PoV. Felix

Ich habe Angst. Es ist schon über sechs Stunden her, als sich Chan das letzte Mal bei mir gemeldet hat. Es wird schon bald dunkel und ich habe ehrlich das Bedürfnis dazu, das ganze Bezirk nach ihm abzusuchen. Ich mache mir ganz große Sorgen um Chan und deswegen sollte ich dies tun.

Ich ziehe meine Schuhe und Jacke an, ehe ich durch die ganze Wohnung schreie: ,,Ich gehe etwas spazieren und nach Chan gucken. Bis später." Nachdem sich meine Eltern ebenso von mir verabschiedet haben, stürme ich aus unserem Haus raus und bleibe irgendwann vor einer Kreuzung stehen. Eine wichtige Frage stelle ich mir: In welche Richtung soll ich abbiegen?

Ich muss ihn dringend suchen, bevor es zu spät ist, wenn es jetzt schon nicht zu spät ist.

Chan hat mir letztens seine Adresse gegeben. Um genau zu sein hat er mir die Adresse von seinem Heim gegeben, falls ich ihm einen Besuch abstatten will. Ich biege nach Links ab und gehe weiter geradeaus, denn irgendwann müsste ich das Heim zu sehen sein. Ich schätze, dass ich etwa fünf Minuten dorthin brauche, wenn ich mich beeile.

Ich habe so panische Angst, Chan zu verlieren. Was wenn er versucht hat, sich umzubringen? Es gibt viele verschiedene Methoden, Selbstmord zu begehen. Wobei, Chan hat mir versprochen, sich nicht umzubringen, solange ich bei ihm bleibe. Er hat auf seine Mutter geschworen und das muss etwas bedeuten.

Trotzdem habe ich Angst. Ich schreibe Chan recht regelmäßig, allerdings hat er heute auf keiner meiner Nachtrichten geantwortet. Nicht einmal geöffnet hat er sie. Sehr wahrscheinlich ist er nicht einmal auf die SMS App gegangen. Deswegen muss ich auf der Stelle herausfinden, was bei Chan los ist. Vielleicht hat er heute keinen sonderlich guten Tag gehabt und braucht deshalb seine Ruhe.

Bis jetzt ist eigentlich alles ganz gut gelaufen. Chan hat nicht einmal darüber geredet, sterben zu wollen. Im Gegenteil: Erfreut teilt er mir jedes Mal mit, dass es ihm seit langem nicht mehr du gut gegangen ist wie jetzt, was mein Herz zum schmelzen bringt. Ich bin wirklich froh darüber, das Leben von diesem Jungen gerettet zu haben. Ich hätte niemals gedacht, dass mir noch ein weiterer Mensch im Leben gefehlt hat. Ich bin immer davon ausgegangen, dass ich alles gehabt habe. Doch als Chan ein teil meines Lebens geworden ist, habe ich realisiert, dass er einfach gefehlt hat. Ich bin froh darüber, ihn an meiner Seite zu haben.

Nachdem ich ohne Erfolg das Heim verlasse, mache ich mich weiter auf die Suche. Ein Erzieher hat zu mir gesagt, dass Chan seit etwa zwei Stunden nicht mehr da ist, während mir ein weiterer Erzieher mitgeteilt hat, dass Chan einkaufen gegangen ist, da er ihn mit seinem Portemonnaie erwischt hat. Das kann gut sein, aber vielleicht ist das ein Art Täuschungsversuch. Vielleicht sollte ich mich noch einmal zu der Brücke begeben. Man weiß eben nie.

Vielleicht geht es Chan wirklich nicht gut und hält sich deswegen an der Brücke auf. Allerdings ist dann die Chance hoch, dass er darunter springt und das wäre das Schlimmste, was passieren könnte. Deswegen muss ich dorthin, um sicherzugehen, dass Chan nicht dort ist.

Langsam mache ich mich auf dem Weg zu der Brücke, während ich langsam anfange, durch die krasse Kälte zu zittern. Ich hätte mir definitiv eine dickere Jacke anziehen sollen. Ich bin zwar nicht sonderlich weit von meinem Zuhause entfernt, allerdings wäre es das Beste, wenn ich mich sofort zum nächsten Punkt begebe, an dem ich eventuell Chan aufspüren könnte. Immerhin zählt jede einzelne Sekunde. Ich kann es mir nicht erlauben, nach Hause zurückzukehren, wenn ich viel zu starke Angst um Chans Leben habe.

An der Brücke angekommen lehne ich mich an das Geländer. Ich schaue mich ein wenig um und hier ist kein Chan weit und breit. Ich blicke nach unten und mit dem Wasser scheint ebenso alles in Ordnung zu sein. Keine Leiche in Sicht. Wenn hier jemand runtergesprungen wäre, dann hätte ich es längst mitbekommen. Chan ist hier nicht gewesen. Aber wo soll er bitteschön sonst sein?

Das frustriert mich.

Vielleicht suche ich wirklich am falschen Ort. Ich weiß nicht, wohin ich sonst hingehen soll? Vielleicht hält er sich in der Innenstadt auf. Man kann es nie wissen. Ich wollte sowieso dorthin, um mir einen Energy oder so zu holen. Nun bin ich in der Innenstadt angekommen und überlege dabei, welcher Weg der Schnellste ist, damit ich in meinem Lieblingssupermarkt einkaufen gehen kann. Irgendwann müsste eine Gasse kommen, welche zu einer anderen Straße führt. Nachdem ich mir den Energy geholt habe, werde ich mich richtig auf die Suche nach Chan machen. Er kann schon nicht weit sein.

In der Gasse angekommen gehe ich weiter durch diese entlang, ganz gleich, wie düster dieser ist. Ich gehe immer weiter, bis ich plötzlich eine Person auf dem Boden liegen sehe. Es ist nicht nur eine Person.

Es ist Chan.