Der letzte Wille (4)
Der Anblick meines Elternhauses weckte unliebsame Erinnerungen, die ich eigentlich schon vor langer Zeit begraben hatte. Nur wenig hatte sich verändert, seit ich meinen Eltern vor sechs Jahren den Rücken zugekehrt hatte. Das Anwesen lag in einem ruhigen, gehobenen Viertel am Rande der Stadt und strahlte eine stilvolle Eleganz aus.
Das Haus selbst war beeindruckend groß, mit einer modernen Fassade, die in kaltem Weiß gehalten war. Die großen Fensterfronten mit den schwarzen Fensterrahmen ließen viel Licht ins Innere, doch die schweren, dunklen Vorhänge schirmten neugierige Blicke von außen ab. Ein gepflegter Garten mit akkurat geschnittenen Bonsaibäumen und teils exotischen Pflanzen umgab das Anwesen. Mutter hatte sich damals oft in die Gartenarbeit vertieft. Es war ihr einziger Ausgleich zur Arbeit in der Klinik und eines der wenigen Hobbys, das sie damals immer mit Leidenschaft ausgeübt hatte.
Eine breit, gepflasterte Auffahrt führte zu einer massiven Eingangstür aus dunklem Holz, die mit traditionellen japanischen Schnitzereien verziert war. Links davon befand sich ein überdachter Stellplatz, unter dem zwei Autos standen. Das Haus wirkte sowohl einladend als auch abweisend, eine Fassade der Perfektion, hinter der sich die Kälte und Distanz meiner Kindheit verbarg.
Als ich das Auto vor dem Haus abgestellt hatte, spürte ich Tsukis Hand auf meinem Arm. Mit aufrichtiger Sorge in den Augen suchte sie meinen Blick, beinahe, als wollte sie prüfen, ob es mir gut ging. Inzwischen fiel es mir immer schwerer, meine Anspannung zu verbergen, doch die zärtlichen Berührungen ihrer Hand beruhigten mich ein wenig. Noch nie zuvor war ich so dankbar, dass Tsuki an meiner Seite war und mir den nötigen Rückhalt gab.
"Brauchst du noch einen Augenblick?", fragte sie vorsichtig, als ich mich nicht von der Stelle rührte und stattdessen geistesabwesend das Haus vor uns fixierte.
Ich schüttelte den Kopf.
"Lass uns reingehen", sagte ich schnell und öffnete die Fahrertür.
Wir klingelten an dem modernen Eingangstor, an dem sichtbar mehrere Kameras befestigt waren. Nach einer gefühlten Ewigkeit schob sich das Tor wie von Zauberhand beiseite. Tsuki wirkte milde beeindruckt.
"Wow, ich fühle mich gerade wie in einem dieser K-Dramen, in denen es um die noble High Society geht", gluckste sie.
"Warte nur, bis du das Haus von innen siehst", sagte ich, während wir dem verschlungenen Pfad aus Naturstein folgten.
Auf dem Weg dahin kamen wir an einem kleinen Steingarten mit einem kunstvoll angelegten Koi-Teich vorbei. Ich hielt einen kurzen Moment inne, um zu beobachten, wie ihre orange-weißen Schuppen anmutig unter der Wasseroberfläche schimmerten. Früher hatte ich oft hier gesessen und die Koikarpfen beobachtet. Manche von ihnen waren erstaunlich zutraulich und hatten sich sogar anfassen lassen. Ich hatte irgendwann angefangen ihnen Namen zu geben und konnte sie nach einer Weile je nach Farbgebung und Muster auseinanderhalten. Das war wohl das, was man tat, wenn die Eltern nicht genügend Zeit hatten, sich mit dem eigenen Kind zu beschäftigen.
Die Eingangstür stand bereits offen, als wir dort ankamen. Mutter stand dort und hatte ihre Hand auf den Mund gepresst. Sie schien ihren Augen kaum zu trauen.
"Shun, du bist wirklich gekommen."
Ich konnte mich nicht erinnern, dass ihre Stimme jemals so aufgelöst klang. Auch sie hatte sich bis auf ein paar einzelne graue Strähnchen, die aus ihren dunklen Haaren schwach hindurch schimmerten, kaum verändert. Ihre Haut war fast genauso faltenfrei wie vor sechs Jahren. Es würde mich nicht wundern, wenn sie ihre dermatologischen Behandlungen auch auf sich selbst angewandt hatte.
Es war seltsam, ihr wieder gegenüberzutreten nach all der Zeit.
"Kommt doch bitte rein!", bat sie.
Mir entging nicht, dass ihre Stimme noch immer bebte. Scheinbar hatte sie nicht damit gerechnet, dass ich wirklich komme. Wir betraten einen Vorraum, der durch begrünte Seitenwände abgetrennt war.
"Hallo Mutter", sagte ich, möglichst distanziert.
Ich hatte nicht vor, so zu tun, als wären wir ein Herz und eine Seele und als würden nicht Jahre verbitterten Schweigens zwischen uns liegen.
Meine Mutter allerdings schien einen Moment zu brauchen, um die Situation zu verdauen. Die Art und Weise, mit der sie mich jetzt musterte, war vollkommen anders, als ich es in Erinnerung hatte.
"Mein Sohn, ich freue mich dich zu sehen."
Ihre Augen waren blutunterlaufen und glänzten verräterisch, so als wäre es nicht das erste Mal an diesem Tag, dass sie geweint hatte. Doch diesmal schienen es Tränen der Erleichterung zu sein.
"Gut siehst du aus. Du bist so erwachsen geworden."
"Ja, das habe ich auch prima ohne euch hinbekommen", entgegnete ich kühl.
Sie ließ den Kopf hängen, lächelte jedoch schwach.
"Ich habe schon erwartet, dass du noch immer einen Groll gegen uns hegst."
Ich schnaubte.
"Ich bin nur hier, weil es meine Pflicht ist, als euer einziger Sohn und ich immerhin sowas wie ein Gewissen habe."
Mutter antwortete diesmal nicht, sondern schlug nur seufzend die Augen nieder. Dann wandte sie sich an Tsuki.
"Schön, dass du auch mitgekommen bist, meine Liebe", sagte sie sanft und legte fast fürsorglich eine Hand auf ihre Schulter.
Tsuki lächelte etwas verunsichert.
"Sicher, das mache ich doch gern."
Ich seufzte leise.
Tsuki war viel zu nett zu ihr. Doch wenn ich ehrlich war, war es auch das, was ich an ihr bewunderte. Sie hegte keinerlei Hassgefühle, wie ich. Sie behandelte jeden erst einmal gleich, bevor sie sich ein Urteil bildete, ganz egal, was sie bereits über diese Person wusste.
Meine Mutter führte uns ins Wohnzimmer. Tsuki kam aus dem Staunen kaum heraus, als sie sich in dem weitläufigen Haus umsah. Meine Eltern hatten schon immer ein Händchen für geschmackvolle Inneneinrichtung gehabt. Der Grundstil des Hauses war überwiegend japanisch geprägt, aber teilweise so modern in der Umsetzung, dass er fast westlich anmutete. Der Minimalismus, den ihr Haus widerspiegelte, war etwas, das ich, eher unbewusst, von ihnen übernommen hatte.
"Setzt euch doch kurz!" Sie deutete auf die riesige Wohnlandschaft neben der großen Fensterfront. "Wollt ihr etwas trinken?"
"Ich habe nicht vor lange zu Verweilen. Ich bin nur wegen Vater hier", sagte ich kühl.
Ich spürte, wie Tsuki sanft meinen Arm drückte. Als ich sie ansah, begegnete ich ihrem flehenden Blick. Ihre Augen sprachen Bände: Bitte, sei nicht so hart. Gib ihr eine Chance!
Mit einem tiefen Atemzug setzte ich mich, die Anspannung in mir pulsierte immer noch stark. Tsuki ließ meine Hand los und lächelte meiner Mutter aufmunternd zu.
„Vielleicht wäre ein Glas Wasser nicht schlecht", sagte Tsuki höflich und versuchte, die eisige Stimmung mit einem Lächeln etwas zu lösen.
Meine Mutter nickte dankbar und verschwand in die Küche. Ich warf Tsuki einen strengen Seitenblick zu.
„Du weißt, warum ich hier bin. Das hier ändert nichts", raunte ich.
Tsuki zog meinen Arm auf ihren Schoß.
„Ich weiß. Aber du könntest wenigstens ein bisschen nachsichtiger zu ihr sein."
"Ich habe keine Lust auf diese Heuchelei", gab ich mürrisch zurück.
"Sie gibt sich doch wirklich Mühe, Chishiya."
Ich öffnete den Mund um zu widersprechen, doch da kehrte meine Mutter bereits mit einem Tablett voller Getränke zurück. Sie stellte die Gläser vor uns auf dem niedrigen Tisch ab, um uns einzuschenken. Ihre Hand zitterte leicht dabei.
"Danke, Sachiko", sagte Tsuki fast überfreundlich.
"Habt ihr keine Angestellten mehr?", fragte ich mit hochgezogener Augenbraue, als ich sie beobachte.
"Nein, im Moment nicht. Es ist etwas chaotisch gewesen in letzter Zeit."
Sie setzte sich zögerlich gegenüber auf das kleinere Sofa und schlug fahrig die Beine übereinander.
Ich nickte nur und griff wortlos nach meinem Glas. Die Kühle des Wassers half mir, einen Moment klar zu denken und meine Gedanken zu ordnen.
„Wo ist Vater?" fragte ich schließlich, um das Gespräch auf den eigentlichen Grund meines Besuchs zu lenken.
Bei seiner Erwähnung schienen ihre Augen wieder trüber zu werden. Sie schluckte schwer und nickte Richtung Treppenaufgang.
„Er ist oben im Gästezimmer. Er ist sehr schwach und verweigert das Essen. Gerade eben hat er geschlafen. Aber ich kann ihn gern wecken, um ihm zu sagen, dass du hier bist. Er wird sich sicher über deinen Besuch freuen."
Es fiel mir diesmal schwer, nicht zu lachen.
"Wollen wir hoffen, dass ihm vor lauter Begeisterung nicht das Herz stehen bleibt", gab ich zynisch zurück.
Mutters Augen weiteten sich entgeistert.
"Chishiya", zischte Tsuki leise neben mir.
"Ich weiß, dass es dir schwer fällt, das zu glauben, Shun, aber du hast uns hier gefehlt", sagte sie ruhig, als sie sich wieder gefasst hatte.
"Gefehlt, ja? Weil ich nicht die Klinik übernehme, so wie ihr es euch vorgestellt habt? Weil ich nicht eurem Weg gefolgt bin und stattdessen mein eigenes Leben lebe?"
"Ich gebe zu, dass wir uns das gern gewünscht hätten, aber ich weiß inzwischen, dass es falsch war, dich dazu zu drängen. Wir hätten lieber wieder unseren Sohn zurück."
Diesmal konnte ich ein abfälliges Schnauben nicht unterdrücken.
"Euren Sohn?", höhnte ich und verengte die Augen. "Für euch war ich doch nie euer Sohn. Ich war immer nur ein Projekt, dass ihr nach euren Vorlieben formen und gestalten wolltet. Aber ich war ein Kind. Alles was ich wollte, waren normale Eltern. Eltern, die stolz auf ihren Sohn waren, Eltern, die sich um mein Wohlbefinden sorgen. Eltern, die sich einfach für mich interessieren und nicht nur für ihren Job in der verfluchten Klinik. War das wirklich zu viel verlangt?"
Ich stellte das Glas geräuschvoll auf dem Tisch ab. Mit jeder Minute fiel es mir schwerer, den aufgestauten Zorn der letzten Jahre zu unterdrücken.
Mutter saß da und sah mich versteinert an. Und auf einmal wirkte sie resigniert.
"Glaub mir, Shun. Niemand hasst sich mehr für das, was passiert ist, als ich. Ich kann nicht mehr tun, als mich zu entschuldigen. Aber ich weiß auch, dass das meine Taten nicht ungeschehen macht. Ich kann die Vergangenheit nicht ändern. Ich würde es, wenn ich könnte."
"Du machst es dir wirklich leicht", sagte ich völlig unberührt von ihren Worten. "Du warst nie für mich da. Nie! Ihr beide wart immer nur abwesend. Und jetzt, wo Vater den Löffel abgibt, hast du Angst, alleine dazustehen, ist es nicht so?"
Mutter sank mehr und mehr in sich zusammen und plötzlich wirkte sie wie eine alte, gebrechliche Frau. Ein fast lautloses Schluchzen kam über ihre Lippen, doch sie versuchte immer noch, angestrengt Haltung zu bewahren, so wie es mir mein gesamtes Leben lang vorgepredigt wurde:
Bloß keine Gefühle zeigen. Es macht dich schwach, Shuntarô!
Vaters Worte hallten deutlich in mir wieder. Er hatte es gehasst, wenn Menschen emotional wurden, denn es beraubte ihnen die Fähigkeit, logische Entscheidungen zu treffen. Ich hielt kurz inne, um darüber nachzudenken und in diesem Moment begriff ich, dass ich genauso war wie er. Ich urteilte mit meinem Verstand, nicht mit meinen Gefühlen. Das war schon immer so gewesen. War die Tatsache, dass ich meinen Vater für seine Kaltblütigkeit verabscheute, eine Form von Selbsthass? Hatte er mich zu dem gemacht, der ich jetzt war?
„Ich verstehe, dass du wütend bist, Shun." Mutters Stimme war nur noch ein schwaches Hauchen. "Und dazu hast du auch jedes Recht. Aber dein Vater... er hat sich verändert."
„Ach ja?" fragte ich sarkastisch. „Und wie genau? Hat er plötzlich auf magische Weise erkannt, dass es andere Dinge gibt, die wichtiger sind als seine Arbeit?"
Sie zögerte, bevor sie antwortete.
„Er hat gelernt, dass es Dinge im Leben gibt, die man nicht kontrollieren kann. Seine Krankheit hat ihm das gezeigt. Und er hat Zeit gehabt, über sein Leben nachzudenken. Über die Fehler, die er gemacht hat, die wir gemacht haben", korrigierte sie sich.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte mich in die Kissen zurück.
„Das klingt ja fast so, als würde er mir wirklich leid tun."
Tsuki legte ihre Hand beschwichtigend auf mein Knie.
"Chishiya, bitte. Es ist genug", wisperte sie eindringlich.
Ich seufzte ergeben.
„In Ordnung", sagte ich und wandte mich wieder zu meiner Mutter. "Weck ihn auf! Ich werde mit ihm sprechen."
Mutter nickte fast erleichtert und stand auf, um nach oben zu gehen. Tsuki und ich blieben allein im Wohnzimmer zurück. Sie sah mich an, ihre Augen voller Sorge und Mitgefühl.
„Es wird schon alles gut gehen", flüsterte sie und legte eine Hand auf meine Wange.
Ich legte meine Hand auf ihre und schloss kurz die Augen.
„Danke", sagte ich leise. „Für alles."
Wir warteten einige Minuten, bevor Mutter zurückkam.
„Er ist jetzt wach. Du kannst zu ihm gehen."
Ich wandte mich kurz wieder an Tsuki.
"Ich gehe allein", sagte ich zu ihr.
Sie nickte verständnisvoll und ließ meine Hand langsam los.
"Ich warte hier, egal wie lange es dauert. Versuch nur bitte ruhig zu bleiben!"
Ich versuchte ihr Lächeln zu erwidern, was mir kläglich misslang.
Langsam stieg ich die Treppen hinauf, Schritt für Schritt. Mit jeder Stufe wurden die Erinnerungen schwerer, und mein Herzschlag beschleunigte sich. Als ich mich umsah, merkte ich, dass sich auch hier nicht viel verändert hatte.
Erst als ich im oberen Korridor angekommen war, fiel mir eine Veränderung auf. Es waren Fotos an der Wand. Fotos von mir. Ich, als Baby im Kinderbett. Ich, an meinem ersten Schultag. Ich, wie ich alleine am Rand des Gartenteichs saß und die Fische betrachtete. Ich, beim Lesen eines Buches. Und ich, bei der Schulabschlusszeremonie. Alles Ereignisse, bei denen meine Eltern nie dabei waren. Es waren Fotos, die andere aufgenommen hatten. Und es gab nur ein einziges, auf dem wir alle drei zu sehen waren.
Dieses prangte in der Mitte und stach in dem edlen, dunklen Rahmen besonders hervor. Ich erinnerte mich an den Tag, als es gemacht wurde. Es war bei der Hochzeit von meinem Onkel aufgenommen worden. Auf der opulenten Feier gab es einen Fotografen, bei dem sich jeder vor einem kitschigen Blumenhintergrund ablichten lassen konnte.
Es war Mutters Idee gewesen, dass wir bei ihm ein Familienfoto machen lassen. Vater hatte an diesem Abend etwas getrunken, was er sonst sehr selten tat und er war so gut drauf, dass er auf dem Foto sogar die Andeutung eines Lächelns zeigte. Vielleicht war mir der Abend deshalb so gut im Gedächtnis geblieben. Es war immerhin meine zweitliebste Erinnerung mit ihm.
Die erste war, als er mir Schach beigebracht hatte. Ich war gerade erst sechs Jahre alt, aber ich wollte unbedingt wissen, wie es funktioniert, weil er oft stundenlang mit meinem Onkel zusammen saß und über dem Schachbrett brütete. Das war eine der wenigen Abende, an dem ich ihn nicht arbeiten sah. Als ich dann fragte, ob er es mir beibringt, hat er zuerst nur gelacht. Kurz darauf hatte er sich aber tatsächlich von mir dazu erweichen lassen, mir das Spiel beizubringen.
„Schach ist wie das Leben, Shun," hatte er gesagt, während er mir die Bewegungen der Figuren erklärte. „Man muss immer mehrere Schritte vorausdenken und seine Entscheidungen mit Bedacht treffen."
Ich fragte mich, ob die Bilder schon länger dort hingen oder ob meine Mutter sie erst kürzlich aufgehängt hatte. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr für mich.
Ich wandte mich von den Fotos ab und ging dann zum Gästezimmer, das früher mal mein Zimmer gewesen war.
Mein Vater würde höchstwahrscheinlich in dem Zimmer sterben, das ich einmal bewohnt hatte.
Oh, welch Ironie!
Als ich vor der Tür stand, sammelte ich mich kurz und klopfte dann hörbar gegen die Holztür.
Eine schwache Stimme bat mich herein. Zögerlich öffnete ich die Tür und trat ein. Das Zimmer war in gedämpftes Licht getaucht, ein leises, schweres Atmen erfüllte die Luft. Mein Blick fiel zuerst auf das Bett, wo mein Vater lag. Seine Gestalt schien kleiner und zerbrechlicher, als in meiner Erinnerung.
Sein Gesicht war eingefallen und von tiefen Furchen durchzogen, und sein einst so durchdringender Blick wirkte jetzt matt und leer. Seine Haare, die früher nur von einzelnen grauen Haaren durchzogen waren, waren nun vollständig weiß geworden. Von der einstigen Autorität, die er früher ausgestrahlt hatte, schien nichts mehr übrig zu sein. Kraftlos drehte er seinen Kopf zur Tür.
"Shuntarô", brachte er mit brüchiger Stimme hervor. Völlig reglos stand ich in dem stickigen, düsteren Zimmer und starrte ihn an. Für einen Moment konnte ich kaum glauben, dass diese hagere Gestalt mein Vater sein sollte. "Deine Mutter hat nicht gelogen. Du bist wirklich hier."
"Ja, das bin ich wohl", entgegnete ich knapp und zog mir einen Stuhl vom Schreibtisch an sein Bett.
Es war immer noch der gleiche Stuhl, den ich schon als Teenager besessen hatte. Auch der übrige Raum hatte sich seitdem kaum verändert. Lediglich das Bett war gegen ein komfortables, höhenverstellbares ausgetauscht worden Ansonsten wirkte fast alles unbelassen. Selbst die Anatomieposter hingen noch an den Wänden. In den Regalen auf der anderen Seite des Raumes entdeckte ich hingegen ein paar alte Schulbücher von mir. Es fühlte sich fast wie eine Zeitreise an, wieder hier zu sein, in meinem alten Zimmer, mit meinem Vater. Eine, die ich nicht unbedingt gebraucht hätte.
"Warum bist du gekommen?"
Vaters schwache Stimme holte mich wieder in die Gegenwart zurück.
"Mutter hat darauf bestanden", entgegnete ich kalt. "Und vielleicht wollte ich auch sicher gehen, dass du... wirklich im Sterben liegst."
Er gab ein Geräusch von sich, das fast wie ein hohles Lachen klang, aber in einem trockenen Hustenanfall überging. Er richtete sich ein wenig auf, um besser Luft zu bekommen.
"Direkt wie immer. Du hast dich nicht verändert."
"Tu nicht so, als würdest du mich kennen, Vater", knurrte ich zurück. "Du weißt gar nichts über mich."
"Ich weiß mehr, als du denkst, mein Sohn."
"Da bin ich ja mal gespannt. Schieß los!"
Ich verschränkte erwartungsvoll die Arme und schlug die Beine übereinander.
" Ich weiß, dass du dein Medizinstudium mit Bravour abgeschlossen hast und Arzt geworden bist. Ich weiß, dass du derzeit in der chirurgischen Abteilung des Tokyo University Hospitals arbeitest. Und ich weiß auch, dass du beim Shibuya-Vorfall dabei warst und knapp überlebt hast. Ich habe dich beobachtet, Shuntarô."
"Wahrscheinlich nur, weil Tsuki Mutter gegenüber zu viel ausgeplappert hat."
"Tsuki...", murmelte er vor sich hin. "Ah ja, deine Freundin. Deine Mutter hat mir von dir erzählt. Sie scheint dich sehr zu lieben."
Ich schnaubte.
"Was weißt du schon von Liebe?", fragte ich bitter. "Du hast nie gezeigt, dass du irgendjemanden liebst, außer vielleicht dich selbst und deine Klinik."
Er schüttelte schwach den Kopf.
"Vielleicht habe ich es nie richtig gezeigt, aber ich habe dich immer geliebt, Shuntarô. Auf meine eigene, unvollkommene Weise. Ich weiß, dass ich vieles falsch gemacht habe. Sehr vieles. Aber das heißt nicht, dass ich es nicht bereue."
Ich spürte einen Kloß in meinem Hals. Die Härte in seinen Worten war verschwunden, ersetzt durch eine Reue, die mich unvorbereitet traf.
"Du bereust es? Jetzt? Wo es zu spät ist?", fragte ich ungehalten. "Das hätte dir ein paar Jahre früher einfallen sollen."
"Ja", flüsterte er. "Und es tut mir leid. Mehr als ich je sagen kann. Ich habe mir immer gewünscht, dass du die Klinik übernimmst, weil ich dachte, das wäre das Beste für dich. Ich wollte, dass du erfolgreich wirst, dass du das Beste aus deinem Leben machst und auch, dass mein Lebenswerk in guten Händen ist. Aber ich sehe die Dinge jetzt klarer. Dein eigener Weg ist der Richtige, so lange er dich glücklich macht."
Ich biss die Zähne zusammen und starrte auf den Boden. Die Worte meines Vaters waren wie ein Sturm, der alles in mir zum Einsturz brachte. Noch nie hatte ich ihn so etwas sagen hören. Und dass er es jemals tun würde, hätte ich nie für möglich gehalten.
"Es war nicht nur das, Vater. Du warst nie da, wenn ich dich gebraucht hätte. Weder du, noch Mutter. Ihr habt mich allein gelassen. 20 Jahre lang. Und jetzt soll ich dir einfach vergeben, damit du ohne schlechtes Gewissen sterben kannst? Dachtest du wirklich, dass es so einfach ist?"
"Ich verlange keine Vergebung", brachte er schwer atmend hervor.
Jedes Wort schien ihn körperlich anzustrengen.
"Was verlangst du dann?", wollte ich wissen.
Meine Stimme wurde etwas ruhiger.
"Ich wollte dich noch einmal sehen. Wissen, ob du zufrieden bist mit deinem Leben. Ich will nicht, dass du denselben Fehler machst wie ich und dadurch das verpasst, was wichtig ist. Lebe dein Leben so, wie du es möchtest. Halt die Menschen fest, die dir etwas bedeuten. Sei glücklich, Shuntarô. Das ist mein letzter Wunsch, mein letzter Wille."
Ich starrte ihn an, vollkommen sprachlos. Diese Person sah augenscheinlich aus wie mein Vater, auch wenn die Krankheit ihn in Mitleidenschaft gezogen hatte, aber die Art, wie er sprach, hatte sich stark verändert. Er war nicht mehr der Mensch, den ich mein gesamtes Leben verachtet hatte. Er war jemand anderes.
Meine Augen brannten unangenehm und als ich etwas Nasses aus meinen Augenwinkeln wischte, wurde mir bewusst, dass ich weinte. Fast reflexartig senkte ich den Kopf und starrte auf meine Beine.
"Ich wünschte, du hättest nicht erst krank werden müssen, um mir das zu sagen."
Er nickte langsam.
"Das wünschte ich auch. Aber vergiss nicht, dass ich trotz allem immer stolz auf dich war. Daran wird sich nichts mehr ändern. Du bist doch mein einziger Sohn."
Er streckte die Hand in meine Richtung aus, die auf seiner Bettdecke lag und fixierte mich mit einem fast flehenden Gesichtsausdruck.
Ich schluckte schwer, versuchte die Tränen wegzublinzeln. Die stumme Aufforderung ließ mich dennoch zögern.
"Ich kann dir im Moment nicht vergeben, aber bin froh, gekommen zu sein. Es hilft mir, einen Schlusstrich unter die Vergangenheit zu ziehen."
Auch, wenn es mich Überwindung kostete, legte ich meine Hand in seine. Sie war kalt und dürr, doch ich spürte, wie er den Druck sanft erwiderte.
"Bitte tu mir noch einen letzten Gefallen, Shuntarô", er atmete geräuschvoll ein und griff sich mit schmerzverzerrter Miene an die Brust. Ich nickte knapp. "Kümmer dich um deine Mutter! Hab wenigstens ein Auge auf sie. Sie hat nur noch dich."
Ich seufzte, aber in diesem Augenblick, wo er so schwach und hilflos war, konnte ich nicht einmal mehr sauer auf ihn sein.
"Mach dir keine Sorgen. Sie ist stärker, als du denkst."
"Trotzdem. Sie braucht dich jetzt!", beharrte er.
Normalerweise hätte ich jetzt widersprochen und gesagt, dass ich sie damals auch gebraucht hätte, doch diesmal verkniff ich mir den Kommentar.
"Ich werde nach ihr sehen", versprach ich leise, ohne seine Hand loszulassen, doch ich merkte, wie mein Vater langsam schläfrig wurde. Er schien zufrieden mit meiner Antwort zu sein. "Ruh dich jetzt aus!"
Er nickte träge, driftete fast weg. Ich prüfte seinen Puls am Handgelenk. Er war schwach, aber noch da. Ich ließ seine Hand los und stand auf.
"Leb wohl, Vater", sagte ich und beugte mich über ihn, um einen Kuss auf seine Stirn zu geben - kein Zeichen der Vergebung, sondern des Respekts für seine Entschuldigung.
Dann wandte ich mich ab und ging zurück in den Korridor. Tsuki stand dort und betrachtete die Fotos von mir an der Wand. Als sie mich sah, war sie sofort bei mir und gab mir Halt. Ihre Arme umgaben mich wie ein Schutzmantel. Ich vergrub mein Gesicht in ihrer sicheren Halsbeuge und zum ersten Mal ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf.
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