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Mixtape Side A - [So Far Away]

* TRIGGERWARNUNG *
Dieses Kapitel beinhaltet die Aufarbeitung von sensiblen Themen. Seid also bitte vorsichtig beim Lesen. Wenn ihr danach Gesprächsbedarf habt - meine Ohren sind immer für eure Nachrichten offen. :]
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In den nächsten Tagen ist Yoongi verhältnismäßig viel an seinem Handy.

Der alleinige Grund dafür ist der Junge aus Busan, Jimin, den er als Gesangsstimme für den nächsten Track von Agust D rekrutieren will.

Nach seiner ersten Nachricht über Instagram vor ein paar Tagen, hat es keine halbe Stunde gedauert, bis sich der Sänger bei ihm zurückmeldete. Dafür nutzte er Yoongis ID von Kakaotalk, was nicht anders zu erwarten war, denn Yoongi ist grundsätzlich sehr überzeugt von seiner einnehmenden Art.

Ihr zu Beginn noch recht zögerliches Gespräch über Musik, hat schnell ausufernde Dimensionen erreicht. Das betrifft sowohl die Quantität der ausgetauschten Nachrichten als auch deren Inhalt. Jimin ist ein redseliger Typ, der sich bereits über Kleinigkeiten leidenschaftlich aufregen kann. Dadurch sind ihre Gespräche auf eine ganz natürliche Art und Weise in das Privatleben des jeweils anderen abgedriftet und nun, nach bereits drei Tagen, sind die regelmäßigen Nachrichten von Jimin schon zu einem Stück Gewohnheit für den Radiomoderator geworden.

Obwohl sie in vielen Bereichen Komplementarität aufweisen, hegen sie doch in einem Aspekt eine größere Diskrepanz, die schon des Öfteren zu Diskussionen zwischen ihnen beiden geführt hat. Das Problem beruht größtenteils auf der Tatsache, dass Jimin auf seiner Meinung beharrt, dass er Yoongi gerne aushelfen, aber dafür sein eigenes Equipment benutzen möchte. Und Yoongi besteht darauf, dass er die schlechte Qualität der Aufnahmegeräte von Jimin in seinem eigenen Song nicht akzeptieren kann.

Für den Produzenten und Rapper ist die Lösung ihres Problems ganz eindeutig: Da Jimin sich kein neues Equipment leisten kann, kommt er zu ihm nach Daegu, damit sie den Track gemeinsam aufnehmen können. Worin genau dabei für den Jüngeren das Problem besteht, hat er bislang noch nicht so recht herausgefunden.

Sie haben während ihrer Unterhaltung bereits einige fadenscheinige Begründungen aus dem Weg geräumt und doch sind sie immer noch nicht an der Essenz des Problems angekommen. Zuerst hat Jimin darauf bestanden, dass sein Mikrofon nicht so schlecht ist, wie es von Yoongi dargestellt wird. Daraufhin schickte ihm der Rapper kommentarlos einen Track von Agust D, damit sich Jimin sein eigenes Bild der deutlichen Qualitätsunterschiede machen konnte. Das Argument wurde so im Keim erstickt, bevor es die Gelegenheit erhielt zu wachsen. Der Unterschied zwischen ihren Aufnahmegeräten war auf den ersten Ton hörbar und würde bei einer zusammengeschnittenen Aufnahme sofort auffallen. Und ein solch gravierender Fehler entsprach in keinster Weise dem Anspruch, den Min Yoongi aka Agust D an seine eigenen Produktionen stellte.
Der Radiomoderator ist sich bewusst darüber, wie teuer ein gute Ausstattung ist. Deswegen verurteilt er Jimin keineswegs für die Aufnahmequalität seines Mikrofons, sondern zieht ihn nur gerne mit diesem Thema auf. Yoongi hat selbst lang genug dafür gespart, damit er sich ein gehobenes Equipment leisten konnte. Die Anschaffungskosten für eine solche Ausrüstung waren überhaupt erst der Grund dafür gewesen, dass er vor einigen Jahren einen rentablen Job angenommen hat. Ansonsten wäre Yoongi wohl ewig in seinem kleinen Apartment versauert und hätte sich mit schlechtbezahlten Aushilfsjobs über Wasser gehalten, um hauptberuflich Musik produzieren zu können. Aber billige Geräte produzieren billige Klänge und Agust D kann sich mit vielen Dingen identifizieren, aber nicht mit billig klingenden Tracks. Die Entscheidung für einen Vollzeitjob war daher aus der Notwendigkeit geboren worden und keine eigenmotivierte Begeisterung für den Beruf des Radiomoderators. Zum Glück sind nicht alle Entscheidungen schlecht, die man gezwungen wird zu treffen.

Als nächstes stand ihre musikalische Kompatibilität zur Debatte. Nachdem sich Jimin nun also einen Track von Yoongi angehört hatte, war er am Zweifeln, ob seine melodiöse Stimme überhaupt zu der Aggressivität der hartgesprochenen Punchlines passen würde. Yoongi konnte ihn auch in diesem Punkt beruhigen, denn So Far Away, das Lied, welches er mit Jimin aufnehmen wollte, entsprach nicht den Normen seiner vorherigen Produktionen. Der Text erzählte von dem Dualismus zwischen Verzweiflung und Hoffnung, den Wunsch aufzugeben und dem Drang weiterzumachen und der unerschütterlichen Überzeugung, dass das Ende verdammt nochmal gut sein wird, egal wie schwierig jeglicher Anfang auch sein mag.

Und so sprechen Yoongis Raplines in So Far Away zwar von realer Frustration, aber auch von der Kraft von Träumen. Sie lassen ihre gewohnte Schärfe vermissen und treffen den Zuhörer trotzdem genau dort hin, wo es am meisten wehtun, nämlich mitten ins Herz. Und Jimin, der Junge aus Busan mit der verzweifelten Stimme und den traurigen Augen, hörte ab dem Moment auf über musikalische Kompatibilität zu diskutieren, als Yoongi ihm das dazugehörige Demotape schickte. Es schien, als hätte er ab dem ersten Moment eine innige Affinität zu dem Song entwickelt, die sich nur schwer beschreiben lässt. Jedenfalls entwickelte er recht zügig eine eigenartige Determination, den schwermütigen Gesangspart zu übernehmen. Nur musste er in seiner Vorstellung dafür nicht bis nach Daegu reisen.

Nachdem die musikalischen Argumente alle geklärt waren, beharrte Jimin darauf, dass er nicht einfach so zu einer wildfremden Person in einer anderen Stadt fahren könne. Yoongi könne schließlich eine kriminelle Person gehobenen Alters sein, die ihn für seine verbrecherischen Taten instrumentalisieren will. Zunächst konnte Yoongi nicht ganz zuordnen, ob diese Ausrede ein Scherz sein sollte oder tatsächlich ernsthaft von ihm entkräftet werden musste. Nach mehrmaligen Nachfragen konnte aber auch diese lahme Begründung schnell aus dem Weg geräumt werden, denn Namjoon verbürgte sich für den Musiker und versprach hoch und heilig, dass der Junge aus Daegu genau das war, was er vorgab zu sein: Ein fanatischer, aber harmloser, Kleinstadtrapper, mit einer großen Klappe und einem Herzen voll von Musik.

Nach scheinbar unzählig ausgetauschten Nachrichten, scheinen Jimin die jämmerlichen Argumente nun auszugehen. Yoongi befindet sich mittlerweile wieder in der Radiostation und führt halbherzig durch sein Programm. Die meiste Zeit über lässt er automatisiert seine Lieblingstracklist ablaufen, unterbricht diese nur für kurze Moderationen oder einen Musikwunsch der Zuhörer. Mit der anderen Hälfte seinem Herzens widmet er sich ausführlich Jimins Chatverlauf, denn er hat das Gefühl, dass sich ihr virtuelles Gespräch langsam ein paar wahren Aussagen nähert. Und vielleicht ist es den stillen Stunden der Nacht geschuldet, dass Menschen dazu neigen, ihre Geheimnisse lieber im schützenden Mantel der Dunkelheit preiszugeben.

[Jimin]

Ich kann nicht zu dir fahren, okay? Es geht einfach nicht.

[Yoongi]

Das sagtest du bereits und wir haben all deine dämlichen Ausflüchte entkräften können. Liegts am Geld? Ich kann dir das Zugticket bezahlen, das sollte nicht das Problem sein. Komm ich immerhin günstiger bei weg, als wenn ich dir ein neues Mikrofon kaufen muss.

[Jimin]

Die Zugfahrt kann ich schon selbst bezahlen.

[Yoongi]

Und was ist dann das Problem?

[Jimin]

Ich bin das Problem.

[Yoongi]

Noch kryptischer hättest du dich nicht ausdrücken können. Wenn du an deinem Talent zweifelst, kann ich dir nur sagen: Ich hätte dich nicht gefragt, wenn ich nicht überzeugt von deiner Stimme wäre. Außerdem kann ich dir dabei helfen, das Beste aus dir herauszuholen.

Okay, Yoongi fordert die Wahrheit, obwohl er selbst an dieser Stelle nicht ganz ehrlich ist. Denn vielleicht haben auch die plumpen, glänzenden Lippen des Sängers ihr Übriges dazu getan, ihn vollkommen von einem persönlichen Treffen zu überzeugen, aber diese Tatsache musste ja nicht jetzt schon auf einem Silbertablett serviert werden. Und außerdem waren es nicht nur die Lippen des Jungen, sondern auch seine Augen gewesen, die Verführung und Schmerz so gleichermaßen ambivalent ausstrahlten, die Yoongi so unwiderruflich in ihren Bann gezogen haben.

Oh man. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst einzugestehen, dass er jetzt schon unglaublich schwach für den Jungen aus Busan ist. Einerseits will er ihm offenbaren, dass der Drang ihn treffen zu wollen, nicht nur rein musikalisch motiviert ist, sondern weit darüber hinaus geht und andererseits möchte er geheimnisvoll bleiben, um sein Image als gnadenloser Underground-Rapper nicht gefährden zu müssen. Außerdem hofft Yoongi, dass er auf diese Weise genauso interessant für den Sänger erscheinen könnte, wie dieser es für ihn ist.

[Jimin]

Es liegt an meinem Aussehen.

[Yoongi]

Baby, dich sehen täglich hunderte Menschen auf YouTube. Deine Ausreden waren schon besser.

[Jimin]

Sie sehen aber nur den Teil, den ich zeigen möchte.

[Yoongi]

Und welchen Teil möchtest du nicht zeigen?

Sein Handy vibriert daraufhin mehrmals kurz hintereinander, aber die Tracklist läuft schon zu lange ununterbrochen und deswegen muss Yoongi seinen Chatverlauf zumindest kurz pausieren, damit er seinen Pflichten als Radiomoderator nachkommen kann. Es folgt eine kurze Zusammenfassung des aktuellen Tagesgeschehens (natürlich bespricht Yoongi nur die musikalischen Neuigkeiten, zu mehr kann er sich einfach nicht durchringen. Außerdem hat doch wirklich kein Mensch mitten in der Nacht Interesse daran, politische Nachrichten zu antizipieren. Zumindest nicht, wenn er sich dazu entschlossen hat, K-Hop FM zu hören.) Außerdem rezitiert Yoongi die Wettervorhersage für den folgenden Tag (dazu wird er von der Geschäftsleitung gezwungen) (Leute, es wird wirklich erbärmlich kalt morgen, bleibt besser mit dem Arsch zuhause). Zu allem Überfluss folgen noch Zuschaueranrufe, die in der typisch-mürrischen Art und Weise von dem Radiomoderator beantwortet werden müssen. Eigentlich mag er diesen Teil seiner Arbeit ganz gerne, denn die meisten Anrufer sind treue Zuhörer seines Nachtprogramms und damit qualifizierte Diskussionspartner in Sachen Rapmusik. Aber nicht heute, nicht wenn sein Handy bereits mehrere ungelesene Nachrichten von Jimin anzeigt, die er nur aus dem Grund nicht sofort öffnet, dass seine Aufmerksamkeitsspanne für die reale Umgebung gegen null sinkt, sobald er in die handybasierte Kommunikation mit dem Sänger eintaucht. Deswegen hält er die Telefonate bewusst kurz, ohne dabei unhöflicher als üblich zu sein, schließlich möchte er niemanden verärgern (und damit meint Yoongi seine Vorgesetzen, die ihn zu Beginn seiner Karriere regelmäßig in ihr Büro bestellt haben, wenn sein Mundwerk im Nachtprogramm zu viel Feuer gespuckt hat und deswegen einige Beschwerden über ihn ins Haus flatterten).

[Jimin]
Ich bin entstellt.

[Jimin]

Also nicht im Gesicht, aber an anderem Stellen von meinem Körper. An denen, die ich in keinem Video zeigen muss.

[Jimin]

Also ich weiß nicht, ob entstellt das richtige Wort dafür ist... aber zumindest irgendwie... fehlerhaft?

[Jimin]

Bist du jetzt schon so schockiert, dass du nicht mehr antworten kannst?

Yoongi stolpert über die Nachrichten genauso wie über die verwendete Wortwahl. Entstellt? Das kommt ihm viel zu drastisch vor. Er hat den Jungen gesehen, zwar nur auf Videos (aber diese hat er sich immerhin ganz schön oft angesehen) (was niemand wissen muss), aber auch bei den dort gezeigten Bildern waren Ganzkörperaufnahmen dabei und er kann sich nicht daran erinnern, dass ihm ein körperlicher Makel aufgefallen wäre (er hatte sehr genau hingesehen). Jimins Körperbau war geschmeidig. Er war dünn und grazil gebaut, mit filigranen Fingern, mit denen er sich selbst festhält, wenn er ganz im Gefühl der Musik verloren geht. Elegant und bedacht in jeder seiner Bewegungen irgendwie formvollendet. Yoongi fallen sehr viele Adjektive ein, um das Aussehen von Park Jimin zu beschreiben. Entstellt und fehlerhaft sind ganz sicher keine davon.
Vielleicht war der Sänger etwas zu klein geraten, dass ist ohne einen passenden Vergleichsgegenstand schwer einzuschätzen, aber auch das ist sicherlich kein körperlicher Makel, den man mit einer Behinderung gleichsetzen kann.
Yoongi fängt sich, bevor ihn das stolpernde Gefühl zu Fall bringen kann. Er hat seinen Gesprächspartner schon viel zu lange auf eine Antwort warten lassen.

[Yoongi]

Ich hab die Videos von dir gesehen. Mir ist kein einziger Teil an dir aufgefallen, der die Bezeichnung entstellt oder fehlerhaft verdient hätte. Fand es eher erschreckend, wie makellos fehlerlos du bist. Selbst in den Nahaufnahmen hast du nicht mal nen verdammten Pickel. Schließe mich daher in Bezug auf dein Aussehen deinen Kommentarschreibern an und zitiere eine besonders zutreffende Frage: Bist du real?
Wenn du mich also vom Gegenteil überzeugen willst, musst du mir schon ein Bild von dem besagten Körperteil schicken. Vielleicht macht dich das ein bisschen menschlicher.

Yoongi bereitet sich innerlich auf alle möglichen Reaktionen vor. Wenn er Glück hat, erhält er ein Bild von einem freizügigen Jimin, der schmollend das besagt fehlerhafte Körperteil in die Kamera hält. Mit sehr viel Glück, ist Jimin unzufrieden mit seiner Bauchmuskulatur, weil kein scharf definiertes Sixpack zu sehen ist, und schickt ihm ein heißes, oberkörperfreies Selfie. Vielleicht auch mit geöffnetem Hemd und einer so tiefsitzenden Hose, dass man sich bildlich vorstellen kann, wie sie von der Schwerkraft angezogen langsam Millimeter für Millimeter hinunter rutscht...
Jop, mit diesem Anblick könnte Yoongi sehr gut umgehen. Er macht sich ohnehin nicht so viel aus muskelbepackten Bäuchen, andere körperliche Attribute sind ihm viel wichtiger. Volle, glänzende Lippen zum Beispiel.
In einem weniger glücklichen Fall, bekommt er nur ein Bild von einem schiefen Schneidezahn. Den hat er allerdings schon in dem ein oder anderen Video entdeckt und auch wenn er objektiv gesehen sicherlich als Schönheitsmakel bezeichnet werden könnte, verleiht er Jimin einen ganz eigenen Charme und macht ihn in Yoongis Augen nur umso attraktiver. Allerdings würde ein Zahn nicht zu den Körperteilen gehören, die in seinen Videos bisher nicht gezeigt wurden. Dazu kommt, dass weder ein flacher Bauch ohne sichtbare Bauchmuskeln noch ein schiefstehender Schneidezahn solch eklatante Einschnitte in das Äußere eines Menschen bilden, dass sie generell als Entstellung aufgefasst werden könnten. Wahrscheinlich muss sich Yoongi also von seiner Traumvorstellung verabschieden und ein bisschen realitätsnäher denken.
Also vielleicht eher ein Bild von krummen Füßen und schiefen Zehen? Das wäre wirklich kein besonders schöner Anblick und außerdem haben ohnehin viele Menschen ein Problem mit dem Aussehen ihrer Füße. Jimin könnte auch zu dieser Personengruppe gehören. Hat Yoongi ihm im irgendeinen seiner Videos barfuß gesehen? Er kann sich nicht daran erinnern (okay, vielleicht war er auch zu abgelenkt von anderen körperlichen Attributen bzw. hat er sich natürlich auf die Qualität der Aufnahme und den Gesang konzentriert. Schließlich ist er Musiker).

Okay, aber selbst wenn Jimin seine krummen Zehen als groben Einschnitt in sein ästhetisches Auftreten begreift, hat Yoongi kein Problem mit ihnen. Füße sind halt da und sie gehören zum Menschen dazu, sind praktisch und generell kann er sich eigentlich nicht vorstellen, dass die eleganten Bewegungen Jimins von grobmotorischen Standbeinen aus gesteuert werden könnten.
Allerdings stellt sich auch hier die Frage, warum dieser Schönheitsmakel einem Treffen entgegenstehen sollte. Füße kann man leicht verstecken, vor allen Dingen im Winter. Es wäre viel zu leicht für den Sänger dicke Socken und Hausschuhe zu tragen und Yoongi würde niemals Notiz von diesem fehlerhaften Körperteil nehmen.
Mh. Je mehr Yoongi darüber nachdenkt, desto weiter weg erscheint ihm die Lösung. Es bleibt wohl nichts anderes übrig, als die Antwort von Jimin abzuwarten. Ein Blick auf die Uhr verrät ihm allerdings, dass er in absehbarer Zeit wohl keine Reaktion mehr erhalten wird, denn die Nacht ist schon weit fortgeschritten.
Deswegen versucht er diese Möglichkeit zu akzeptieren und vertieft sich in ein Zuhörergespräch. Er diskutiert gerade angeregt mit einem schlaflosen Tanzlehrer über die verschiedenen Einsatzmöglichkeiten von Rapmusik (denn natürlich kann man dazu tanzen und nicht nur breakdancen, richtig tanzen und zwar ganze Choreografien und das muss dem Tanzlehrer doch auch bewusst sein), als sein Handy letztendlich doch noch einmal vibriert.
Yoongi greift schneller nach dem Gerät, als er blinzeln kann. Trotz aller guter Vorsätze realitätsnah zu bleiben, blitzt vor seinem inneren Auge das Bild von einem oberkörperfreien Jimin mit tiefsitzender Jogginghose auf. Das Telefonat mit dem Tanzlehrer beendet er kurzfristig und natürlich viel zu frühzeitig mit einem rüden: „Ja cool, probier's halt mal aus und ruf mich dann nochmal an, ok? Bis dann, bye."
Mit einer Bewegung stellt Yoongi sein Mikrofon auf mute und die automatische Tracklist auf play. Er verzichtet sogar auf eine kurze Zwischenmoderation, so gespannt ist er auf Jimins Nachricht. In der Kurzmitteilung auf seinem Sperrbildschirm steht nur geschrieben, dass der Sänger ein Foto geschickt hat.

Die Realität sieht anders aus als seine Vorstellung.
Die Realität beinhaltet weder geöffnete Hemden, flache Bäuche, schiefe Schneidezähne oder krumme Zehen.
Die Realität ist viel brutaler.
Yoongi hat nicht darauf geachtet, dass Jimin in seinen Videos immer nur langärmlige Kleidung trägt. Es ist ihm nicht einmal bewusst aufgefallen und selbst wenn, hätte er es der Jahreszeit zugeschrieben, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen.

Die Realität sieht nach roten Strichen auf weißer Leinwand aus.
Die Realität sieht nach zerfetzten Armen aus. Zerfetzten, zerrissenen, zerschnittenen Armen.
Arme, auf denen sich rote Linien in jahrelanger Kleinstarbeit fein angesammelt haben.
Arme, voller alter Wunden, die mittlerweile vernarbt sind. Und Arme voller Narben, die schon wieder von frischen Schnitten überdeckt werden.
Im ersten Moment assoziiert Yoongi das Bild mit einem Kampf. Hat Jimin mit einem wilden Tier gekämpft? Welches Tier hat seine Krallen wiederholt so tief und brutal in die blasse Haut geschlagen?
Dann wird ihm bewusst, dass das wilde Tier wohl in Jimins Innerem leben muss. Dass die Krallen keine Krallen sind, sondern Messer oder Rasierklingen oder sonstige scharfe Gegenstände. Und dass die Wunden, mh, ja die Wunden, wohl selbstverursacht sind.

Das bin ich, schreibt Jimin als Begleittext zu seiner Bildnachricht.

Wenn Yoongi eben gestolpert ist, dann fällt er jetzt wohl endgültig. Aber auch im Sturzflug formulieren seine Finger schon eine Antwort und die Nachricht ist schneller getippt, als sein Gehirn die Eindrücke verarbeiten kann.

[Yoongi]

Ich kann darin nichts Hässliches erkennen.

Also doch. Wahrscheinlich kann Yoongi das schon, aber er lässt sich nicht genug Zeit, um darüber nachzudenken. Er denkt an das wunderschöne Gesicht mit den traurigen Augen und den glänzenden Lippen und möchte sagen: Aber das bist du auch. Und du bist beides und das eine ist nicht wichtiger als das andere.
Aber eigentlich kann sein Gehirn das Bild von dem wunderschönen Gesicht und den zerfetzten Armen noch nicht miteinander synchronisieren.

Und wie war das nochmal? Yoongi ist so schwach für schöne, kaputte Dinge. Das hat er sich nicht darunter vorgestellt. Vielleicht hätte er besser über diese Aussage nachdenken sollen.
Sein Handy vibriert nach ungefähr einer Sekunde erneut.

[Jimin]

Also möchtest du immer noch, dass ich dich besuchen komme?

[Yoongi]

Für mich hat sich nichts geändert.

Und vielleicht ist es wiederum dem schützenden Mantel der Dunkelheit zu verdanken, dass manche Wahrheiten von dunklen Schatten überlagert werden können. Denn natürlich hatte sich etwas geändert. Aber manche Dinge brauchen Zeit, bevor man ihnen ehrlich ins Gesicht blicken kann.

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Yoongi steht vor dem Bahnhofsgebäude und raucht. Es ist wieder lächerlich kalt in Daegu und er bereut es jetzt schon, dass er sich für seine schwarze Lederjacke entschieden hat, statt einen dicken Parka anzuziehen. Das schwarze Longsleeve darunter und die gleichfarbige ripped Jeans verpassen ihm zwar einen coolen, lässigen Look, aber dafür friert er sich den Arsch ab. Immerhin hat daran gedacht, eine Beenie aufzuziehen, sodass wenigstens seine Ohren vor dem eiskalten Wind geschützt sind.

Trotz der unchristlichen Uhrzeit (es ist schon fast zwölf Uhr, aber er hat bis sieben Uhr gearbeitet und danach nur ein paar Stunden geschlafen, deswegen ist es für Yoongi wirklich sehr früh am Morgen) ist der Bahnhofsplatz voller Menschen, die hektisch an ihm vorbeilaufen und ihn nur missbilligend angucken, wenn er einem von ihnen den Zigarettenrauch demonstrativ ins Gesicht pustet (ups). Es beschwert sich trotzdem niemand. Vielleicht sind Yoongis tiefschwarze Augenringe Abschreckung genug.

Die Zigarette ist aufgeraucht, bevor Jimins Zug im Bahnhof angekommen ist. Yoongi ist aufgeregt, hibbelig und das Gefühl ist ziemlich neu für ihn. Normalerweise wird er nicht nervös, denn dafür besitzt er zu viel Swag. Er hört tatsächlich nicht einmal Musik, damit er keine der Durchsagen des Bahnhofsprechers verpasst.

Der KTX 238 aus Busan fährt nun auf Gleis 3 ein. Bitte treten Sie zurück. Weiterfahrt Richtung Seoul.

Aha, das ist der richtige Zug. Yoongi zündet sich eine weitere Zigarette an.
Seit Jimin ihm das Foto seiner zerschnittenen Arme geschickt hat, sind lediglich drei Tage vergangen. Nachdem dieses Hindernis zwischen ihnen aus dem Weg geräumt wurde, verlief die restliche Planung ziemlich unproblematisch. Sie haben seitdem nicht einmal mehr über das Thema gesprochen und stattdessen Belanglosigkeiten über ihren Alltag ausgetauscht und intensive Debatten über die Umsetzung ihres gemeinsamen Liedes geführt. Vielleicht ist Yoongi deswegen so nervös, denn er weiß nicht, wie er mit dem Schmerz umgehen soll, der ihm so verzweifelt von den blutenden Armen entgegenschreit. Wie wird Jimin sein?
In den Musikvideos ist er wunderschön und unnahbar. In seinen Nachrichten eine Frohnatur mit einem hitzigen Gemüt. Aber die Wunden erzählen eine andere Geschichte und Yoongi ist sich unsicher darüber, ob er bereit dazu ist, sie zu hören. Falls Jimin bereit dazu ist, sie zu erzählen.
Er spricht sich selbst Mut zu, denn das hier sollte ein professionelles Treffen unter musikalisch Gleichgesinnten sein und keine Verabredung für ein Sexdate. Er verdrängt das Bild von glänzenden Lippen, die in einer obszönen Bewegung seiner spitzen Zunge befeuchtet werden, in die hinterste Ecke seiner Gedankenwelt. Es fühlt sich trotzdem irgendwie nach Beidem an. Ein musikalisches Sexdate? Seine Gedanken bringen ihm aus dem Takt. Wahrscheinlich interpretiert er viel zu viel in die zweideutigen Nachrichten hinein, die Jimin ihm ab und an zugeschickt hat. Gepaart mit seiner blühenden Fantasie, sind da sicherlich Bilder entstanden, die nicht mehr viel mit der Realität gemeinsam haben.
Gott, Yoongi weiß doch selbst nicht einmal wirklich, was er will und was er von dieser Begegnung erwartet. Er sollte es einfach auf sich zukommen lassen. Er ist der King des Swags, der Begründer des Begriffes und er wird jetzt verdammt nochmal die Ruhe bewahren. Ende der Durchsage.

„Hallo Yoongi-Hyung", unterbricht ein vorwitziger, gelockter, platinblonder Haarschopf seine gedankliche Zurechtweisung.
„Oh, hey", reagiert Yoongi geistesgegenwärtig und schellt sich gleichzeitig dafür, dass er so viel nachgedacht, aber keine einzige Sekunde darauf verschwendet hat, sich eine passende Begrüßung zu überlegen. Shit. Soll er den Jüngeren umarmen? Ein lässiger Handschlag? Oder einfach nur freundlich zu nicken?

Jimin nimmt ihm die Entscheidung ab, in dem er seinen Oberkörper in einer förmlichen Verbeugung tief senkt. Yoongi beeilt sich damit, es ihm gleichzutun.
„Schön dich kennenzulernen, ich bin Jimin", erklärt der Junge aus Busan mit einem verschmitzten Grinsen.
„Yoongi", erwidert er automatisch.
„Ich weiß", grinst der Blonde nun noch ein wenig breiter, „ist ja nicht so, als würden wir uns bereits kennen."

„Du bist rotzfrech, hat dir das schon mal jemand gesagt? Zeig ein bisschen mehr Respekt, ich bin schließlich der Ältere von uns", sagt Yoongi und oh gott, er klingt schon wie Jin. Alarmstufe Rot, Nervositätslevel hat die maximale Stufe erreicht.

Denn heilige Mutter Gottes, Maria und Josef und wie dieses ganze religiöse Zeit auch immer gehen mag (Yoongi hat sich nie viel daraus gemacht) vor ihm steht die personifizierte Sünde. Jimin trägt ein schwarzes Seidenhemd (Seide – ernsthaft? Muss das sein? Es sind verfickte 9 Grad in Daegu), welches mit roten Herzen und kitschigen Kussmündern bedruckt ist. Natürlich sind die obersten drei Knöpfe geöffnet und präsentieren stolz alabasterfarbene Haut und prominent hervorstehende Schlüsselbeine. Das Hemd steckt locker in einer roten Stoffhose, die von einem schwarzen Gürtel auf den schmalen Hüften festgehalten wird. Yoongis Fingerspitzen zucken, als würden sie danach greifen wollen und gucken, was passiert, wenn er den Gürtel öffnet und fuck, er sollte aufhören zu starren, aber wie soll das gehen? Jimin ist ein verdammtes Klischee.
„Entschuldige Hyung", erklärt sich die Gottheit vor ihm, „ich bin nur ein bisschen nervös dich kennenzulernen und dann spricht mein Mund oft schneller, als mein Kopf denken kann. Ich wollte dich nicht verärgern."

„Hast du nicht", reagiert Yoongi umgehend, „ich bin es nur gewohnt, dass ich selbst derjenige mit dem vorlautesten Mundwerk bin." Und kurz darauf: „Hast du dir die Haare gefärbt?"
„Oh, das ist dir aufgefallen?", erkundigt sich Jimin mit einem glücklichen Lächeln.
„War nicht so schwer. Du hattest sie doch vorher schwarz, oder?", erwidert der Ältere möglichst unbeteiligt. Es muss ja nicht sofort offensichtlich sein, dass er jedes Video und jedes Instagramfoto des Sängers einer eingehenden Betrachtung unterworfen hat.
„Ja, vorher waren sie schwarz. Aber ich färb meine Haare ziemlich häufig. Ich mag Veränderungen. Gefällt dir blond?", fragt Jimin mit einem unschuldigen Augenaufschlag. Er flirtet, oder? Interpretiert Yoongi das richtig?
„Es ist... hübsch", antwortet er gedehnt und gibt sich viel Mühe dabei, andere Bezeichnungen wieder runterzuschlucken und keine ausschweifende Hymne auf das Idealbild Park Jimin anzustimmen. Dafür ist es eindeutig zu früh.

Die Reaktion auf seine weit untertriebene Aussage ist ein strahlendes Lächeln. Und Yoongi fällt erst jetzt auf (wie konnte er das auf den ersten Blick nur übersehen?): Jimin ist geschminkt, er ist tatsächlich geschminkt, mit glänzendem Lipgloss und dunklem, Lidschatten und allem und okay, das ist der Overkill für Yoongi, denn er ist diesem Gesicht schon online verfallen und in der Realität trifft ihn die überwältigende Schönheit des Jungens nur noch härter. Fuck. Vielleicht hätte er selbst zumindest seine dunklen Augenringe mit etwas Concealer überdecken sollen. Er fühlt sich ein wenig heruntergekommen neben diesem Topmodel-Verschnitt neben ihm.
„Frierst du nicht?", startet Yoongi den kläglichen Versuch, die abgebrochene Unterhaltung wieder in Gang zu bringen. Die vorherige Erkenntnis hat ihn für einen kurzen Moment aus der Bahn geworfen.
„In Busan sind die Temperaturen noch ein wenig milder. Ich hab nicht dran gedacht, eine Jacke mitzunehmen", erklärt Jimin achselzuckend.

Ein lautloses Seufzen entweicht Yoongis Lippen, bevor er kommentarlos damit beginnt, seine eigene Jacke auszuziehen, um sie dem blonden Jungen zu reichen.
„Du kannst meine anziehen", erklärt der Ältere überflüssigerweise.

„Aber frierst du dann nicht?", erkundigt sich Jimin mit großen, überraschten Augen.
„Ist nicht weit bis nach Hause. Ich werds überleben. Aber wenn du morgen krank bist und deine Stimmbänder belegt sind, war der ganze Besuch für die Katz."

Seine Erklärung wird widerstandslos akzeptiert und Jimin bedankt sich überschwänglich, während er seine Reisetasche abstellt, um sich die angebotene Jacke überzuziehen.

Danach greift nun wiederum Yoongi, in der festen Absicht, sie für den blonden Jungen nach Hause zu tragen.

„Fertig? Dann lass uns gehen, es liegt viel Arbeit vor uns", sagt er und dreht sich gleichzeitig auf dem Absatz um, um den Weg nach Hause einzuschlagen. Die wartende Arbeit ist nicht unbedingt ein Vorwand, um den plötzlichen Aufbruch zu erklären, aber Yoongi friert wirklich und vielleicht (also eine so unwahrscheinliche Möglichkeit, dass sie es kaum wert ist, überhaupt genannt zu werden) sieht Jimin in seiner Lederjacke auch ein bisschen zu sehr nach Yoongis Eigentum aus, als dass er in der Lage dazu wäre, dem Anblick lange tatenlos standzuhalten.

„Aber Hyung, du musst doch nicht auch noch meine Tasche tragen", echauffiert sich Jimin, als er bemerkt, dass sein Gepäck bereits anderweitig transportiert wird.

„Ich bin der Ältere von uns Beiden, schon vergessen? Das ist eine Sache des Anstands", erklärt Yoongi möglichst teilnahmslos und versucht sich selbst einzureden, dass sein Verhalten nichts mit der sinnlichen Anziehungskraft zu tun hat, die der Sänger auf ihn ausübt.

„Ich wusste gar nicht, dass du so anständig bist"

Bin ich auch nicht, will Yoongi dringend erwidern und ihm liebend gerne plastisch darstellen, wie unanständig er sein kann (auf Wunsch auch hier, mitten in der Öffentlichkeit, denn scheiß auf gesellschaftliche Konventionen und Einschränkungen), aber er verbietet sich selbst das Mundwerk, denn es geht hier darum einen Song aufzunehmen, einen Song! Also ein bisschen mehr Contenance und Zurückhaltung bitte. Deswegen konzentriert er sich darauf, einen desinteressierten Gesichtsausdruck aufzusetzen und schweigend dem Weg nach Hause zu folgen.

„Du riechst gut, Hyung", unterbricht Jimin die angenehme Stille zwischen ihnen mit einem schüchternen Lächeln, als er seine Nase aus Schutz vor der Kälte in dem rauen Stoff der Lederjacke vergräbt.

Okay, game over. Yoongi ist endgültig verloren.

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Die beiden Musiker sind überraschend produktiv, nachdem sie Yoongis Homestudio betreten haben. Sie haben auf dem Nachhauseweg noch etwas zu essen gekauft und sich danach frisch gestärkt dem eigentlichen Grund ihres Treffens gewidmet. Die professionelle Aura des Raumes scheint sich auf ihre Gemüter zu übertragen, denn alle flirtigen Vibes sind augenblicklich verschwunden, als Yoongi in einer routinierten Bewegung seinen Computer angeschaltet hat.

Der Musiker erklärt zunächst mit neutraler Professionalität, welche Nachricht durch seine Musik transportiert werden soll und obwohl sie bereits vorher darübergeschrieben haben, funkelt so aufrichtiges Interesse in Jimins Augen, dass Yoongi jeden Gedankengang noch einmal detailliert beschreibt.
Danach spielt er ihm das Intro, die Melodie und die eigenen Rapparts vor, die bereits in den vergangenen Tagen komponiert und aufgenommen wurden.
„Du bist unglaublich talentiert, Yoongi-Hyung", fasst Jimin das Zwischenergebnis schließlich mit begeisterter Stimme zusammen.
„Ich geb mir Mühe", erklärt Yoongi mit einer Bescheidenheit, die nicht zu seinem Alter Ego Agust D passt. Vielleicht sollte er den Song tatsächlich unter einem anderen Synonym veröffentlichen. Aus dem ganzen Track spricht eigentlich nicht die bodenlose Arroganz und grenzenlose Wut, die normalerweise Agust Texte ausmacht. Aber darüber sollte er erst mit Jimin sprechen, wenn die Aufnahmen abgeschlossen sind und So Far Away seine endgültige Version erreicht hat.

„Nein wirklich, ich meins ernst. Das Lied ist überwältigend", betont Jimin erneut. Eine zwanglose Aufrichtigkeit tropft aus jeder Silbe.

„Dann lass ihn uns noch überwältigender machen. Bist du bereit für deinen Teil?"

Jimin nickt forciert und beginnt mit leichten Aufwärmübungen für seine Stimmbänder. Der Klang ist jetzt schon so honigweich, dass durch Yoongis Körper ein aufgeregtes Kribbeln fährt, welches ihn öfter überkommt, wenn er einfach weiß, dass er sich auf der richtigen Spur für eine perfekte Aufnahme befindet.

„Wie genau soll es klingen? Leise, laut, verzweifelt, traurig, träumerisch?", erkundigt sich Jimin, während er nach den Kopfhörern greift und sie mit einer geübten Bewegung überzieht.

„Sing es so, wie du es fühlst. Es wirkt nicht echt, wenn ich dir vorschreibe, was du dabei zu fühlen hast", antwortet Yoongi aufrichtig.
Jimin nickt verstehend und konzentriert sich anschließend mit geschlossenen Augen auf die Melodie, die ihm aus den Kopfhörern entgegenschallt. Seine Lippen formen dabei lautlos Worte, die später einen Teil des Refrains und des Outros bilden werden.

„Sag Bescheid, wenn du startklar bist."

Und das tut Jimin.
Er singt, als würde sein Leben davon abhängen.
Und was er dabei fühlt, ist ganz offenbar der Klang ungeträumter Träume.
Das Gefühl von Schnitten, die sich nicht nur auf der Oberfläche bemerkbar machen, sondern auch auf einem Herzen.
So far away
First Love
Yoongi weiß nicht, wie lange er noch professionell bleiben kann.

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„Woran hast du gedacht, als du gesungen hast?", traut sich Yoongi erst zu fragen, als sie umgeben von schützender Dunkelheit gemeinsam auf seinem breiten Bett liegen.

„Ich weiß es nicht so genau", beginnt Jimin zögerlich, „ich denke, vielleicht an die Träume, die ich verlernt habe, zu träumen." Seine Stimme bietet einer Traurigkeit ein Zuhause, die Yoongi aus dunklen Stunden an schwarzen Tagen selbst nur allzu bekannt ist.

„Wir dürfen nicht verlernen zu träumen", erklärt er bitter, schmerzlich an sich selbst erinnert.

„Ich weiß", erwidert Jimin, „dein Lied hat mich daran erinnert."
Und Yoongi spürt wie sich eine kleine Hand vorsichtig in seine schleicht. Seine Finger greifen dankbar zu und er drückt sie, mit einer sanften Stärke, die seine ganze Anteilnahme ausdrücken soll.
„Jetzt ist es unser Lied", stellt Yoongi fest.

Der Druck in seiner Handfläche wird erwidert.

„Möchtest du mir erzählen, von welchen Träumen, du nicht mehr träumen kannst?", fragt Yoongi die Dunkelheit.
„Wie redet man über die Dinge, über die man nicht sprechen kann?", antwortet sie ihm.

„Mhm... ich denke... mhm. Man muss einfach damit anfangen. Die Worte werden schon ihre eigene Ausdrucksform finden. Bei mir haben sie angefangen zu rappen."
„Du wirst wahrscheinlich weinen müssen", versucht Jimin zu scherzen, obwohl seine eigene Stimme bereits schwer von dem Gewicht unterdrückter Tränen ist.
„Naja", antwortet Yoongi bemüht um einen lockeren Tonfall, „dann heulen wir wenigstens beide, oder? Klingt ziemlich fair für mich."

Neben ihm ertönt ein Geräusch, dass irgendwo zwischen Kichern und Schluchzen anzusiedeln ist. Danach lautes Rascheln, welches einen Positionswechsel von Jimin begleitet. Yoongi weiß nicht, ob sich der Jüngere zu ihm gedreht hat, aber er dreht sich nun trotzdem seinerseits in Richtung des Sängers. Jetzt kann er sich zumindest einbilden, dass sie sich gegenseitig in die Augen schauen, obwohl die Dunkelheit um sie herum allumfassend ist.

Es dauert eine ganze Weile, bis Jimin leise damit beginnt seine Geschichte zu erzählen. Yoongi drängt ihn nicht und er unterbricht ihn auch nicht, stattdessen hält er seine Hand. Die ganze Zeit.
„Ich war noch nie ein sonderlich... gesunder? Ich weiß nicht wie ich es anders nennen soll... Junge. Ich hab oft die Schule geschwänzt und wenn du meine Lehrer gefragt hättest, hätten sie dir bestimmt erzählt, was für ein aufmüpfiges und freches Kind ich doch bin. Aber es hatte nichts mit rebellischem Verhalten zu tun. Ich bin nicht in die Schule gegangen, weil ich Schiss hatte. Ich kann dir nicht mal genau beschreiben, ob ich vor der Schule Angst hatte, den Lehrern, den Mitschülern oder sonst was. Ich weiß nur, dass ich manchmal aufgewacht bin und mich vor lauter Angst kaum bewegen konnte. Allein schon das Anziehen der Schuluniform hat mich so viel Kraft gekostet, dass ich danach weggelaufen bin, statt den Weg in die Schule tatsächlich anzutreten.
Es ist besser geworden, als Namjoon sitzengeblieben und dadurch in meine Klassenstufe gekommen ist. Du kennst ihn ja, er war aber auch schon früher immer ein wenig anders als die anderen. Er hat ziemlich direkt verstanden, dass ich nicht so häufig fehle, weil ich kein Bock auf die Schule hab, sondern dass mich andere Gründe davon abhalten. Also hat er es sich selbst zur Aufgabe gemacht, dafür zu sorgen, dass ich regelmäßig in die Schule gehe. Es hat einiges an Hin und Her gekostet, aber schließlich haben unsere Eltern zugestimmt, dass ich für ein paar Monate bei ihm wohnen durfte. Wenn ich mich vor Angst nicht rühren konnte, hat er trotzdem dafür gesorgt, dass ich meinen Arsch bewege. Es hat erstaunlich gut funktioniert. Danach hat er seine Eltern davon überzeugt, dass ich professionelle Hilfe brauche. Und seine Eltern haben dann wiederum meine davon überzeugt.

Kurz darauf hatte ich meinen ersten Termin bei einem Psychologen. Eine generalisierte Angststörung ist die erste Diagnose, die mir je ein Psychologe verpasst hat. Ich war zwölf oder so. Ich wusste nicht einmal, was der Begriff generalisiert überhaupt bedeutet. Aber ich hab Medikamente bekommen und mit denen ging es mir besser.
Anxiolytika haben sie mir verschrieben, was einfach lächerlich ist, in Anbetracht der Tatsache wie jung ich noch war. Damals hab ich mir allerdings nicht so viele Gedanken darüber gemacht. Es hat geholfen und das war alles, was gezählt hat. Ich hab meine Therapietermine wahrgenommen, konnte wieder in die Schule gehen und war auch bald so weit, dass ich wieder zurück zu meinen Eltern ziehen konnte.
Man könnten meinen, dass die schlimmste Phase überstanden war.
Weißt du, was Anxiolytika sind? Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff Angstauflöser. Und genau das haben sie gemacht. Wenn ich Angst hatte, hab ich einfach die magischen Pillen geschluckt und puff, meine Angst war verschwunden. Deswegen hab ich viel zu viel von den Dingern genommen und meinen Psychologen angelogen, damit er mir noch mehr davon verschreibt. Und puff – drei Jahre später war ich super abhängig von dem Zeug.

Die Entzugstherapie wurde stationär durchgeführt. Ich glaub, ich hab mich noch nie so beschissen gefühlt wie zu dieser Zeit. Die Angst war plötzlich wieder da und ich konnte nicht mehr einfach so zu meinen magischen Pillen greifen. Das war ziemlich scheiße. Also hab ich nach anderen Mitteln und Wegen gesucht.
Ich hab angefangen mich selbst zu verletzen, weil ich mich selbst und meine beschissene Bewegungslosigkeit verabscheut hab. Guck, ich wusste immer, dass es objektiv gesehen keinen Grund für meine Angst gab. Ich hab so oft versucht, meine Angst wegzurationalisieren. Mir selbst gut zuzusprechen und jede komische Entspannungsübung gemacht, die mir in jahrelanger Verhaltenstherapie eingetrichtert wurde.
Es hat nicht unbedingt geholfen.

Aber das Schneiden hat geholfen. Wenn das Blut von meinen Armen herablief, hatte ich wenigstens irgendwie das Gefühl, dass sich doch noch ein Teil von mir bewegen kann, egal wie sehr ich mich in meinen Angstzustand hereingesteigert hab. Und wenn sich noch irgendetwas bewegt, dann ist da noch Hoffnung, oder? Für mich fühlt sich Schneiden nicht nach Schmerz an, sondern nach Hoffnung. Vielleicht komm ich deswegen nicht davon weg, denn Hoffnung ist doch was Gutes, oder? Und ich hab nicht viel davon an anderen Stellen gefunden.
Das Selbstverletzen war trotzdem nicht unbedingt gut, denn im Endeffekt hab ich die eine Sucht nur durch eine andere ersetzt. Ich wurde trotzdem entlassen, nur um ein paar Monate später erneut in der geschlossenen Abteilung zu landen.
Diesmal hatte ich es mit dem Schneiden übertrieben und bin im Bad ohnmächtig geworden. Meine Eltern haben mich gefunden und ich wurde in hellster Aufregung und blinder Panik in ein Krankenhaus eingeliefert. Natürlich hat man mir nicht geglaubt, dass ich nur ausversehen zu tief geschnitten habe und es kein Selbstmordversuch war. Also wieder Therapie, neue Psychologen, neue wundersame Methoden, die den armen, kaputten Jungen wieder zusammenflicken sollten.

Es hat noch ein paar Jahre gedauert, bis ich tatsächlich das erste Mal versucht habe mich umzubringen. Anlass dafür war der Tod meines Papas. Er ist kurz davor schwer krank geworden und es hat nicht lange gedauert, bis die Krankheit ihn dahingerafft hat. Ich hab mir unglaubliche Vorwürfe gemacht, dass ich derjenige war, der ihn krankgemacht hat. Durch die vielen Sorgen und den vielen Kummer, dem ich ihn jahrelang bereitet habe.
Er ist an meinem Geburtstag gestorben, weißt du. Also nicht direkt, so ungefähr zehn Minuten nach Mitternacht. Ich war vorher am Tag im Krankenhaus und hab ihn besucht, wir haben noch ein relativ normales Gespräch geführt. Nachts ist nur Mama im Krankenhaus geblieben, ich musste immer nach Hause, damit ich die Schule nicht schon wieder vernachlässige. Er hat kurz nach Mitternacht nach der Uhrzeit gefragt. Dann hat er die Augen zugemacht und nie wieder geöffnet. Er war zu diesem Zeitpunkt schon so voll gepumpt mit Morphium, dass die Ärzte gar nicht mehr dran geglaubt haben, dass er überhaupt noch etwas von seiner Umgebung mitbekommt. Tja. Falsch gedacht.
Ich hab versucht es zu verarbeiten, wirklich. Hab freiwillig zu meinem Therapiesitzungen noch ne zusätzliche Selbsthilfegruppe besucht und all meine Kraft darin investiert, wieder einigermaßen klarzukommen. Ich wollte meiner Mama nicht noch mehr Kummer bereiten, als sie bis dahin schon ertragen musste. Ich wollte sie nicht auch noch krankmachen und verlieren.
Naja, ich bin nicht klargekommen. Egal wie sehr ich es auch versucht habe. Also wollte ich mich nicht mehr anstrengen müssen und irgendwann war mir plötzlich alles egal und ich hab die Entscheidung getroffen, dass ich sterben muss.
Das war letztes Jahr. Ich war schon von Zuhause ausgezogen und wollte meinen Mitbewohnern das Blutbad ersparen, also hab ich Tabletten genommen. Es hat ne Weile gedauert, bis die Wirkung eingesetzt hat und ich kann mich heute auch nicht mehr selbst dran erinnern und kenn die Geschichte nur aus den Erzählungen von anderen. Scheinbar hab ich im Delirium Namjoon angerufen, um mich zu verabschieden. Er glaubt bis heute fest daran, dass ich mich nicht wirklich verabschieden wollte, sondern stumm um Hilfe gefleht hab. Ich glaub nicht daran, denn wir hatten zu dieser Zeit echt kaum Kontakt miteinander. So wenig, dass ich, glaub ich, davon ausgegangen bin, dass er nicht mal weiß, wo ich momentan wohne.
Jedenfalls hab ich ihm erzählt, dass ich Tabletten genommen habe und dass die Welt in wunderbaren, bunten Schlieren langsam vor meinen Augen zu verschwimmen beginnt. Daraufhin hat er die ganze Welt in Bewegung versetzt, um meinen Standort ausfindig zu machen und kurz darauf haben Sanitäter und die Polizei unsere Wohnungstür aufgebrochen und mir noch vor Ort meinen Magen ausgepumpt. Keine Ahnung, wie es genau abgelaufen ist. Wie gesagt, ich kann mich nicht mehr selbst dran erinnern.
Ich bin erst wieder im Krankenhaus zu mir gekommen und mein erster Gedanke war: Fuck, nicht schon wieder Therapie.
Ich wollte immer noch sterben und hab mich weiter geschnitten, doch nie so tief, dass es tatsächlich lebensbedrohlich geworden ist. Meine Haut musste in der Zeit oftmals geklammert werden und so sind die ganzen extrem hässlichen, riesigen Narben entstanden. Nicht, dass die anderen schöner anzusehen wären, aber naja. Ich weiß auch nicht, den letzten Zentimeter, damit die Wunde mich wirklich in eine andere Dimension schicken würde, hab ich nie geschafft. Meine Hand hat dann immer so gezittert, dass ich die Rasierklinge oder das Messer oder die Scherbe oder was auch immer ich so gefunden habe, fallen lassen musste.
Es war die längste stationäre Behandlung, die ich je besucht habe. Aber auf wunderbare Art und Weise hat sie tatsächlich irgendwann begonnen zu helfen.
Vor sechs Monaten wurde ich entlassen. Seitdem ist es besser geworden, wirklich. Ich hab nen neuen Mitbewohner bekommen, mit dem ich mich gut verstehe. Das hilft mir viel. Taehyung, heißt er. Ich hab auch wieder mehr Kontakt zu Namjoon, obwohl unser Verhältnis wohl trotzdem irgendwie dauerhaft geschädigt ist. Aber wir probierens und ich hab gelernt, dass das wohl alles ist, was zählt.
Außerdem hab ich mich in nem Kurs eingeschrieben, um meinen Schulabschluss nachzuholen. Ich geh ziemlich regelmäßig hin, was immerhin schon mal mehr ist, als ich in den letzten Jahren zustande gebracht hab. Meine Noten sind ziemlich gut, deswegen hoff ich echt, dass ich es packen kann.
Und ja, insgesamt ist das alles wohl ne ziemlich beschissene Geschichte, aber es ist nun mal meine. Tut mir leid. Irgendwo zwischen Schule schwänzen, dem fünften Psychologen, der hundertsten Pille und dem siebzehnten Schnitt, hab ich wohl damit aufgehört zu träumen. Davon zu träumen, dass ich irgendwann ein gesunder, junger Mann sein werde, der nicht mehr vor Angst gelähmt in der Ecke sitzt oder sich die Unterarme aufreißen muss, weil er sich selbst nicht ausstehen kann. Es verbaut einem ziemlich viele Möglichkeiten, wenn dein Lebenslauf mehr stationäre Klinikaufenthalte aufweist, als besuchte Jahre in der Schule. Das kannst du dir sicher vorstellen. Ich weiß nicht mehr, wovon ich noch träumen kann. Vielleicht hat mich dein Lied deswegen so berührt.
Ich lebe, weil ich nicht sterben kann.
Mh, ja. Ich denke, dass das meinen Zustand ganz gut beschreibt."

„Ich bin so froh, dass du noch lebst", sind die einzigen Worte, die Yoongi noch zu sagen im Stande ist und er spricht sie mit offenem Herzen, erstickter Stimme und feuchten Spuren auf der Wange.

Er überbrückt die letzte Distanz, die zwischen ihnen noch geherrscht hat (denn alle inneren Mauern sind längst eingerissen wurden), indem er sich mit seiner anderen Hand (die, die Jimins Hand nicht so eisern festhält) vorsichtig durch die Dunkelheit tastet, bis er Jimins Gesicht unter seinen Fingerspitzen fühlt. Dann beugt er sich in einer einzigen Bewegung nach vorne und presst seinen Mund endlich auf die vollen Lippen seines Gegenübers.
Sie sind ganz nass und schmecken nach Salz und Kummer.
Seine Berührung wird mit einer Art verzweifelter Gier erwidert.

Und Yoongi wird genau in diesem Moment erneut bewusst, dass wirklich jeder Mensch mit einer Disposition geboren wird. Und Jimin, ja, der arme, traurige Jimin ist wohl mit der unglücklichsten Disposition geboren wurden, die sich Yoongi nur vorstellen kann. Denn Jimin besitzt die Disposition zum Schmerz.



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Hello Peeps!

Zwischenton ist für mich ein absolutes Herzensprojekt. Daher freue ich mich ganz besonders, über Rückmeldungen jeglicher Art!!  

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