu und beugte sich dann zu Kota hinab.
"Ach wie süß. Wie alt bist du denn?", fragte er und setzte ein deutlich affektiertes Lächeln auf.
"Zehn", erwiderte Kota.
Der Typ wuschelte ihm kurz durch die Haare, was ihn mir augenblicklich noch unsymphatischer machte. Als wäre der Junge noch ein unwissendes Kleinkind. Vermutlich hatte er genauso viel durchgemacht wie wir alle hier.
"Du bist ein süßer Kerl."
Er wandte sich wieder von ihm ab und richtete seine Worte dann an Usagi: "Warum hast du ihn hergebracht? Er hat keine Chance. Ich werde nicht riskieren seinetwegen zu verlieren." Er warf einen letzten missbilligenden Blick auf den Jungen neben ihr. "Das ist ein Pik-Spiel."
Dann ging er wieder.
"Was für ein Ar-...Armleuchter..."
Ich wollte erst etwas weniger nettes sagen, aber immerhin war ein Kind anwesend, also versuchte ich mich etwas zurückzuhalten.
"Du meinst Arsch", sagte Kota vollkommen trocken.
Ich grinste. Soviel also dazu.
"Ja. Genau das."
"Wenn es jemand schafft, dann Usagi", sagte eine weitere Männerstimme dicht hinter uns.
Wir wandten uns zu ihr um. Ein junger Mann mit schwarzen strubbeligen Haaren stand dort und sein Blick war fest auf Usagi gerichtet. Ich sah sie von der Seite an und ihre Miene wandelte sich innerhalb von Sekunden von besorgt zu fassungslos und dann zu unendlich erleichtert.
"Arisu?"
"Usagi."
Die beiden liefen aufeinander zu und für einen Augenblick dachte ich sie würden sich sofort sehnsuchtsvoll in die Arme fallen. Stattdessen jedoch standen sie sich nur etwas steif gegenüber. Vielleicht waren sie noch nicht so weit. Auch Arisu erkannte ich wieder. Sie beide waren da gewesen, als der Beach dem Untergang geweiht war. Sie tauschten ein paar kurze Worte des Wiedersehends miteinander...und erst dann zog Arisu sie in eine sehnsüchtige Umarmung.
Da war er wieder: der qualvolle Stich in meinem Herzen. Wenn Chishiya und ich doch auch nur so vertraut miteinander umgehen könnten, doch das konnte ich nach allem, was passiert war wohl endgültig abschreiben. Ich sollte langsam anfangen mich von dem Gedanken zu verabschieden, dass wir je so etwas wie Freunde sein würden...oder noch absurder: Geliebte.
"Sie sehen traurig aus, Sensei", sagte Kota neben mir plötzlich.
Ich versuchte einigermaßen überzeugend zu lächeln.
"Mir geht's gut. Lass uns das Spiel rocken, okay?"
Ich hielt ihm entschlossen meine Faust hin. Zum ersten Mal lächelte er etwas und stieß seine geballte Faust dann gegen meine.
Als Arisu und Usagi ihr emotionales Wiedersehen hinter sich gebracht hatten, stellte sie ihm Kota vor und erklärte, dass sein Visum heute auslief. Dann wurde unsere Aufmerksamkeit von einem grellen Licht abgelenkt, das die gesamte Umgebung erhellte. Wir sahen uns zu der Lichtquelle um und blickten auf einen riesigen Bildschirm.
Auch die anderen Spieler wandten sich nun neugierig dem weißen Monitor zu.
Spiel: Schachmatt, kündigte die vertraute roboterartige Stimme an. Das Team der Königin tritt gegen das Team der Herausforderer an.
Beide Gruppen wurden währendessen namentlich auf dem Bildschirm angezeigt.
Das Team der Königin in Rot und das Team der Herausforderer in Blau.
"Willkommen in der Arena der schönen Körper und Bewegungen", sagte nun eine menschliche Stimme, die eindeutig weiblich war. Das musste sie sein - die Pik-Königin. Kurz darauf erschien eine Silhouette einer athletischen gebauten Frau auf der Leinwand. "Ich bin die Pik-Königin. Im Team der Königin gibt es mit mir 4 Spieler. Euer Herausforderer-Team hat 16 Spieler."
Während sie das sagte, wurden kurz ihre drei Teammitglieder eingeblendet.
"Sind das Bewohner?", fragte Arisu neben uns.
"Jedes Team bekommt ein König im Königinnen Team. Wie sollte es anders sein: in meinem Team bin ich das. Aber wer könnte euer König sein?", fragte sie und stemmte nun erwartungsvoll die Hände in die Hüfte. "Ich werde jemanden wählen", eröffnete sie unerwartet. "Ah..." Sie hob den Zeigefinger und deutete damit auf die Menge vor dem Monitor. "du bist der König."
Dann erschien eine Live-Aufnahme mit dem Gesicht von Kota auf dem Monitor. Alle drehten sich unverwandt zu ihm um und fragten sich wahrscheinlich genau das Gleiche: Warum hatte sie ausgerechnet ein unschuldiges Kind als unseren König auserwählt? Und was genau würde es für ihn bedeuten, wenn er es war?
Die Königin fuhr fort mit der Erklärung der Spielregeln. In 16 Runden sollten sich die beiden Teams abwechselnd jagen. In jeder Runde, die jeweils 5 Minuten andauerte, war demzufolge immer nur ein Team am Zug um das gegnerische Team zu fangen.
Um das Spiel zu spielen, musste man spezielle Westen tragen, die entweder Rot oder Blau aufleuchteten. Wurde ein Spieler vom gegenerischen Team gefangen, änderte sich seine Farbe und er war für den Rest der Runde bewegungsunfähig. Danach war er fortan Spieler des jeweils anderen Teams. Der einzige, der das Team nicht wechseln durfte, war der König bzw. die Königin. Nach den 16 vorgeschriebenen Runden gewann das Team, das am Ende die meisten Spieler hatte. Die Spieler des Verlierer-Teams hingegen würden, einschließlich seinem König, sterben.
Vom Prinzip her klang das Spiel denkbar einfach. Dennoch fragte ich mich, wieso denn überhaupt jemand von uns freiwillig zum Team der Königin gehören wollen würde. Konnte man sich nicht einfach, nachdem man von ihrem Team gefangen wurde wieder in der nächsten Runde von seinen ursprünglichen Teammitgliedern einfangen lassen? Wäre das Spiel damit nicht kinderleicht zu gewinnen? Jedenfalls erkannte ich im Moment noch nicht genau, wo die Schwierigkeit darin liegen sollte.
"Bitte die Westen anlegen", ertönte nun wieder die altbekannte Computerstimme. Wir sahen zu unserer Linken, wo bereits 16 Exemplare dieser Westen hingen, die in dem Film bereits gezeigt worden waren. Auf dem rechten Schulterblatt war ein großer Knopf angebracht. Drückte man diesen, änderte sich laut Erklärung die Farbe des gegnerischen Teams.
Jeder von uns ging hinüber und zog sie sich über. Kurz nachdem wir sie angelegt hatten, begannen sie in hellem Blau aufzuleuchten.
Runde 1: Das Team der Königin ist am Zug, dröhnte die Durchsage durch die Lautsprecher. Tatsächlich war ich ein bisschen euphorisch, denn wegrennen konnte ich.
Das einzige, was mir ein Wenig Sorgen bereitete, war der Umstand, dass meine Kondition noch nicht ganz wieder auf dem alten Stand war. Aber wenigstens hatte ich zuvor noch daran gedacht meinen Inhalator einzustecken für den Fall der Fälle.
Ein lautes Poltern dröhnte von unten durch das Parkhaus. Die Schritte wurden zunehmend lauter und als wir durch den vergitterten Boden blickten, sahen wir wie Menschen mit roten Lichtern sich uns näherten.
"Man sieht uns doch, wenn wir direkt zusammen stehen. Auseinander!", rief einer unseres Teams voller Panik und scheuchte die Menge in die unterschiedlichsten Richtungen.
Nur Arisu, Usagi, Kota und ich blieben vorerst stehen. Der Junge klammerte sich hilfesuchend an Usagi und mir gleichzeitig fest. Usagi legte ermutigend ihre Hände auf seine Schultern.
"Du bleibst hier. Ich verspreche, dass wir dich beschützen werden", sagte sie mit fester Stimme.
Ich nickte zustimmend und lächelte ihn dann zuversichtlich an.
"Ich auch", versprach ich.
Ich konnte schließlich unmöglich zulassen, dass ein Kind bei einem Spiel verletzt oder in diesem Falle sogar getötet wurde. Als angehende Lehrerin sah ich es als meine Pflicht ihn zu beschützen und ihn nicht einfach sich selbst zu überlassen. Das Positive war, dass ihm als König niemand etwas anhaben konnte. Keiner würde hinter ihm her sein, da er sein Team ohnehin nicht wechseln durfte.
"Okay", murmelte Kota schließlich.
Erst dann rannten wir drei um unser Leben. Ich eilte die Stufen hinunter und verschaffte mir einen fixen Überblick über das Gebäude und die Standorte der gegnerischen Spieler. Einer war auf der anderen Seite der Etage und als er mich erblickte, kam er direkt auf mich zu.
Eilig bog ich linkerhand ab und sprintete an dem schmalen Außengang entlang. Ich merkte jedoch, dass er schneller aufholte als anfangs gedacht. Sie waren sicherlich nicht umsonst die Untertanen der Königin. Aus der Ferne sah ich wie die Königin gerade einen unserer Mitspieler niederstreckte. Er bekam einen Stromstoß und verharrte dann reglos am Boden. Bei dem Anblick wurde ich automatisch schneller und sprang leichtfüßig die Treppen hinab indem ich gleich mehrere Stufen auf einmal nahm. Währendessen wurde mir erst einmal bewusst wie lang sich fünf Minuten hinziehen konnte, wenn man vor etwas davonlaufen musste.
Die Königin unterdessen flog fast elegant über die Geländer und schien jede Abkürzung in dem Gebäude zu kennen. Sie war irre schnell und wendig, sodass ich allmählich begann an meinen Fähigkeiten zu zweifeln.
Die erste Runde endet in Kürze. 10...9...8
Ich verlangsamte meine Schritte, auch weil ich merkte dass im Moment keiner hinter mir her war. Dann endlich kam das erlösende Signal.
Jetzt waren wir an der Reihe die Jäger zu spielen. Ich atmete etwas auf und lehnte mich keuchend gegen das Geländer. Dann überkam mich ein heftiger Hustenanfall. Ich atmete rasselnd ein und aus und zog dann nach einiger Zeit verzweifelt den Inhalator aus der Tasche um ihn an meine Lippen zu setzen. Bereits ein kleiner Sprühstoß reichte um mich freier aufatmen zu lassen. Zur Sicherheit nahm ich zwei und steckte ihn wieder weg. Die nächste Runde hatte bereits begonnen und ich musste endlich etwas tun. Am schlausten wäre es wohl zuerst unsere ehemaligen Spieler wieder zurückzuholen. Einige von ihnen gaben sich sofort zu erkennen. Eine Frau bat mich den Knopf bei ihr zu drücken. Sie zuckte kurz und lag dann ebenfalls paralysiert auf dem Boden.
"Sorry", murmelte ich.
Dann begann Runde 3.
Wieder war weglaufen angesagt. Diesmal war ich kurz davor gefangen zu werden. Aber zum Glück endete die Runde gerade zur rechten Zeit. Als gewechselt wurde, sprintete ich meinem Verfolger nach und erwischte ihn. Er wand sich ruckartig und verharrte dann reglos.
"Schachmatt", grinste ich und streckte ihm dann frech die Zunge raus. Manchmal war ich eben richtig erwachsen.
Als ich mich umdrehte, fuhr ich erschrocken zusammen. Die Königin höchstselbst stand vor mir.
"Na, wer ist jetzt Schachmatt, kleine Bäuerin?"
Sie kam langsam bedrohlich auf mich zu, als genoss sie es mich so eiskalt erwischt zu haben. Ich machte augenblicklich kehrt, doch dort stand bereits ein anderer Kerl mit roter Weste. Er gehörte bis gerade eben noch zu unserem Team und jetzt schien er offensichtlich die Seiten gewechselt zu haben. Ich hob freiwillig die Hände, weil ich wusste, dass ich verloren hatte.
"Gute Entscheidung", sagte sie siegessicher und drückte dann den Knopf auf meiner Weste.
Ein starkes schmerzhaftes Kribbeln ging durch meinen Körper und ich ging zu Boden. Als ich versuchte mich wieder aufzurappeln, streikte mein Körper. Widerstandslos blieb ich also liegen und versuchte mich mit meinem Schicksal abzufinden. Zumindest für diese Runde.
Als die vierte Runde begann, hielt ich nach meinen ehemaligen Mitspielern Ausschau und traf auf Arisu.
"Sie hat mich erwischt. Hilf mir!"
Arisu nickte lächelnd und tat mir den Gefallen.
In der nächsten Runde schwor ich mir mich an der Königin zu rächen. Da ich sie jedoch nicht selbst fangen konnte, musste einer ihrer Untertanen dran glauben.
Leider begann der Husten mich erneut zu quälen, doch diesmal versuchte ich einfach es zu ignorieren. Ich hatte schnell ein Opfer gefunden. Ich war mir zudem sicher, dass es einer der Bewohner war, denn ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Ich kesselte ihn ein, doch dann plötzlich rannte er auf mich zu und drängte mich Richtung Außengeländer.
Als er meinen Knopf drücken wollte, kletterte ich rasch durch die Eisenstäbe und hing dann ungesichert in schwindelerregner Höhe. Er grinste selbstgefällig.
"Und was machst du, wenn ich dich jetzt einfach runterschubse, Kleines, häh?"
Als ich einen Blick nach unten warf, wurde mir erst bewusst in was für eine beschissene Lage ich mich gerade gebracht hatte. Mit zittrigen Fingern tastete ich nach der Spritze in meiner Tasche. Meine Hände waren so schwitzig, dass ich fast schon alleine deswegen abgerutscht wäre. Der Typ lehnte sich siegessicher über das Geländer und versuchte meine Hand von dem Metall zu lösen. Als ich meine Chance sah, rammte ich ihm die Kanüle voller Wucht in den Handrücken und drückte die Flüssigkeit heraus.
"Mit netten Grüßen von meinem Arzt, du Wichser."
Er schrie qualvoll auf und löste seinen Griff und ich nutzte den Moment, um wieder zurück zu klettern.
"Was hast du getan?", stöhnte er unter Schmerzen und zog sie wieder aus seinem Handrücken, der jetzt sogar blutete. Vielleicht hatte ich es ein wenig übertrieben.
Ich zuckte mit den Achseln.
"Da musst du schon den Arzt fragen und nicht mich."
"Ich spüre meinen Arm nicht mehr."
Er schüttelte ihn verzweifelt und ich beobachtete wie der Arm lamgsam auf den Boden sank. Kurz darauf folgte sein Körper. Ich tippte ihn kurz an, doch der Typ war offenbar komplett weggetreten. Tot sah er allerdings nicht aus, denn er atmete noch schwach.
"Schlaf schön, Dornröschen", flüsterte ich und drückte dann vollkommen entspannt den Knopf.
Dennoch bemerkte ich, dass es von Runde zu Runde schlechter um unser Team stand. Immer mehr wurden offenbar von der Königin rekrutiert. Es war nicht aufzuhalten und es wirkte fast so als wären sie einer intensiven Gehirnwäsche unterzogen worden.
Auf einmal schienen sie alle gegen uns zu kämpfen und wir waren nur noch eine Handvoll Spieler, während die Königin ganze 15 Leute auf ihrer Seite hatte. Als unser Team sich wiederfand, waren es abgesehen vom König nur noch Usagi, Arisu und ich. Unsere Chancen standen also denkbar schlecht.
Wie sich jedoch herausstellte, hatte es die Königin speziell auf Arisu abgesehen, während sie in Usagi offenbar ihren persönlichen Todfeind sah. Auch Königinnen konnten offenbar eifersüchtig werden und diese hier wurde zu einer um sich schlagenden Kampfmaschine.
Von weitem beobachtete ich wie sie in einen heftigen Kampf mit Usagi verwickelt wurde und kurzzeitig sah es so aus als würde die Königin ihn gewinnen. Doch offenbar war ihr Hass so groß, dass sie sich sogar weigerte Usagi in ihr eigenes Team aufzunehmen.
Als wir wieder am Zug waren trafen wir uns alle erneut und offenbar hatte Usagi einen Plan die anderen umzustimmen. Sie suchte ein paar der anderen Spieler auf und schaffte es tatsächlich sie innerhalb unserer verfügbaren Zeit davon zu überzeugen wieder Teil unseres Team zu werden und weiter dafür zu kämpfen, dass jeder von uns wieder zurück nach Hause konnte. Sie gab zu Bedenken, dass sie, wenn sie sich einmal dazu entschieden würden bei der Königin zu bleiben und Bewohner zu werden, nie wieder zurückkehren konnten.
Doch einige von ihnen, schienen nicht gerade scharf darauf zu sein wieder zurück zu müssen. Usagis Rede war sehr emotional und man merkte ihr an, dass sie viel durchgemacht haben musste bevor sie hierherkam.
Letztendlich wollte sie aber trotzdem zurück in unsere Welt, um noch einmal komplett neu anzufangen. Ich muss zugeben, dass ich auch etwas feuchte Augen bekam, als ich sie von zu Hause sprechen hörte.
Inzwischen schien all das so fern zu sein, dass man kaum noch wusste wie es vorher war als wir alle noch jeden Tag vor uns hingelebt hatten, ohne dass man jederzeit um sein Leben fürchten musste.
Ich war wirklich froh, als sie endlich einsahen wie dumm es vom ihnen wäre zu bleiben und sich ihrem Schicksal zu ergeben. Zum Schluss hatte sich unser Team immerhin wieder ein wenig vergrößert, aber selbst dann brauchten wir noch 5 weitere Spieler um das Spiel für uns zu entscheiden. Es war eher unwahrscheinlich, dass sich alle mit netten sentimentalem Worten überzeugen ließen.
Als das rote Team wieder an der Reihe war, nahm die Königin Arisu weiterhin in die Mangel, doch dieser schaffte es rechtzeitig ihr zu entkommen.
Dann wurde die letzte Runde eingeläutet und wir bekamen eine letzte Chance unseren Rückstand wieder aufzuholen.
In dieser Runde gab jeder nochmal alles, was er konnte. Ich schaffte es immerhin zwei der Gegner zu erwischen. Meine Atmung wurde jedoch zunehmend wieder schwerer je länger ich rannte. Mein schönes neues Kleid war völlig durchgeschwitzt und mein Husten setzte wieder ein.
Ich zog an dem Spray und machte weiter.
Als unser Sieg endlich verkündet wurde, fiel ich vollkommen erschöpft auf die Knie und griff haltsuchend nach einem Geländer. Alle um mich herum brachen in hellem Jubel aus.
Dann tauchte die Königin aus dem Nichts in der Menge auf. Alle Blicke waren auf sie gerichtet.
"Ich weiß nicht wie du das hier geschafft hast", sagte sie und richtete sich dabei offensichtlich an Usagi. "Gute Arbeit, du Heuchlerin."
"Ich werde diesen Ort hier verlassen...und alle anderen auch. Wir gehen zurück", entgegnete Usagi voller Überzeugung.
"Wirklich?", fragte sie und hob fast sehnsuchtsvoll ihren Blick. "Dieser Ort bietet soviel Freiheit. Er ist mir sehr viel mehr als diese enge starre Welt."
"Du bist eine von uns", bemerkte Arisu. "Du bist als Spielerin hergekommen. Und du hast gespielt. Habe ich nicht Recht?"
Sie lächelte verwegen und kam dann näher auf ihn zu.
"Wenn alle Spiele gespielt worden sind, erfährst du's."
"Was erfahren wir dann?", hakte Arisu nach. Genau das wüsste ich auch gern. "Und was meinst du mit alle Spiele?"
"Erst, wenn alle Spiele gewonnen sind, bekommst du deine Antwort."
"Was hat es mit dieser Welt auf sich? Können wir zurück in unsere Welt?"
Arisu schien hartnäckig zu sein, doch die Königin lächelte nur wieder.
"Du musst dich noch etwas in Geduld üben."
Dann verabschiedete sie sich von uns und stürzte sich in die endlose Tiefe. Ein roter Laser kam im selben Moment aus dem Himmel geschossen und durchbohrte ihren Körper.
Fassungslos sahen wir hinab. Das war auf jeden Fall ein spektakulärer Abgang gewesen. Erleichtert atmete ich auf. Ein weiteres Spiel war überstanden und sogar Kota hatte es geschafft zu überleben. Und dank Chishiya hatte ich das Ganze auch heil überstanden. Diese Ironie ließ mich ein wenig auflachen, wenn auch nur innerlich. Warum warf er mich erst raus, nur um mir dann im nächsten Moment wieder zu helfen? Ich wurde einfach nicht schlau aus diesem Kerl...
Als ich wieder genug Kraft gesammelt hatte, stand ich auf und ging hinüber zu Usagi und Arisu.
"Ihr wart wirklich klasse. Danke", sagte ich und sah dann zu Kota hinüber. "Ihr habt ihn gerettet."
"Nein, wir alle haben ihn gerettet", betonte Usagi.
"Also werdet ihr bis zum Schluss kämpfen bis ihr alle Bildkarten gewonnen habt?", fragte ich stirnrunzelnd.
"Das ist zumindest der Plan", entgegnete Arisu.
"Nun ich denke ihr könntet es vielleicht sogar schaffen. Ihr zwei seid ein gutes Team. Oder sogar mehr als das", grinste ich mit einem vielsagendem Blick zwischen den beiden. "Ich muss zugeben ich bin etwas neidisch."
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass beide ein wenig rot anliefen als ich das sagte.
Zusammen verließen wir dann das Parkhausdeck. Ich ging zu der Mülltonne und fischte meine Tasche wieder heraus.
Inzwischen hatte ich das starke Bedürfnis danach zu duschen und mich umzuziehen. Dabei hatte ich noch nichtmal mehr eine Bleibe. Als wir unten ankamen, stand dort eine mir unbekannte junge Frau und wartete offenbar auf jemanden. Kota lief auf sie zu und sie legte fürsorglich ihre Arme um ihn. Ob das seine Mutter war? Aber wäre eine Mutter nicht bei ihm geblieben während eines tödlichen Spiels und hätte versucht ihr Kind zu retten?
Die meisten um uns herum verabschiedeten sich voneinander. Zu guter Letzt auch Usagi und Arisu. Und ich - ich wollte mich ungern wieder irgendjemandem aufdrängen. Aus diesem Fehler hatte ich gelernt.
"Auf Wiedersehen, Kota. Vielleicht sehen wir uns ja in der echten Welt wieder", sagte ich hoffnungsvoll.
Ich wollte tatsächlich glauben, was ich da sagte, aber ich zweifelte daran.
Die Frau, die bei ihm war, lächelte mich an.
"Er sagte du seist eine Lehrerin an seiner Schule gewesen. Stimmt das?"
"Ja. Das ist richtig, aber ich bin bis jetzt eigentlich nur Referendarin. Ich war es jedenfalls. Und du bist...seine Mutter?", fragte ich neugierig.
Sie lachte und schüttelte mit dem Kopf.
"Nein, aber er war vollkommen alleine hier als ich ihn fand, also bin ich bei ihm geblieben. Ich schätze so waren wir beide etwas weniger allein."
Ich lächelte traurig.
"Ja, das kann ich sehr gut nachvollziehen. Es ist immer besser, wenn man nicht alleine bleiben muss."
"Und du? Bist du mit jemand anderem unterwegs?", fragte sie und sah sich kurz um.
Ich schüttelte resigniert den Kopf.
"Nicht mehr."
"Willst du dann vielleicht mit uns kommen? Wir hätten noch ein wenig Platz und umso mehr Leute ihn beschützen können, desto besser. Er hat seine Eltern verloren und hat sonst niemanden mehr."
Ich sah sie erstaunt an, weil ich mit so einem netten Angebot nicht gerechnet hatte.
"Also, wenn es euch wirklich nichts ausmacht."
"Gar nicht, oder Kota?", fragte sie an den Jungen gerichtet.
Er schüttelte den Kopf.
"Bitte kommen Sie mit, Sensei", sagte er und machte einen höflichen Knicks.
Ich lachte.
"Da ist es schwer nein zu sagen. Also gut", sagte ich und folgte ihnen dann.
Immerhin schien ich diesmal auch erwünscht zu sein und es war immerhin noch besser als sich mitten in der Nacht alleine einen Schlafplatz suchen zu müssen. Der Gedanke an Chishiya jedoch ließ sich nicht einfach so verdrängen. Ich vermisste ihn jetzt schon, obwohl er ein Idiot gewesen war, der es nicht einmal verdiente vermisst zu werden.
Nach einem kurzen Fußmarsch kamen wir an einem Haus an, in dem Kota offenbar früher mit seinen Eltern gelebt hatte. Ich bekam einen Platz im Wohnzimmer auf der Couch, was immerhin besser war als der kalte Parkettboden. Doch Strom oder warmes Wasser suchte man hier vergeblich. Ich zog mir meine Schlafsachen über und kuschelte mich dann in die warme Decke ein, die ich von der Frau mit dem Namen Mei bekommen hatte.
Ich merkte, dass ich todmüde war, aber dennoch fiel mir das Einschlafen wesentlich schwerer als sonst. Was Chishiya wohl gerade machte?
Der Gedanke daran, dass er bald in einem Spiel antreten würde, und ich dann nicht einmal erfahren würde, ob er es überleben würde, war unerträglich. Und was würde passieren, wenn wir es wirklich schafften alle Spiele zu gewinnen. Würde ich ihn dann je wiedersehen?
Meine Augenlider wurden langsam schwerer und ich fiel kurz darauf in einen unruhigen Schlaf.
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