Familientreffen mit Zwischenfällen
Achtung: Langes Kapitel
Etwas nervös stand ich auf dem Treppenabsatz und betätigte die Klingel neben der Tür. Nur wenige Sekunden später wurde sie schwungvoll geöffnet. Doch es war nicht meine Mutter wie ich zuerst gedacht hatte. Es war mein Bruder.
"Ah die verschollene Schwester ist wieder da", grinste er hämisch und ließ mich ein.
"Wieso denn verschollen?"
"Na, du hast dich die letzten Tage kaum gemeldet. Mum hätte schon fast eine Vermisstenanzeige aufgegeben."
"Schwachsinn", sagte ich und rollte mit den Augen. "Ich geh inzwischen wieder Arbeiten und war eben sehr beschäftigt."
"Quälst du wieder unschuldige kleine Kinder?", fragte er frech und folgte mir in die Küche.
"Ich quäl gleich dich, wenn du nicht damit aufhörst. Hallo Mum!", begrüßte ich meine Mutter, die gerade am Herd Essen zubereitete.
"Oh Tsuki. Schön, dass du da bist. Du kannst das hier bitte gleich ins Wohnzimmer bringen. Und nimm deinen Bruder auch gleich mit. Der steht mir sonst nur im Weg rum."
Sie reichte mir ein paar Schälchen mit Gemüse und Reisbällchen und Naoki drückte sie Besteck und Teller in die Hand.
"Brauchst du sonst noch Hilfe?", fragte ich.
"Nein, setzt euch einfach." Sie gestikulierte ausschweifend Richtung Esstisch. "Ich bin jeden Moment fertig."
"Na gut..."
Ich balancierte mit den Schälchen zu dem rechteckigen Tisch, während Naoki das Geschirr darauf verteilte.
Als Dad den Raum betrat, lächelte ich erleichtert. Ich hatte gehofft, dass er ebenfalls da sein würde, aber Mum war sich noch nicht sicher gewesen wie lange er arbeiten müsste.
"Hallo Dad. Schön, dass du zum Essen da bist."
Augenblicklich erwiderte er mein Lächeln.
"Hallo Kleines. Alles gut bei dir? Was macht die Arbeit?", fragte er interessiert und setzte sich an den gedeckten Tisch.
"Alles okay. Ich habe mich inzwischen wieder gut eingefunden."
"Und dein Bein? Hast du noch Schmerzen?"
"Eigentlich kaum. Es dauert bis ich es wieder voll belasten kann, aber normales Laufen ist unproblematisch", sagte ich und setzte mich dann auf meinen Stammplatz gegenüber von Dad.
"Schön, schön. Dann kehrt endlich wieder etwas Ruhe ein in unserer Familie."
Ich presste die Lippen fest zusammen, weil ich wusste, dass diese Ruhe wohl nicht allzu lange anhalten würde. Um ehrlich zu sein, konnte ich es kaum erwarten ihnen die Neuigkeiten mitzuteilen. Andererseits war ich auch ziemlich angespannt deswegen.
Als wir endlich alle zusammen am Esstisch saßen, ergriff ich die Chance, weil ich unmöglich länger warten konnte.
"Ich muss euch was sagen", begann ich und blickte mit einem zufriedenen Lächeln in die Runde, während ich nervös meine Hände im Schoß zusammenfaltete. Meine Mum ließ langsam ihre Stäbchen sinken. Mein Vater schaute skeptisch über seine Brille hinweg und Naoki runzelte irritiert die Stirn. Alle sahen mich schweigend an und warteten offensichtlich, dass ich fortfuhr.
"Was denn? Bist du zur Lehrerin des Monats gewählt worden?", gluckste Naoki als ich gerade erneut zum Sprechen ansetzen wollte.
Ich warf ihm einen entnervten Blick zu.
"Nein, ich wollte euch eigentlich nur mitteilen, dass ich wieder einen Freund habe."
Es klirrte leise. Mum hatte die Stäbchen fallen gelassen und sah mich mit verklärtem Blick an.
"Tsuki. Ist das wirklich wahr?"
Ich nickte verlegen.
"Du meinst einen echten Freund aus Fleisch und Blut?", fragte Naoki ungläubig.
"Was glaubst du denn?", fuhr ich ihn an.
Er grinste nur dämlich.
"Du meinst sicher so einen, den man sich für einen Tag mieten kann, oder?"
"Naoki! Jetzt lass sie schon in Ruhe erzählen!", schimpfte Mum plötzlich ungehalten. Dann wandte sie sich wieder an mich.
"Sag schon. Wie habt ihr euch kennengelernt? Wer ist er? Und was macht er beruflich? Sieht er gut aus?"
Ich kicherte.
"So viele Fragen auf einmal kann ich gar nicht beantworten. Also... kennengelernt haben wir uns in der Klinik kurz nach dem Shibuya-Vorfall."
"In der Selbsthilfegruppe?", fragte meine Mutter euphorisch.
"Ähm nein, nicht dort. Wir sind uns eher zufällig über den Weg gelaufen. Wir waren beide an dem Tag in Shibuya als es passiert ist."
"Ah, ich erinnere mich, dass du von einer neuen Bekanntschaft im Krankenhaus erzählt hast. Das war der Mann, für den du dich dort hübsch gemacht hast."
Mums Augen funkelten noch immer voller Euphorie.
"Ja", murmelte ich verlegen. "Es war Liebe auf den ersten Blick. Zumindest bei mir. Bei ihm hat es allerdings etwas länger gedauert."
"Natürlich", schnarrte Naoki und unterdrückte sich ein Grinsen. Ich ignorierte seine Worte diesmal jedoch gekonnt.
"Im Moment ist er noch Medizinstudent, aber seine Abschlussprüfungen sind fast vorbei und wenn er die geschafft hat, wird er Assistenzarzt sein."
Diesmal war meine Mutter endgültig baff und auch Naoki sah diesmal milde beeindruckt aus. Mein Vater hingegen hatte die ganze Zeit noch kein Ton von sich gegeben und hörte mir nur aufmerksam zu.
"Er muss wirklich intelligent sein, wenn er Medizin studiert", schwärmte Mum immer noch völlig verzückt von den Neuigkeiten.
Ich grinste über beide Ohren.
"Das ist er. Er hat den besten Notendurchschnitt an seiner Uni", sagte ich mit hörbarem Stolz in der Stimme.
"Und so jemand hat sich in meine Tochter verliebt?", fragte sie erstaunt als wäre das mehr als abwegig.
Ich schürzte etwas beleidigt die Lippen.
"Ja, offensichtlich schon."
"Wahrscheinlich hat sie ihm einfach keine Wahl gelassen", vermutete Naoki. Ich verengte bedrohlich meine Augen. Er zuckte nur mit den Schultern. "Würde ich dir jedenfalls durchaus zutrauen. Ich erinnere mich noch als du damals an der Oberschule diesen einen Typen verfolgt hast auf den du so standest. Wie hieß der noch gleich? Yamazaki, Yamazawa... irgendsowas jedenfalls."
Ich funkelte ihn wütend an.
"Das ist etliche Jahre her."
"Einmal bist du ihm sogar bis auf die Toilette gefolgt."
"Sei gefälligst still, Dumpfbacke!", zischte ich.
"Ja, Naoki. Unterbrich deine Schwester nicht immer!", sagte Mum forsch. Der Angesprochene knirschte hörbar mit den Zähnen.
"Das war auch ehrlichgesagt noch nicht alles, was ich euch sagen wollte", murmelte ich jetzt leise.
"Wie? Das war nicht alles? Bist du etwa schwanger?"
Ich blinzelte ungläubig und prustete dann in meine Miso-Suppe.
"Um Himmels Willen. Nein."
Mein Dad atmete erleichtert aus. Bei meiner Mum war ich mir nicht ganz sicher, ob da nicht sogar ein winziger Hauch von Enttäuschung in ihren Augen aufflackerte. "Wir haben allerdings vor zusammen zu ziehen. Eine Wohnung haben wir schon. Er ist bereits dort eingezogen und ich bin schon dabei meine Sachen zu packen."
Eine lange Stille entstand und ich war überrascht als Dad zum ersten Mal das Wort ergriff.
"Du willst zu einem wildfremden Mann ziehen?"
"Er ist nicht fremd. Er ist mein Freund."
"Aber du hast gesagt, dass du ihn erst vor kurzem kennengelernt hast. Warum wollt ihr so schnell zusammenziehen?", fragte er und sah mich zweifelnd an.
Ich hatte schon mit dieser Frage gerechnet. Sie wussten schließlich nicht, dass Chishiya und ich uns schon länger kannten und bereits kurze Zeit zusammengelebt hatten und mir war klar, dass ich es ihnen auch nicht erzählen konnte. Das Ganze würde für Außenstehende viel zu absurd klingen. Allerdings musste ich meinen Vater irgendwie davon überzeugen, denn ich war mir relativ sicher, wenn er dagegen war, würde Mum es ebenfalls sein.
"Sagen wir mal so. Ich bin mir einfach sehr sicher, dass er der Richtige für mich ist. Und irgendwie fühlt es sich an als würden wir uns schon sehr viel länger kennen als nur ein paar Wochen. Deshalb glaube ich auch, dass es gut funktionieren wird. Ich möchte einfach in seiner Nähe sein können. Wenn er erst Arzt ist, wird er ohnehin viel arbeiten und dann will ich wenigstens die Chance haben ihn die restliche Zeit über zu sehen."
Mein Vater seufzte schwer und ich sah ihm an, dass er sich schwer tat mit meiner Entscheidung. Andererseits wusste ich auch, dass er es mir stets recht machen wollte. Auch, wenn man es ihm nicht sofort ansah, war er schon immer der großzügigere und warmherzigere Teil meiner Familie gewesen.
"Schön", grummelte er nach einer ganzen Weile. "aber vorher will ich wissen, auf wen du dich da einlässt. Lade ihn für nächsten Freitagabend zum Essen ein. Dann sehen wir weiter."
Ich lächelte überaus erleichtert.
"Danke, Dad. Ich werde fragen, ob er es sich einrichten kann."
Mein Vater nickte und erwiderte mein Lächeln, was ich als gutes Zeichen ansah.
Jetzt musste ich nur noch Chishiya überzeugen mitzukommen.
Am darauffolgenden Sonntagmorgen war ich schon wieder damit beschäftigt einige meiner Sachen auszusortieren und Dinge, die ich vorerst nicht mehr benötigte in Kisten zu verstauen. Als ich irgendwann keine Lust mehr darauf hatte, machte ich mich im Badezimmer zurecht und fuhr mit dem Bus zu unserer zukünftigen Wohnung. Im Moment war es nur Chishiyas alleinige Wohnung. Auf dem Papier jedoch war es bereits unsere. Ich kramte den Schlüssel hervor, den er mir gegeben hatte und öffnete dann die Tür zu unserem Apartment. Es war noch immer merkwürdig das zu tun und irgendwie fühlte ich mich dabei jedes Mal wie eine Einbrecherin. Chishiya jedoch hatte gemeint, dass ich jederzeit kommen und gehen könnte wie ich wollte, denn schließlich würden wir ohnehin sehr bald zusammen hier wohnen, ganz gleich, ob meine Eltern das nun befürworteten oder nicht. Ich sah mich kurz um, doch von Chishiya war keine Spur. Vermutlich saß er oben am Schreibtisch und büffelte über seinen Studienunterlagen. Seine schriftlichen Prüfungen waren bereits alle abgeschlossen, doch der praktische Teil stand ihm als Einziges noch bevor, weshalb er die letzten Tage noch das ein oder andere medizinische Fachbuch gewälzt hatte. Leise schlich ich die Treppen nach oben und öffnete die Glastür zum Schlafzimmer. Chishiya sah von seinen Unterlagen auf und drehte seinen Kopf in meine Richtung. Ungeduldig sprang ich zu ihm hinüber und legte meine Arme von hinten um seine Schultern.
"Chishiii", quiekte ich übermütig. Er hob langsam den Blick um mich von der Seite anzusehen.
"Hallo Tsuki", entgegnete er mit einem schwachen Lächeln. "Du schlägst jeden Tag zeitiger hier auf."
"Nur, weil ich dich so schrecklich vermisst habe", schmollte ich und schmiegte mein Gesicht etwas an seine Wange.
"Es waren keine 24 Stunden."
"Es war lange genug", beschwerte ich mich.
Er stöhnte etwas und legte das Buch beiseite, das er noch immer in den Händen hielt. Dann wandte er sich etwas zu mir um, zog mich auf seinen Schoß und legte die Arme um mich.
"Wie lief es gestern Abend?", fragte er ruhig, während ich mich zufrieden gegen ihn lehnte. "Hast du es ihnen gesagt?"
Ich nickte.
"Ja, sie haben es ganz gut aufgenommen denke ich. Mum war wie erwartet vollkommen aus dem Häuschen. Mein Bruder hat sich die meiste Zeit über mich lustig gemacht und mein Dad war wieder die Ruhe in Person."
"Also wäre das auch schonmal erledigt."
"Nun ja, nicht ganz..."
Chishiya hob die Augenbraue.
"Soll heißen?"
"Als ich ihnen gesagt habe, dass wir vorhaben zusammen zu ziehen, war mein Dad....nicht so angetan von der Idee. Er hat gemeint, dass er dich wenigstens vorher kennenlernen will, weil er mir unmöglich erlauben kann zu einem fremden Mann zu ziehen."
Chishiya seufzte schwer.
"Ein Familientreffen also?"
"Ich fürchte ja."
"Dir ist schon bewusst, dass du die Einwilligung deiner Eltern nicht brauchst um mit mir zusammen zu ziehen."
"Ich weiß, aber irgendwie hätte ich gern ihren Segen. Ich hätte sonst ein schlechtes Gewissen, wenn ich das einfach hinter ihrem Rücken mache und sie dann vor vollendete Tatsachen stelle. So bin ich nicht."
"Also gut, wann soll ich bereit sein für das Familiendrama?"
"Nächsten Freitag um 18 Uhr, falls du es dir einrichten kannst. Ich weiß da ist deine praktische Prüfung, aber die wird ja nicht ewig andauern."
"Vermutlich nicht."
"Ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du das machst", sagte ich in flehendem Ton.
"Scheinbar habe ich sowieso keine andere Wahl."
"Ehrlichgesagt nein. Du bekommst mich nur zusammen mit meiner Familie. Das hast du nun davon."
"Ich hätte wirklich das Kleingedruckte lesen sollen...", sagte er mit einem übertriebenen Seufzer.
"Sag bloß das stand nirgends in deinem Beziehungsratgeber."
Chishiya schnaubte abfällig.
"Glaubst du wirklich sowas hätte ich nötig?"
"Offensichtlich schon", schmunzelte ich.
"Sei lieber froh, dass dir solche Treffen mit meiner Familie erspart bleiben."
Mein Lächeln erstarb bei seinen Worten. Stattdessen legte ich tröstlich meine Arme um seinen Nacken und drückte ihn fest an mich.
"Sag sowas nicht", sagte ich trübsinnig.
"Aber es ist doch die Wahrheit. Du wirst sie nie kennenlernen müssen. Das Glück hatte ich nicht."
Ich löste mich etwas von ihm, jedoch nur um ihn mitfühlend anzusehen. Chishiya starrte ausdruckslos zurück.
"Sind sie denn wirklich so schlimm?", fragte ich zögernd.
Entgegen meiner Erwartung setzte er ein sorgloses Lächeln auf.
"Sie sind sogar schlimmer. Aber, weißt du was? Es stört mich nicht im geringsten, weil sie mir ehrlichgesagt ziemlich egal sind. Ich komme gut ohne sie zurecht. Also hör bitte auf mich zu bemitleiden, Tsuki. Das ist das allerletzte, was ich will."
Ich nickte und presste dabei misstrauisch die Lippen fest aufeinander, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass es ihm tatsächlich so egal war, wie er gerade tat.
"Du weißt du kannst mit mir über alles reden", sagte ich schließlich leise.
"Okay, dann lass uns darüber reden wie weit du mit dem Packen vorangekommen bist."
Ich rollte mit den Augen.
"Meister der fliegenden Themenwechsel."
"Ich halte mich nur ungern mit dem emotionalen Ballast auf, der eh längst hinter mir liegt und rede dafür lieber über die relavanten Dinge, die noch vor mir liegen."
"Gut", sagte ich ergeben. "ich habe heute alle meine Mangas verstaut. Ich hoffe du hast genug Platz freigeräumt dafür."
"Keine Sorge. Der Keller ist groß genug. Tob dich ruhig aus."
Ich verzog trotzig den Mund.
"Du bist ein Kunstbanause."
"Du willst Mangas also wirklich als Kunst deklarieren?", grinste er belustigt.
"Treib es nicht zu weit. Sonst kannst du in Zukunft alleine hier wohnen."
"Es macht doch keinen Spaß, wenn ich dich nicht wenigstens ein bisschen ärgern darf."
Eingeschnappt verschränkte ich die Arme.
"Dann rechne aber damit, dass du das irgendwann zurückbekommst und zwar Doppelt."
"Das Risiko gehe ich gerne ein für ein winziges Schmollen von dir."
Ich schob fast reflexartig die Unterlippe vor. Chishiya zog mich zu sich und küsste meine zum Schmollmund verzogenen Lippen.
"Sag bloß du hast mich auch vermisst", fragte ich dann verschlagen.
"Deine Anwesenheit ist jedenfalls eine erfrischende Abwechslung von der ganzen medizinischen Fachterminologie."
"Ich deute das mal als ein Ja." Chishiya lächelte nur stumm ohne darauf zu Antworten. "Eigentlich bin ich auch gekommen, weil ich gehofft hatte, dass du was zu Essen da hast. Ich hab durch das ganze Kisten packen vergessen was Einzukaufen."
Ich sah schüchtern zu ihm auf und schlug unschuldig mit den Wimpern.
"Und ich dachte du wärst meinetwegen hergekommen."
"Das bin ich. Aber auch weil ich Hunger hab."
"Du erwartest doch hoffentlich nicht, dass ich dir etwas koche."
Etwas verlegen wandte ich den Blick ab und faltete die Hände in meinem Schoß zusammen, während Chishiya mir einen strengen Blick zuwarf. "Du dachtest das wirklich, was?"
"Also wir könnten ja auch zusammen was kochen", schlug ich versöhnlich vor. "Du wolltest doch schließlich Abwechslung."
Er seufzte ergeben und schob mich dann von seinem Schoß.
"Also schön. Lass uns was kochen. Ich kann das Zeug hier eh nicht mehr sehen."
Freitag, 17.51 Uhr:
Chishiya hielt mit dem Auto genau vor dem Haus meiner Eltern und parkte den Wagen dort ab. Er zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und sah mich dann geraume Zeit an. Ich schloss die Augen und holte tief Luft um mich zu beruhigen. Chishiya hingegen wirkte äußerlich relativ entspannt und wartete so lange bis ich mich gefasst hatte.
"Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte, bevor ich mit dir da reingehe? Irgendwelche hilfreichen Tipps?"
Ich sah ihn an und runzelte dabei die Stirn.
"Sei am besten einfach du selbst."
Er zuckte mit den Schultern.
"Okay, das krieg ich hin."
Er legte die Hand auf den Türöffner.
"Ach und...hör nicht auf das was mein Bruder sagt", sagte ich schnell. "Er erzählt manchmal seltsame Sachen über mich."
"Du meinst seltsamer als das, was ich schon weiß?"
Wir stiegen aus dem Wagen und mein Blick fiel sofort zum Küchenfenster, wo sich schnell ein Schatten hinter dem Vorhang bewegte. Ich brauchte kaum eine Sekunde um zu registrieren, dass es meine Mum war, die es offenbar nicht abwarten konnte zu sehen, wer mein neuer Freund war. Mein Blick verfinsterte sich schlagartig und ich schüttelte ungläubig den Kopf. Wir gingen zusammen zur Tür, doch statt zu klingeln, wartete ich noch einen Moment um mich zu sammeln. Ich blickte zu Chishiya neben mir, der mich erwartungsvoll musterte und dabei eine Augenbraue hochzog.
"Bereit?", fragte er mich.
"Ja, aber nimm wenigstens die Hände aus den Hosentaschen", sagte ich missbilligend. Er seufzte und verschränkte stattdessen seine Arme vor der Brust. "Das ist nicht wesentlich besser."
"Hast du nicht gerade gesagt ich soll ich selbst sein?"
"Schon, aber seh dabei wenigstens etwas freundlicher aus und nicht so als hätte man dich gezwungen."
"Aber ich wurde doch gezwungen", argumentierte er. "Und wohin soll ich denn sonst mit meinen Händen?"
Ich hielt ihm meine offene Hand hin.
"Hierhin."
Zu meiner Überraschung nahm er sie ohne zu widersprechen. Die andere Hand jedoch steckte er in die Hosentasche zurück, doch ich ließ das diesmal ausnahmsweise unkommentiert. Mit zittrigen Fingern drückte ich auf die Klingeltaste. Der Gedanke, dass Chishiya jeden Moment meine Familie kennenlernen würde, machte mich zu einem unruhigen Nervenbündel. Es war ein bedeutender Moment für mich, denn natürlich wollte ich um jeden Preis, dass sie Chishiya mochten. Meine Mutter war diesmal diejenige, die die Tür mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht öffnete. Ihr Blick wanderte von mir zu Chishiya und blieb auffällig lange an ihm hängen, während ihr Gesicht sich mit jeder Sekunde zunehmend aufhellte.
"Ihr seid auf die Minute pünktlich. Kommt doch rein, ihr zwei", forderte sie uns enthusiastisch auf und gestekulierte ausschweifend mit den Armen.
Ich drückte fest Chishiyas Hand und merkte wie er den Händedruck kurzzeitig erwiderte, was mich augenblicklich etwas beruhigte.
"Hi Mum", begrüßte ich sie. Wir zogen schnell unsere Schuhe aus und schlüpften in die Gästehausschuhe, die schon am Eingang für uns bereit standen. Erst dann verbeugte Chishiya sich vor meiner Mutter.
"Guten Abend, Izumi-sama. Ich bin Chishiya Shuntarō. Vielen Dank für die zuvorkommende Einladung", sagte er überhöflich. Ich war tatsächlich überrascht wie schnell er den Schalter umlegen konnte und genau das sagte, was Eltern generell von einem idealen Freund der Tochter erwarten würden.
Vielleicht hatte ich mir umsonst so viele Sorgen gemacht. Meine Mutter jedenfalls wirkte schon jetzt vollkommen entzückt und strahlte ihn noch immer mit Begeisterung an, während sie mich daneben fast komplett ignorierte.
"Nichts zu danken, mein Lieber. Es freut uns sehr Sie kennenzulernen, Chishiya-kun. Ich bin wirklich überrascht, dass meine Tochter es geschafft hat so einen gut aussehenden jungen Mann zu finden."
Etwas missmutig schob ich die Unterlippe vor. Das klang ja beinahe so, als wäre ich seiner nicht würdig. Chishiya lächelte nur besonnen und ich fragte mich, ob er gerade dasselbe dachte.
"Kann ich dir noch beim Vorbereiten helfen?", fragte ich dann an meine Mutter gewandt.
Sie winkte schnell ab.
"Ach was. Ich habe doch schon so gut wie alles fertig."
Sie wuselte zum Wohnzimmer und deutete dann zum Esstisch. "Setzt euch einfach hin. Nao-chan müsste eigentlich auch gleich runterkommen. Nur euer Vater schafft es nicht ganz pünktlich. Sie halten ihn wieder mal bei der Arbeit fest. Aber er meint es dauert nicht lang."
Ich seufzte.
"Ja, hätte mich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre."
Mum verschwand wieder in der Küche und holte noch ein Tablett mit diversen Schälchen. Diesmal hatte sie sich wirklich selbst übertroffen und von der Menge her hätte man vermuten können, dass sie noch drei weitere Leute zum Essen erwartete. Auf einmal hörte ich laute Schritte die Treppe hinunter poltern.
"Was hast du nur so lange getrieben, Naoki?", herrschte sie meinen Bruder an. "Ich hätte wirklich etwas Hilfe gebrauchen können."
"Sorry", nuschelte er. "Hab die Zeit vergessen."
Auch ich warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und verengte die Augen.
"Hast du wieder nur vor der Konsole gehockt?", fragte ich kopfschüttelnd.
"Was geht's dich an...", entgegnete er mit patzigem Unterton.
"Jetzt hört schon auf, ihr zwei. Heute dulde ich keine Streitereien", sagte Mum mit strenger Stimme.
"Duldest du doch nie."
"Stimmt allerdings", musste ich ihm Recht geben.
Erst dann schien Naoki Chishiya neben mir zu registrieren. Für einen Moment starrte er ihn nur ungläubig an. Chishiya hob kurz die Hand zur Begrüßung.
"Hey!"
"Oh hi", sagte mein Bruder mit verdutzter Miene. "Ich bin Naoki."
"Chishiya Shuntarō. Nenn mich wie du willst."
Naoki ließ seinen Blick fassungslos zwischen mir und Chishiya hin- und herschweifen.
"Okay, spuck's aus, wieviel hast du ihm bezahlt, damit er deinen Freund spielt?", fragte er dann an mich gerichtet. Ich versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, doch er grinste nur hämisch.
"Du vorlauter Bengel", blaffte ich ihn an. "Pass nur auf, wenn du mal eine Freundin hast. Ich werde es dir sowas von heimzahlen."
Doch Naoki grinste nur schadenfroh weiter und streckte mir dann frech die Zunge raus.
"Leere Drohungen", sagte er und ließ sich dann auf seinen Stammplatz an der Stirnseite fallen.
"Stimmt. Weil du sowieso nie eine kriegen wirst."
"Was hatte ich gerade übers Streiten gesagt?", warf Mum mit scharfer Stimme ein und sah uns mit ihrem berüchtigten Todesblick an, den sie immer aufsetzte kurz bevor sie einen Tobsuchtsanfall bekam. Nur dieser eine Blick reichte um uns beide kurzzeitig verstummen zu lassen.
"Wir wollen ja nur, dass Tsukis neuer Freund gleich weiß worauf er sich mit dieser Familie einlässt", verteidigte sich Naoki. Chishiya machte ein angestrengt nachdenkliches Gesicht und verschränkte dabei die Arme.
"Hmm, in meinem Vertrag stand jedenfalls nichts davon. Ich sollte wohl ein Bonushonorar für außergewöhnliche Belastungen verlangen", entgegnete er ohne dabei eine Minie zu verziehen. Ich warf ihm einen eisigen Blick zu.
"Sag mal geht's noch? Auf welcher Seite stehst du eigentlich?"
"Auf der finanziellen Seite natürlich."
Diesmal zuckten seine Mundwinkel vor stiller Belustigung.
Naoki gluckste.
"Ich mag ihn jetzt schon."
Bevor ich etwas schlagfertiges entgegnen konnte, wurde ich jedoch von einem Geräusch im Korridor abgelenkt. Kurz darauf betrat mein Vater den Raum. Augenblicklich verstummten wir alle.
"Guten Abend. Entschuldigt die Verspätung", murmelte er. Sein Blick fiel sofort auf Chishiya. Dieser verbeugte sich sofort vor meinem Vater und stellte sich noch einmal namentlich vor.
"Izumi Yuuto", entgegnete er mit einem flüchtigen Lächeln. "Freut mich."
"Es ist schwer Ihren Namen nicht zu kennen", sagte Chishiya. "Ihre letzte Reportage zu den neuen Erkenntnissen in der Neurochirurgie war wirklich anschaulich und gut recherchiert."
Ich starrte Chishiya verblüfft an. Er hatte mir nie erzählt, dass er sich Reportagen von meinem Vater ansah. Dieser hingegen sah relativ unbeeindruckt aus als hätte er damit gerechnet, dass er sowas sagte.
"Danke", sagte er mit einem knappen Nicken. Vermutlich glaubte mein Vater Chishiya würde sich bei ihm beliebt machen wollen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er die Reportage tatsächlich aus reinem Interesse an dem Thema angeschaut hatte, denn er war erfahrungsgemäß niemand der sich bei anderen Menschen einschleimte. Als der Blick meines Vaters an mir hängen blieb, erschien ein aufrichtiges Lächeln auf seinen Lippen.
"Hallo Suki! Hübsch siehst du aus."
Meine Wangen wurden ein wenig warm bei seinen Worten. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er sowas jemals zu mir gesagt hatte. Selbst mein Bruder traute sich in dem Moment nicht zu widersprechen, auch wenn er aussah, als müsste er sich ein Lachen verkneifen. Mein Vater nahm am Tisch Platz und erst dann taten alle andere es ihm nach. Chishiya setzte sich neben mich und ich berührte kurz zuversichtlich seine Hand unter dem Tisch.
"Das sieht wirklich gut aus, Mum, aber denkst du nicht, dass es etwas zuviel ist?", fragte ich skeptisch mit einem Blick auf das üppige Angebot an verschiedenem Essen.
"Den Rest müsst ihr eben mitnehmen", sagte sie entschieden.
"Schön, die nächsten Tage sind also gesichert."
Doch Mum sprang kurzerhand erneut vom Tisch auf.
"Ach, beinahe hätte ich es vergessen. Wir haben doch noch Sake zur Feier des Tages."
"Setz dich wieder, Nari. Ich hole ihn schon", sagte mein Vater bereitwillig und stand stattdessen auf, während meine Mutter sich zögerlich wieder auf ihren Platz fallen ließ. Nur wenige Sekunden später kam er mit einer Flasche und fünf Sake-Gläsern wieder zurück und befüllte jedes davon. Selbst Naoki durfte ausnahmsweise einen Schluck mittrinken, obwohl er laut japanischen Gesetz noch nicht gedurft hätte.
"Danke, aber für mich nicht", sagte Chishiya dann zu meiner Überraschung. "Ich muss immerhin fahren."
Mein Vater wirkte fast ein wenig enttäuscht.
"Aber bis dahin ist doch noch genug Zeit. Wir gehen ja nicht gleich nach dem Essen", sagte ich, um ihn doch noch umzustimmen.
Chishiya seufzte etwas.
"Okay, die Wahrheit ist...ich trinke keinen Alkohol."
Entgeistert sah ich ihn an.
"Du trinkst nicht? Warum wusste ich das nicht?"
Er schmunzelte etwas.
"Du hast mich nie gefragt."
"Jetzt wo du es sagst."
"Gibt es einen Grund, warum Sie nicht trinken?", fragte Dad stirnrunzelnd.
"Ganz abgesehen von dem gesundheitlichen Aspekt, mag ich es nicht, wenn mein Urteilsvermögen getrübt wird."
Er nickte anerkennend und ich war zugegeben etwas erleichtert darüber. Ich hatte schon Angst, dass er es als unhöflich ansehen würde, dass Chishiya den Alkohol ablehnte.
"Ist wohl eine gute Entscheidung. Können wir Ihnen etwas anderes anbieten? Grünen Tee vielleicht?", bot er an.
"Wasser reicht völlig. Danke."
Als jeder sein Getränk hatte, hob Mum ungeduldig ihr Glas in die Höhe um anzustoßen.
"Auf Tsuki und ihren Freund Chishiya", sagte sie und sah uns dabei strahlend an. "Kanpai!"
Ich grinste etwas verlegen, während wir unsere Gläser aneinander klirren ließen. Ich merkte, dass Chishiya sich relativ zurückhaltend verhielt, auch als meine Eltern das Abendessen offiziell einleiteten, sagte er nur das Nötigste. Entweder hatte er Angst etwas Falsches zu sagen oder er wusste schlichtergreifend nicht wie er sich in Gegenwart meiner Familie verhalten sollte. Schließlich hatte er nicht gerade viel Erfahrung mit Familienessen. Womöglich hätte ihm ein Glas Sake nicht geschadet, um ihn etwas aus der Reserve zu locken. Doch meine Mutter war ohnehin nur schwer auszubremsen in ihrem Übereifer und redete wie ein Wasserfall auf ihn ein.
"Tsuki sagte Sie studieren Medizin, um Arzt zu werden", sprach sie Chishiya während des Essens direkt an.
Er nickte knapp.
"Richtig. Allerdings war heute meine letzte Prüfung, also bin ich so gut wie fertig mit dem Studium."
"Was für eine Art Prüfung war es denn?"
"Es war der praktische Teil."
"Und wie lief es?"
"Ich habe bestanden. Die Ergebnisse der schriftlichen Prüfungen stehen jedoch noch aus."
"Aber auch die wirst du mit Bestnoten abschließen", sagte ich vollkommen überzeugt und sah ihn amüsiert von der Seite an.
"Im Teil Gesundheitsökonomie habe ich wohl ziemlich versagt. Das war mit Abstand auch das schlimmste Fach im Studium. Alles nur staubtrockene Theorie und teilweise wahnwitzige Utopie, die mit der Praxis nichts gemeinsam hat", sagte er verbittert.
"Da gebe ich Ihnen Recht", entgegnete mein Vater unvermittelt. "Inzwischen ist die Gesundheit der Menschen sowieso nur noch zu einem politischem Machtspiel verkommen. Letztendlich geht es nur ums Geld."
Chishiya lächelte matt.
"Genau aus diesem Grund finde ich die Ansätze dieser Theorien fragwürdig. Nichts davon lasst sich 1:1 umsetzen, weil so gut wie alle Menschen bestechlich sind. Das ist die Krux des Ganzes und deshalb halte ich das Fach an sich für komplette Zeitverschwendung."
"Ich mag diese Einstellung. Sie werden mit Sicherheit ein besserer Arzt als die anderen profitgierigen Schwachmaten, denen es nur darum geht wieviel am Ende dabei rumkommt. Aber mit gesunden Leuten kann man eben auch kein Geld verdienen. Das habe ich schon immer gesagt."
Meine Mutter, Naoki und ich waren ungewohnt still geworden und tauschten vielsagende Blicke miteinander, während Chishiya und mein Vater, die beiden Introvertiertesten am Tisch sich offenbar gerade auf einer höheren Ebene zu unterhalten schienen als wir mit unseren sonstigen profanen Gesprächen. Ich hätte es ehrlichgesagt kaum für möglich gehalten, dass mein Vater so gesprächig werden konnte. Für gewöhnlich war er nur der stille Zuhörer, doch womöglich lag es ja daran, dass ihm der Gesprächstoff meistens nur zu banal war.
"In welche Fachrichtung wollen Sie nach dem Studium gehen, Chishiya?", fragte mein Vater diesmal mit ehrlichem Interesse.
"Allgemein- und Viszeralchirurgie. Darin habe ich die meiste praktische Erfahrung und zudem werde ich dort auch am stärksten gefordert."
"Eine gute Entscheidung. In diesem Berufsfeld findet man auf jeden Fall immer einen Arbeitsplatz und lernt mit Sicherheit auch nie aus. Das einzige Manko sind die langen Arbeitszeiten. Nicht sehr familienfreundlich. Man lebt letztendlich nur für den Job."
Bei seinen Worten spürte ich einen schmerzhaften Stich im Herzen.
"Ja, ich weiß. Damit komme ich zurecht", sagte Chishiya unbekümmert.
Ich senkte trübsinnig den Blick. Es war wohl nicht unbedingt der beste Zeitpunkt ihm mitzuteilen, dass ich damit vermutlich nur schwer klar kommen würde, deshalb schwieg ich nur betreten.
"Wirst du das auch, Tsuki?", fragte Dad, als hätte er direkt in meine Gedanken gesehen.
Ich hob erstaunt den Kopf und setzte dann ein unbeschwertes Lächeln auf.
"Sicher."
"Nun, ich will ehrlich sein", begann Chishiya plötzlich. "für Tsuki wird es wohl deutlich schwerer als für mich. Aber sie ist sehr zäh und hat ein beeindruckendes Durchhaltevermögen. Deshalb mache ich mir deswegen auch keine großen Sorgen."
Sein Blick taxierte mich mit einem anerkennenden Lächeln. Ich sah ihn fasziniert an und kicherte geschmeichelt.
Mein Vater sah etwas skeptisch zwischen uns hin und her.
"Ich hoffe Sie haben Recht, Chishiya. Haben Sie denn schon einen Job in Aussicht?", fragte er und nahm einen Schluck von seinem Sake.
Chishiya nickte.
"Das Tokyo University Hospital wird mich als Assistenzarzt übernehmen, sobald die Prüfungsergebnisse vorliegen und sie deren Anforderungen entsprechen."
Diesmal sah mein Vater tatsächlich beeindruckt aus.
"Die Klinik hat einen sehr guten Ruf. Ich hoffe nur das Beste."
"Danke."
"Da braucht ihr beide euch ja finanziell gar keine Sorgen machen, besonders wenn Tsuki ihr Studium auch endlich beendet hat", gluckste meine Mutter überschwänglich.
"Ich habe allerdings noch zwei Semester vor mir", erinnerte ich sie verbittert. "Von den Examen mal ganz zu schweigen..."
"Das schaffst du ganz sicher, meine Kleine", sagte Dad zuversichtlich.
"Wenn Nao-chan sich mal so ins Zeug legen würde. Nimm dir mal ein Beispiel an deiner Schwester und ihrem Freund", sagte Mum forsch.
Naoki sah mit düsteren Blick zu uns auf.
"Ja, genau. Nimm dir mal ein Beispiel an uns", zog ich ihn amüsiert auf.
"Ach, halt doch den Mund", murmelte er verdrießlich. "Sonst erzähle ich deinem Freund ein paar interessante Geschichten über dich."
"Untersteh dich, du kleine Mistlarve!", drohte ich.
Er lachte frech.
"Also ich wäre an einigen dieser Geschichten sehr interessiert", sagte Chishiya plötzlich. Ich funkelte ihn verärgert an.
"Nein, bist du nicht."
Naoki kicherte.
"Okay, also sie stand damals in der Oberstufe total auf diesen Yamazaki. Er war bei allen sehr beliebt, gut aussehend, super sportlich und immer Jahrgangsbester. Einmal hatte er ein wichtiges Fußballspiel und Tsuki wollte natürlich ganz weit vorne sitzen, um ihm hinterherschmachten zu können."
"Bitte nicht, Naoki!" ,versuchte ich ihn abzuhalten, weil ich genau wusste, was er im Begriff war zu erzählen. Doch natürlich ließ er sich von meinem Flehen überhaupt nicht beeindrucken.
"Sie hat sich dann mühevoll einen Platz in der ersten Reihe ergattert. In der zweiten Halbzeit hat jedoch einer der Spieler den Ball dann direkt in ihre Richtung gekickt und hat genau ihren Kopf getroffen. Seitdem hatte sie in der Schule den Spitznamen Stahlschädel. Selbst ihr Schwarm hat darüber gelacht."
Naoki prustete bei der Erinnerung vor Lachen in seinen Sake. Mit schroffer Miene sah ich zu ihm hinüber. Dann sah ich zu Chishiya, der mich ebenfalls belustigt von der Seite angrinste.
"Das erklärt auf jeden Fall so einiges."
"Das ist nicht lustig. Ich hatte danach eine Gehirnerschütterung", sagte ich mit vorgeschobener Unterlippe. "Und woher kennst du diese Geschichte eigentlich? Ich hab dir das nie erzählt", wollte ich jetzt von Naoki wissen. Der zuckte nur die Schultern.
"Hat dein Ex mir mal erzählt. Und der hat's glaube ich von Ren."
"Natürlich. Dieser Vollidiot..."
"Ich hätte es wohl nicht anders gemacht", sagte Chishiya gleichmütig.
"Gut zu wissen", knurrte ich missmutig.
Nach dem Essen holte Naoki ein paar Spiele hervor, um den angebrochenen Abend in geselliger Runde ausklingen zu lassen. Allerdings verlegten wir diese ins angrenzende Tatami-Zimmer, wo wir unsere Plätze auf den Bodenkissen einnahmen. Wir einigten uns schnell auf Jenga - ein Spiel, in dem mein Vater sonst, geduldig wie er war, stets die Oberhand hatte. Heute jedoch war es Chishiya, der ihm den Rang streitig machte. Seine Hände waren ruhig und fokussiert und zitterten keinen einzigen Moment auch nur ansatzweise, selbst als der Turm in der Mitte des Tisches nur noch ein labiles Konstrukt war.
"Wahnsinn. Wie machst du das nur?", stöhnte ich, als ich an der Reihe war. Der Turm machte den Anschein als könnte ihn bereits ein winziger Luftzug zum Einsturz bringen. Chishiya zuckte mit den Schultern.
"Die Hände eines Chirurgen sind schwer zu schlagen", entgegnete er und beobachtete mich dabei wie ich vorsichtig versuchte einen Baustein herauszuklopfen. "Vielleicht würde es aber auch schon helfen, wenn du weniger trinken würdest", sagte er mit einem skeptischen Blick auf das Glas Sake vor mir. Ich sah ihn strafend an.
"So viel hatte ich noch gar nicht", zeterte ich. Im gleichen Moment fiel der Turm rasselnd in sich zusammen.
Chishiya grinste mich schadenfroh an.
"Was machen Ihre Eltern eigentlich beruflich?", warf mein Vater irgendwann belanglos in die Runde als die Flasche Sake sich langsam dem Ende neigte und Chishiya noch der einzige vollkommen Nüchterne am Tisch war.
Trotz meines alkoholisierten Zustandes war ich für einen Moment wie versteinert und drehte meinen Kopf dann langsam zu Chishiya neben mir, dessen Miene jedoch noch immer völlig entspannt wirkte.
"Mein Vater leitet eine Klinik für plastische Chirurgie und meine Mutter ist Dermatologin."
Er nickte erstaunt.
"Also haben Sie Medizin studiert, weil Ihre Eltern beide Ärzte sind?", vermutete er.
"Nein, das war nicht der Grund", entgegnete Chishiya lediglich. Ich biss mir fest auf die Unterlippe. Kein gutes Thema. Offensichtlich bemerkte mein Vater, den diskreten Stimmungsumschwung und hakte glücklicherweise nicht weiter nach.
"Aber vielleicht können wir ja bald mal ein Treffen mit Ihrer Familie arrangieren. Wenn ihr vorhabt zusammenzuziehen, dann sollten wir sie schließlich auch kennenlernen oder nicht?"
Ich ließ meinen Blick unheilvoll zu Chishiya wandern, der erstaunlicherweise bei seiner Frage lächelte.
"Das halte ich für keine sonderlich gute Idee", sagte er mit unbeschwerter Miene. "Ich habe schon lange keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern und das soll auch in Zukunft so bleiben."
Diesmal breitete sich ein langes unangenehmes Schweigen am Tisch aus. Schnell exte ich den letzten Schluck in meinem Glas.
"Nachschub bitte", warf ich ein um die peinliche Stille zu durchbrechen und schob meinem Vater das leeres Glas hin. Etwas irritiert griff er nach der Flasche und schenkte mir nach. Chishiya unterdessen musterte mich argwöhnisch.
"Hältst du das für vernünftig, Tsuki? Du weißt wie wenig du verträgst", gab er zu Bedenken und nahm mir das neu aufgefüllte Glas vorsichtig aus der Hand. Meine Lippen verzogen sich zu einem trotzigen Schmollmund, weil ich ganz genau wusste auf welches Ereignis er damit anspielte. Allerdings musste ich durchaus zugeben, dass er Recht hatte. Tatsächlich hatte ich auch nur ein weiteres Glas nehmen wollen, um das Thema von Chishiyas Eltern auf etwas banaleres zu lenken.
"Willst du es mir verbieten?", fragte ich angriffslustig.
"Nein. Ich will nur, dass du dich nicht gedankenlos betrinkst, sonst bin ich derjenige, der das ausbaden muss."
"Ich denke sehr intensiv nach, während ich es trinke. Versprochen." Chishiya seufzte und gab es mir widerwillig zurück. "Aber wenn es dich so sehr stört, könntest du es ja stattdessen für mich austrinken", fügte ich mit einem verschlagenen Grinsen hinzu. Je länger ich darüber nachdachte, desto verlockender wurde der Gedanke Chishiya wenigstens einmal unter Alkoholeinfluss zu erleben. Da ich inzwischen selbst relativ gut angeheitert war, schob ich ihm das Glas herausfordernd wieder hinüber. "Komm schon. Nur ein Glas. Das bringt dich nicht um."
Chishiya legte den Kopf zur Seite und sah mich zweifelnd an als schien er sich zu fragen, was ich damit bezwecken wollte.
"Angenommen ich würde es tun. Wer fährt denn dann zurück? Du etwa?"
"Also was das betrifft", mischte meine Mum sich plötzlich in das Gespräch. "ihr zwei könnt gern bei uns im Gästezimmer übernachten. Sie können also ruhig etwas trinken, Chishiya."
Ich lachte diabolisch.
"Ja, Chishi. Lass uns bleiben. Dann hast du keine Ausrede mehr."
Chishiya schüttelte fassungslos den Kopf.
"Ich weiß, was du vorhast, Tsuki, aber ich kann dir eins verraten, nur damit du im Nachhinein nicht zu enttäuscht bist. Ich vertrage Alkohol wesentlich besser als du."
"Nicht reden. Trinken!", forderte ich ihn unbarmherzig auf. Mein Ton duldete keine Widerrede.
Chishiya seufzte erneut, griff jedoch nach dem vollen Glas Sake, das ich ihm zuvor hingeschoben hatte.
"Suki, nun lass ihn doch", sagte mein Vater ruhig. "Du kannst ihn nicht zwingen."
"Ich mache es", entgegnete Chishiya mit belustigter Miene. "Aber nur um Tsuki zu beweisen, dass ihr Plan mich betrunken zu machen, scheitern wird."
"Das werden wir ja noch sehen", sagte ich mit einem selbstgefälligem Gesichtsausdruck, als er das Glas an die Lippen setzte und es in einem Zug leerte. Er verzog nichtmal eine Millisekunde das Gesicht. Etwas beeindruckt hob ich die Augenbrauen.
"Gut, aber schaffst du auch zwei?", fragte ich herausfordernd.
Mein Vater war bereits aufgestanden und hatte eine neue Flasche Sake geöffnet, bevor Chishiya überhaupt hätte widersprechen können.
Dieser jedoch hielt kommentarlos das Glas hin und ließ sich von meinem Vater nachschenken, der scheinbar froh war, dass er sich doch noch umentschieden hatte. Mein Vater war dafür bekannt ziemlich trinkfest zu sein. Mit meinem Ex-Freund hatte er manchmal regelrechte Trinkgelage veranstaltet. Allerdings vertrug dieser kaum viel mehr als ich. Er hatte sich daher immerzu beschwert, dass es keinen Spaß machte mit ihm zu trinken, weil er meistens schon nach wenigen Gläsern komplett hinüber war. Daher hoffte ich auch, dass es stimmte, was Chishiya von sich behauptet hatte.
Ungläubig beobachtete ich ihn dabei wie er zusammen mit meinem Vater innerhalb kürzester Zeit die zweite Flasche leerte, während ich schon längst wieder nüchtern war. Als Vater die dritte Flasche öffnete, begannen er und Chishiya ausführlich diverse politischen Themen miteinander auszudiskutieren, von denen ich weniger als die Hälfte verstand. Nach weiteren zwei Gläsern fiel mir auf, dass Chishiyas Augen ungewöhnlich glasig wurden, aber abgesehen davon wirkte er vollkommen unverändert. Selbst seiner Stimme merkte man die Trunkenheit kaum an.
Ich bemerkte dabei auch zum ersten Mal, dass mein Vater und Chishiya charakterlich einige Gemeinsamkeiten aufwiesen. In ihrer angeregten Diskussion schienen sie jedenfalls komplett auf einer Wellenlänge zu sein, aber womöglich lag das nur am Alkohol.
Irgendwann griff ich wieder nach den Holzbauklötzen und baute den Turm erneut auf dem Tisch auf.
"Dann wollen wir mal testen, ob deine Hände immernoch so ruhig sind", sagte ich an Chishiya gewandt.
Wir spielten eine weitere Runde, doch selbst im angetrunkenen Zustand, war seine Geschicklichkeit immer noch wesentlich besser ausgeprägt als meine im Nüchternen. Hätte ich nicht mit eigenen Augen gesehen, dass er schon mehrere Gläser vom Sake getrunken hatte, hätte ich nicht geglaubt, dass er überhaupt Alkohol konsumiert hatte.
Chishiya schmunzelte als er meine enttäuschte Miene sah.
"Hab ich dir zuviel versprochen?"
"Du bist langweilig. So macht das keinen Spaß", sagte ich trotzig und brachte den Turm absichtlich zum Einsturz.
"Hast du gedacht ich würde so schnell die Kontrolle verlieren?"
"Zumindest hatte ich gedacht, dass irgendwas anders wäre."
"Willst du noch was, Chishiya?", fragte Dad, während er auf sein leeres Glas deutete. Ich frage mich, ob er den Wechsel zur persönlichen Anrede überhaupt bemerkt hatte. Bevor Chishiya Einwände äußern konnte, hatte er das Glas bis zum Rand aufgefüllt.
Ich rollte mit den Augen. Wenn er so weiter machte, trieb er ihn noch in die Alkohol-Sucht. Inzwischen fand ich die Idee Chishiya betrunken zu machen längst nicht mehr so gut, wie am Anfang. So langsam merkte man auch wie seine Stimme schwerfälliger wurde. Trotzdem war er nach kurzer Zeit mit meinem Vater wieder in einer Diskussion über passive Sterbehilfe vertieft. Ab und an warf ich auch einen Kommentar zu dem Thema ein, doch meine Augenlider wurden zunehmend schwerer je länger ich ihnen zuhörte. Ich lehnte meinen Kopf mit geschlossenen Augen gegen Chishiyas Schulter und umklammerte dabei fest seinen Arm.
"Chishi?", murmelte ich drängend und zog mit letzter Kraft an seinem Ärmel.
"Mhm?"
"Bett", nuschelte ich gegen seine Schulter.
"Gleich", gab er nur knapp zurück und setzte das Gespräch mit meinem Vater fort, ohne mich zu beachten. Vor ihm stand noch ein halbvolles Glas Sake. Ohne großartig nachzudenken, griff ich danach und trank es aus. Die beiden Männer verstummten daraufhin und sahen mich erstaunt an.
"Es ist schon spät und ich will schlafen", sagte ich vorwurfsvoll und zerrte erneut eindringlich an Chishiyas Jackenärmel.
"Suki hat Recht. Wir sollten für heute lieber aufhören", sagte mein Vater einsichtig und trank den Rest seines Glases in einem Zug leer.
Chishiya nickte nur, als ich mich vom Boden aufrappelte.
"Chishi?", fragte ich besorgt, weil dieser sich nicht von der Stelle rührte. Erst auf meine Worte hin, zog er sich schwerfällig vom Boden hoch und geriet dabei etwas ins Schwanken. Schnell legte ich meine Arme um ihn, um ihn abzustützen. Seufzend wandte ich mich zu meinen Eltern um.
"Wir gehen jetzt nach oben. Ich weiß ja, wo alles ist. Gute Nacht", verabschiedete ich mich.
"Gute Nacht und vielen Dank für die Gastfreundschaft", sagte Chishiya mit stoischer Miene.
"Du siehst sie doch morgen nochmal wieder", wisperte ich ihm zu.
"Achso", sagte er. "Dann bis morgen."
"Schlaft gut, ihr zwei", entgegnete Mum belustigt und winkte uns zum Abschied zu.
Chishiya unterdessen klammerte sich fast schon schmerzhaft an meinem Arm fest. Mein Bruder folgte uns in die obere Etage, auf der sein Zimmer sowie das angrenzende Gästezimmer lag, das früher mal mein Zimmer gewesen war.
"Ich glaube ich habe es doch geschafft dich betrunken zu machen, was?", kicherte ich leise zu Chishiya, als meine Eltern außer Hörweite waren.
"Hab's vielleicht etwas übertrieben", gestand er mit immer noch überraschend nüchterner Stimme. "Aber ich bin noch vollkommen zurechnungsfähig."
Wie um mir seine Worte zu beweisen, machte er sich von mir los und zog sich dann träge am Geländer die Stufen nach oben, während ich ihn amüsiert dabei beobachtete. Es war unübersehbar, dass er inzwischen erhebliche Koordinationsschwierigkeiten hatte, doch viel komischer war es, wie er immer noch mühevoll versuchte sich nichts davon anmerken zu lassen. Tatsächlich schaffte er den Weg ohne weitere Komplikationen, brauchte dafür allerdings fast doppelt so lange wie Naoki und ich.
"Wie es aussieht, dauert das hier noch eine Weile. Ich geh dann schonmal schlafen", grinste Naoki, als er ihn dabei beobachtete, wie er sich haltesuchend am Geländer festkrallte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. "Ich hoffe ihr fallt die Nacht nicht übereinander her. Du weißt wie dünn die Wände sind. Also bitte kein Gestöhne, sonst bin ich anschließend traumatisiert."
Ich warf ihm einen bedrohlichen Blick zu.
"Sehr witzig."
"Wobei...sieht im Moment eh nicht so aus, als wäre dein Freund noch zu irgendeiner körperlichen Aktivität im Stande", gluckste er.
"Hau endlich ab, du elende Nervensäge!", zischte ich ungehalten. Mit belustiger Miene lief Naoki zu seinem Zimmer und winkte mir dann noch provokant zu.
"Nacht, Schwesterherz."
"Du mich auch, Dumpfbacke."
"Ich bin gerührt von eurer Geschwisterliebe", sagte Chishiya unverhohlen als er endlich neben mir war und sich erschöpft gegen die Wand im Korridor sinken ließ. "Aber er hat Recht, was den Sex angeht."
Ich rollte mit den Augen.
"Selbst, wenn du noch nüchtern wärst, würde ich garantiert keinen Sex in meinem Elternhaus haben, während nebenan mein Bruder schläft", entgegnete ich mit gesenkter Stimme.
"Wieso nicht?", fragte er schulterzuckend.
Ich schüttelte ungläubig den Kopf ohne zu Antworten und griff nach seinem Arm, um ihn ins Gästezimmer zu ziehen. Da es von meinen Eltern hauptsächlich als Arbeitszimmer genutzt wurde, gab es dort lediglich zwei platzsparende Futonmatten, die hin und wieder für Übernachtungsgäste genutzt wurden. Ich rollte sie auf dem Boden aus und zog dann die Bettwäsche für uns auf. Kaum hatte ich jedoch die erste Futonmatte auf dem Boden ausgebreitet, ließ Chishiya sich rücklings darauf fallen.
"Hey, ich bin noch nicht fertig", knurrte ich missmutig.
"Ich find's perfekt", sagte er mit geschlossenen Augen ohne sich einen Millimeter wegzubewegen.
"Das sagst du nur, weil du betrunken bist."
"Du wolltest doch, dass ich was trinke, also musst du jetzt mit den Konsequenzen leben."
"Du könntest aber wenigstens warten bis ich das Kissen fertig bezogen habe. Hier", sagte ich und warf ihm das besagte Kissen zu.
Chishiya fing es auf und umarmte es mit einem Lächeln.
"Dankeschön, liebste Tsuki."
Ich schüttelte amüsiert den Kopf und kümmerte mich dann um die restliche Bettwäsche, während Chishiya sein Kissen weiterhin fest im Klammergriff hatte. In der Kommode nebenan suchte ich nach ein paar Schlafsachen, die ich dort immer für etwaige Übernachtungsbesuche deponiert hatte. Ich fand eine gepunktete Pyjamahose und ein hellblaues Schlafshirt. Zudem fiel mir nicht zum ersten Mal ein altes The Walking Dead-T-Shirt von meinem Ex-Freund in die Hände, das ich eigentlich schon längst hatte entsorgen wollen. Ich seufzte ein Wenig, nahm es heraus und warf es Chishiya zu.
"Hier, das kannst du zum Schlafen anziehen", sagte ich, während ich mich umzog.
Der Angesprochene hob etwas erstaunt den Kopf.
"Ist das von deinem Ex?", fragte er als er es näher begutachtete. "Dem Zombie-Fan?"
Ich war tatsächlich etwas überrascht, dass er sich noch so genau daran erinnern konnte.
"Ja, ich hab ihm das mal zum Geburtstag geschenkt. Es sollte dir passen." Chishiya gluckste leise, rührte sich aber nicht von der Stelle. "Was ist denn so lustig?", fragte ich stirnrunzelnd und setzte mich im Schneidersitz neben ihn als ich fertig mit Umziehen war.
"Ich habe mich gerade gefragt was wahrscheinlicher ist: eine Alien-Invasion oder eine Zombie-Apokalypse? Und was davon wohl bedrohlicher für die Menschheit wäre?"
"Also das sind die essenziellen Dinge, die dir durch den Kopf gehen, wenn du getrunken hast, ja?", fragte ich stirnrunzelnd.
"Ich glaube ich fände Aliens in jedem Fall interessanter. Sie wären technisch bestimmt erheblich weiter entwickelt als wir, sodass wir einiges von ihnen lernen könnten. Von Zombies hingegen kann man das nicht erwarten. Ich habe nie verstanden, was Leute so faszinierend an willenlosen hirnfressenden Monstern finden."
Ich lächelte müde.
"Okay, ich auch nicht, aber das T-Shirt wirst du doch trotzdem anziehen können, oder?", sagte ich bestimmt und legte es auf seiner Brust ab. Er seufzte leise und versuchte angestrengt seinen Oberkörper aufzurichten, um sich kraftlos aus seinem Cardigan zu schälen, bevor er versuchte sich seines T-Shirts zu entledigen. Als ich merkte, dass er damit Schwierigkeiten hatte, half ich dabei es ihm über den Kopf zu ziehen. Mir entfuhr ein kurzer Aufschrei als er unerwartet seine Arme um mich legte und er sich mit mir zusammen wieder nach hinten auf den Rücken fallen ließ. Bevor ich protestieren konnte, hatte er mich in einen innigen Kuss gezogen, den ich jedoch recht schnell mit einem Naserümpfen wieder löste.
"Du schmeckts nach Alkohol...und stinken tust du auch danach", beschwerte ich mich, blieb jedoch auf ihm liegen und musterte ihn eingehend. Seine sonst so glatten Haare waren inzwischen völlig zerwühlt und standen in verschiedenste Richtungen ab, während seine Augenränder inzwischen deutlich gerötet waren. Ich schmunzelte bei dem Anblick. Selbst in seinem verwahrlosten Zustand schaffte er es trotzdem noch süß dabei auszusehen.
"Ich erinnere dich nochmal daran, dass du diejenige warst, die wollte, dass ich mich betrinke."
Grinsend strich ich ein paar verirrte Haarsträhnen aus seinem Gesicht.
"Das war nur ein kleines Experiment."
"Und würdest du sagen, dass es gelungen ist?"
"Hmm...es war auf jeden Fall sehr aufschlussreich", sagte ich langsam und stand wieder auf, um nach dem Schlafshirt zu greifen, bei dem ich ihm erneut helfen musste es über zu ziehen. Inzwischen schaffte er es kaum noch sich alleine hochzuziehen und blieb stattdessen unbeweglich wie ein Stein auf der Matratze liegen. Ich öffnete seine Hose und streifte sie von seinen Beinen, während Chishiyas Atem zunehmend tiefer wurde.
"Danke", nuschelte er und lächelte selig dabei. Ich griff nach seiner Decke und legte sie wieder über seinen Körper.
"Jetzt versuche zu schlafen", sagte ich streng und löschte dann das Licht, um mich ebenfalls hinzulegen. Eine Zeit lang war es in dem Raum vollkommen still, sodass ich mir sicher war er wäre bereits eingeschlafen.
"Mir ist schlecht", murmelte er schließlich wehleidig.
"Das wundert mich nicht. Willst du jetzt etwa Mitleid von mir?"
"Nein, aber ein Eimer wäre gut."
Ich stöhnte schwer und erhob mich wieder um einen Eimer aus dem Badezimmer zu holen, den ich neben ihm abstellte. Außerdem hatte ich ihm eine Flasche Wasser mitgebracht.
"Hier, trink viel. Das wird helfen."
Er nickte nur und griff dankbar nach der Flasche um sie an seine Lippen zu setzen. Danach ließ er sich wieder in die Matratze sinken. Ich knipste erneut das Licht aus.
"Tsuki?", durchbrach seine Stimme jedoch irgendwann erneut meine Gedanken als mein Bewusstsein schon beinahe weggedriftet wäre.
"Mhhm...", entgegnete ich schwach.
"Denkst du deine Eltern sind mit mir als dein Freund einverstanden?"
"Ich hoffe es. Aber selbst wenn nicht, ändert das nichts an meiner Entscheidung mit dir zusammen zu ziehen."
"Du hast wirklich unheimliches Glück, weißt du", sagte er leise.
"Weil ich dich als Freund habe?", fragte ich belustigt.
"Auch, aber ich rede eher von deiner Familie. Sie wollen nur das Beste für dich. Du kannst dich glücklich schätzen Eltern zu haben, die sich so um dich sorgen."
Für einen Moment wusste ich nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ich wusste zwar, dass Chishiya mit seinen Eltern auf Kriegsfuß stand, aber den wahren Grund dafür hatte er mir nie offenbart und ich hatte ihn bisher auch nicht dazu drängen wollen mir davon zu erzählen.
Meine Hand tastete sich in der Dunkelheit vor und strich dann vorsichtig über seinen Kopf.
"Ob blutsverwandt oder nicht. Wichtig ist doch, dass man überhaupt Menschen im Leben hat, die einen so lieben wie man ist. Du bist nicht alleine, Chishiya. Du hast Freunde. Du hast mich. Und jetzt hast du auch meine Familie, die ich gern mit dir teile", sagte ich mit sanfter Stimme.
Etwas erschrocken fuhr ich zusammen als Chishiya sich plötzlich ohne Vorwarnung an mich presste und seinen Kopf in meiner Halsbeuge vergrub.
"Ich liebe dich, Tsuki", raunte er etwas undeutlich gegen meinen Hals. Ich kicherte etwas.
"Das sagst du jetzt nur, weil du betrunken bist."
"Ich sag es, weil ich es so meine", antwortete er beharrlich.
"Okay, Chishi", hauchte ich. "Aber lass uns jetzt endlich schlafen, okay?"
Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, breitete sich unwillkürlich ein Lächeln auf meinen Lippen aus als ich in Chishiyas schlafendes Gesicht blickte. Normalerweise war er immer vor mir wach, doch nach gestern, war es nur wenig verwunderlich, dass er viel Schlaf benötigte, um sich wieder zu regenerieren. Immerhin schien er sich nicht übergeben zu haben, was überraschend war nach seiner konsumierten Alkoholmenge am Vorabend.
Ich richtete mich ein wenig auf und hauchte einen kleinen Kuss auf seine Wange. Doch nicht einmal das schien ihn aus seinem tiefen Schlummer zu reißen. Vorsichtig schlug ich die Decke zurück und stand leise auf, darauf bedacht ihn nicht zu wecken. Ich suchte zuerst das Badezimmer auf, bevor ich beschloss hinunter in die Küche zu gehen. Wie erwartet, war meine Mutter bereits damit beschäftigt das Frühstück vorzubereiten.
"Guten Morgen, Tsuki. Wo hast du denn deinen Freund gelassen?", begrüßte sie mich und sah sich suchend um als hoffte sie er würde jeden Moment hinter mir auftauchen.
"Morgen, Mum. Er schläft noch. Ich wollte ihn noch nicht wecken."
Sie nickte verstehend.
"Er hat euren Vater gestern beinahe unter den Tisch getrunken."
Ich lachte.
"Kann man wohl so sagen."
"Nao-chan schläft auch noch", seufzte sie.
"Okay, das ist ja nun wirklich nichts neues. Und wo ist Dad?"
"In der Garage. Bastelt wieder an irgendwas herum. Du kennst ihn ja."
"Okay, dann helfe ich dir beim Frühstück."
"Fein, wenn du bald mit dem attraktiven Doktor zusammenziehst, dann musst du ohnehin lernen gut für ihn zu sorgen. Er bringt den Großteil des Geldes ins Haus, somit ist es fortan deine Aufgabe dich um sein körperliches Wohlergehen zu kümmern, hörst du?"
Ich konnte ein genervtes Augenrollen nicht unterdrücken.
"Sicher, Mum. Er wird schon nicht verhungern", murrte ich und ging zum Kühlschrank, um ein paar Zutaten für ein Reisomlett herauszusuchen.
"Er ist ein guter Fang. Das solltest du nicht ruinieren, indem du dich gehen lässt. Ich weiß zwar nicht wie du es geschafft hast ihn von dir zu überzeugen, aber er scheint es offensichtlich ernst mit dir zu meinen."
"Wie meinst du das wie ich das geschafft habe?", fragte ich stutzig und starrte sie perplex an.
"Nun, er ist immerhin Arzt", sagte sie als würde das irgendetwas erklären.
"Er mag mich, weil ich einen starken Willen habe und nie aufgebe", sagte ich vollkommen überzeugt, während ich ein Ei in eine Schüssel schlug. Meine Mum warf mir einen skeptischen Blick zu. "Das hat er jedenfalls gesagt", fügte ich nuschelnd hinzu.
Ich schnitt die Zwiebeln klein und briet sie zusammen mit dem Hähnchen und Gemüse in der Pfanne an. Sofort breitete sich ein angenehmer Geruch in der Küche aus, der mich augenblicklich hungrig machte. Mum war währenddessen damit beschäftigt den Esstisch im angrenzenden Wohnzimmer einzudecken.
"Mhm, das riecht wirklich lecker."
Ich drehte mich um und sah meinen Vater plötzlich in der Küche stehen. "Du kochst?", fragte er überrascht und kam zu mir um einen neugierigen Blick in die Pfanne zu werfen.
"Ja, Mum meint ich soll es lernen, damit ich eine gute Hausfrau werde", sagte ich und zog dabei eine Schnute.
Er lachte.
"Das klingt ganz nach ihr."
"Sie macht sich wohl Sorgen, dass Chishiya mich wieder verlassen könnte, wenn ich mich nicht genug ins Zeug lege", sagte ich mit gesenkten Blick.
"Ach Unsinn. Der Junge liebt dich. Lass dir nichts anderes einreden."
Ein erleichtertes Lächeln trat auf meine Lippen.
"Dann bist du einverstanden, dass wir zusammen ziehen?", fragte ich mit hoffnungsvoller Miene.
Er kratzte sich etwas nachdenklich am Kopf.
"Nun, ich finde es immernoch sehr überstürzt, aber er scheint ein vernünftiger Bursche mit viel Grips zu sein. Und so lange er dich glücklich macht, stehe ich dem nicht im Weg."
Ich stieß einen Jubelschrei aus.
"Danke, Dad!" Übermütig fiel ich ihm in die Arme. "Das bedeutet mir wirklich viel."
Er lachte leise und klopfte ein paar Mal beruhigend auf meine Schulter.
"Hauptsache er macht dich glücklich, meine Kleine."
"Das tut er."
"Übrigens ich glaube da brennt gerade etwas an", sagte er und deutete auf den Herd. Panisch fuhr ich herum und nahm die Pfanne von der Herdplatte.
"Verdammt!", fluchte ich und betrachtete skeptisch das etwas zu dunkel gewordene Fleisch. Es war zwar noch nicht komplett verkohlt, aber gerade noch an der Grenze zu genießbar.
Meine Mutter schüttelte fassungslos den Kopf als sie sah, was ich fabriziert hatte und rügte mich für meine Unachtsamkeit. Da ich es nicht wegwerfen wollte, sortierte ich die ungenießbare Hälfte aus und bereite mit dem Rest immerhin zwei kleinere Reisomletts zu.
"Es gibt gleich Frühstück. Frag den Doktor, ob er mitessen will", sagte Mum als der Tisch fertig gedeckt war und Naoki bereits im Pyjama im Wohnzimmer aufgetaucht war.
Ich nickte und nahm die Treppe wieder nach oben. Leise drückte ich die Klinke herunter und schloss die Tür vorsichtig hinter mir. Ich warf einen Blick auf die Futonmatte und sah, dass Chishiya noch immer dort unter der Decke vergraben war, allerdings hob er schwerfällig den Kopf als er mich reinkommen hörte. Ich kniete mich dicht neben ihn auf die Matte.
"Guten Morgen, Chishi. Hast du gut geschlafen?", fragte ich mit deutlich amüsiertem Unterton.
Er blickte mit regloser Miene zu mir auf.
"Sehe ich so aus als ob?", fragte er tonlos.
Ich sah ihn mitfühlend an.
"Nicht wirklich. Wie geht's dir denn?"
"Prima, ich weiß jetzt endlich wieder, warum ich keinen Alkohol trinke", entgegnete er bitter und massierte mit schmerzverzerrter Miene seine Stirn. Vorrausschauend wie ich war, hatte ich bereits vorgesorgt und ein paar Ibuprofen sowie etwas Pfefferminzbalsam aus dem Medizinschrank geholt. Ich zog das Blister hervor und drückte eine Tablette heraus. Dankbar nahm er sie an und nahm sie zusammen mit dem restlichen Wasser ein. Dann öffnete ich das Döschen mit dem Balsam und verrieb ein wenig davon auf seiner Stirn.
Chishiya lächelte währenddessen nur stumm in sich hinein.
"Erinnerst du dich eigentlich noch an alles?", fragte ich dann neugierig.
"Sicher", behauptet er.
Ich gluckste leise, weil ich daran denken musste, wie ungewohnt anhänglich er gestern gewesen war.
"Kommst du mit runter zum Frühstück?", fragte ich dann sanft. "Meine Eltern warten extra auf dich."
Er wirkte milde erstaunt, nickte jedoch.
"Ich zieh mir nur schnell was über."
"Gut, ich geh schonmal nach unten. Komm einfach nach, wenn du fertig bist", sagte ich mit einem Lächeln, stand auf und wandte mich von ihm ab. Doch etwas zog mich wieder zurück auf die Matratze. Es war Chishiyas Hand. Fragend sah ich ihn an.
"Ich habe das nicht nur gesagt, weil ich betrunken war", sagte er mit ernster Miene und sah mich dabei durchdringend an.
Ich lächelte ihn warm an, legte meine Hand an seine Wange und versiegelte seine Lippen mit einem Kuss.
"Ich liebe dich auch, Chishi", sagte ich als wir uns wieder voneinander gelöst hatten.
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