Mixtape Side A - [Seesaw]
Vielen Dank liebe @MinNishinoya für deine Empfehlung heute <3
Der Upload heute ist für dich.
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Kapitel 5 - Mixtape Side A - [Seesaw]
Der KTX 238 aus Busan fährt nun auf Gleis 3 ein. Bitte treten Sie zurück. Weiterfahrt Richtung Seoul.
Yoongi zündet sich eine weitere Zigarette an. Aber diesmal ist es nicht aus Nervosität, sondern eher aus freudiger Erwartung, um das Kribbeln zumindest etwas zu unterdrücken, was sich auch in der letzten Nervenzelle seines Körpers penetrant festgesetzt hat.
Jimin besucht ihn heute zum dritten Mal innerhalb eines Monats, was letztendlich nur bedeutet, dass sie jede freie und auch die nichtfreien Minuten miteinander verbringen, seit sich ihre Münder zum ersten Mal berührt haben. Denn irgendwie war es nicht nur die körperliche Berührung, die letztendlich zur Verbundenheit geführt hat, weil sich dazwischen auch ihre Herzen berührt haben und man kommt doch recht schlecht von dem Gefühl los, was sich in einem ausbreitet, wenn Park Jimins Blick von roher Verletztheit spricht und sich in aller Offenheit vor ihm ausbreitet. Yoongi ist beinah physisch abhängig davon.
Trotz der zahlreichen Intimitäten, die sie zwischenzeitlich ausgetauscht haben (und die nicht nur rein körperlicher Natur waren, aber natürlich auch, denn Jimins Körper zu erkunden ist beinah ein sakrales Ereignis), haben sie noch nicht darüber gesprochen, wie ihr Verhältnis zueinander zu bewerten ist. Ob sie sich zu einer festen Bindung haben hinreißen lassen oder lediglich eine lockere Affäre (dieses Wort wirkt plötzlich so lächerlich, wenn es dazu dienen soll, eine Form tiefer emotionaler Verbundenheit zu beschreiben) miteinander führen, erscheint wie ein unbedeutendes Detail angesichts des überwältigenden Hochgefühls, was von Yoongi Besitz ergreift, wenn er an den perfekten Jungen mit den plumpen Lippen und dem schiefen Schneidezahn denkt. Seit er Jimin kennengelernt hat, schlägt sein Herz einen schnelleren Takt und selbst der kalte Novemberwind kann die warmen Gedanken nicht mehr aus seinem Körper vertreiben.
Yoongi hat sich nie für einen besonders optimistischen, lebensbejahenden Typen gehalten. Doch mit Park Jimins Präsenz in seiner Seele, sind die Arbeitsstunden weniger lang (denn manchmal tarnt sich Jimin als Zuhörer und sie nutzen die musikalische Debatte als Vorwand, um gegenseitig im Klang ihrer Stimmen zu vergehen), die Farben bunter (Yoongi hat sogar ein rotes Shirt in seinem ansonst so schwarzen Kleiderschrank gefunden. Er trägt es nun öfter. Jimin mag rot. Es macht ihn an) und die nagende Traurigkeit (diese genuine Charaktereigenschaft wird der Musiker niemals in ihrer Gesamtheit loslassen können) weniger belastend.
Und er würde auch gerade gänzlich in seiner Gedankenwelt versinken, wenn ihm da nicht aus der grauen Masse von identitätslosen Individuen ein bekanntes (und schmerzlich herbeigesehntes) Gesicht entgegenblitzen würde. Park Jimin trägt seine Haare nun rosa (beim ihrem zweiten Treffen waren sie noch orange gefärbt, aber langsam gewöhnt sich Yoongi an den immer wechselnden Regenbogen). Und anstatt dazu eine gedeckte Farbwahl der Kleidung zu kombinieren, erstrahlt seine Jacke in einem hellen Babyblau. Der Art des Stoffes nach zu beurteilen, wurde die Jacke wohl aus Wolken gefertigt, denn anders kann sich Yoongi die fluffige Beschaffenheit nicht erklären.
Das Babyblau steht im krassen Kontrast zu den rosanen Haaren und wäre Yoongi dem Jüngeren nicht jetzt schon so maßlos verfallen, dann hätte er die Kombination sicherlich als fragwürdig bewertet und mit einer hochgezogenen Augenbraue stumm verurteilt. So erinnert ihn Park Jimins Erscheinungsbild nur an einen warmen Sonnenuntergang im Juni. Denn so ist das mit dem Jungen, mit den plumpen Lippen und dem schiefen Schneidezahn, er bringt den Sonnenschein auch an dunklen Tagen. Yoongi friert auf diesem tristen Bahnhofsplatz Ende November bis in die Tiefen seines Knochenmarks, schwere graue Wolken bedecken den Himmel und lassen die gesamte Szenerie noch trostloser erscheinen und trotzdem fühlt er die wärmenden Strahlen der Junisonnen. Sie blitzen in jedem schüchternen Lächeln funkelnd auf, welches ihm Park Jimin widmet.
Yoongi lässt die halbaufgerauchte Zigarette anstandslos auf den Boden fallen und betrachtet den Jüngeren mit einem jahrelang erlernten und in Anbetracht der Situation nur schwerlich zu erhaltenen, desinteressiertem Gesichtsausdruck. Seine Augenbraue hebt sich dabei unmerklich, deutet eine Skepsis an, die überhaupt gar nicht vorhanden ist. Seine Mundwinkel bilden eine geraden Linie und verschließen jegliche Emotion hinter erprobter Maskerade.
Als der warme Sonnenuntergang mit den rosa Haaren direkt vor ihm zum Stehen kommt, bleibt das Pokerface erhalten, auch wenn sein Herz ein wildes, vorfreudiges Crescendo anstimmt. Yoongi betrachtet Jimin aus den gewohnt ausdruckslosen Augen und zwingt seine Hände mit beinah roher Gewalt dazu, in ihrer Position zu verharren, um die gottgegebene Sünde vor ihm nicht in progressiver Euphorie an sich zu reißen.
Und Jimins charmantes Lächeln schwankt keine Millisekunde, als er mit dem süßesten aller Grinsen und einer nervösen Handbewegung seine Haare aus der Stirn streicht und in einstudierter Manier zu dem Älteren aufblickt.
„Hallo, ich bin Park Jimin", stellt er sich genauso vor, wie bereits die vergangenen drei Male.
„Min Yoongi", wird ihm unbeeindruckt und mit der Intensität eines längst verhallten Pistolenschusses entgegnet.
„Ich weiß", grinst der Jüngere unbeeindruckt der rauen Erwiderung. Seine Augen glänzen dabei so berührt, als hätte ihm jemand gerade sein eigenes Herz vorgestellt.
„Ich auch", sagt Yoongi und dann bröckelt seine Fassade (er konnte sich in Jimins Gegenwart noch nie sonderlich lange beherrschen) und aus der gespielten Ignoranz wird ein aufrichtiges Lächeln, was nur ansatzweise zum Ausdruck bringt, wie sehr man sich nach einer Person verzehren kann. Er zieht Jimin ungestüm an sich heran und das amüsierte Kichern nah an seinem Ohr, erinnert ihn an ein Liebeslied, dass er nie zuvor gehört hat.
„Du kannst mich hier nicht so umarmen und küssen. Hier sind so viele Menschen", bringt der Jüngere atemlos hervor, aber er ist Yoongi dabei ganz nah und die Jacke besteht scheinbar tatsächlich aus Wolken, so weich wie sie ist und vielleicht ist das auch nur der letzte Beweis dafür, dass Jimin wirklich vom Himmel geschickt wurde (und verflucht, Yoongi ist eigentlich nicht kitschig, echt nicht. Als stichhaltigen Beweis kann er die zahlreichen Disstracks von Agust D vorweisen).
„Wegen mir kann uns ganz Daegu dabei zugucken, wie ich dich küsse und es wäre mir immer noch scheißegal", antwortet Yoongi genauso atemlos, bevor er die letzten Millimeter zwischen ihnen überbrückt, um die plumpen Lippen mit seinen eigenen zu okkupieren. Trotz des vorherigen, verbalen Einwandes, zeigt Jimin erstaunlich wenig Gegenwehr, sondern zerfließt nahezu unter den Berührungen des Älteren. Als sie sich voneinander trennen, sind seine Wangen in ein zartes Rot getaucht, welches sich noch schlimmer mit seiner Haarfarbe beißt, als die Jacke es tut. Und er ist so wunder, wunderschön dabei.
„Hast du mich so sehr vermisst?", haucht Jimin, ihre Münder immer noch so dicht beieinander, dass Yoongi die Worte auf seinen eigenen Lippen schmecken kann. Die Antwort besteht aus einem tiefen Blick und einem weiteren leidenschaftlichen Kuss, denn ja, natürlich hat er ihn vermisst und nein, das wird er sicherlich nicht laut aussprechen.
„Ich hab dich auch vermisst", flüstert Jimin, denn er ist der Typ Mensch dafür, die banalen Gefühlsbekundungen zu verbalisieren und nicht nur zu denken. Als Reaktion darauf möchte er eigentlich die Augen verdrehen oder zumindest einen latent genervten Eindruck vermitteln, indem er seinem Gesicht einen skeptischen Ausdruck verleiht, doch die einzige, körperliche Reaktion, zu der Yoongi im Stande ist, besteht aus prickelnder Gänsehaut und einem warmen Schauer, der über seinen Rücken zieht.
„Lass uns nach Hause gehen", murmelt er, damit er nicht auch damit beginnt, seine Emotionen in herzerwärmender Offenheit zu verlautbaren, „ich will dich nackt in meinem Bett."
Das Rot auf Jimins Wangen vertieft sich und verleiht damit seinem gesamten Aussehen einen entzückenden Touch von Unschuld (was ebenso geschauspielert sein dürfte, wie Yoongis desinteressiertes Pokerface).
„Hyung", echauffiert sich der Jüngere da auch schon, „was ist, wenn uns jemand zuhört?"
„Dann weiß derjenige nun, dass er sich keine Chancen bei dir ausmalen braucht, weil dein reizendes Hinterteil bereits für mich reserviert ist", entgegnet Yoongi unbeeindruckt und schlingt stattdessen seinen Arm besitzergreifend um die Taille seiner Junisonne an kalten Novemberabenden. Die Blicke der Passanten sind ihm dabei zwar bewusst, aber ebenso egal. Er konnte sich seiner provokanten Ader noch nie entbehren und mit Jimin an seiner Seite fühlt er sich unantastbar.
Dessen aufkeimender Protest wird im Keim erstickt, als sich Yoongi mit einem resoluten Blick erneut ihm zuwendet: „Lass dich nicht so von der Gesellschaft determinieren, okay? Nur weil Konventionen existieren, heißt das nicht automatisch, dass sie auch gut sind. Niemand darf sich das Recht herausnehmen, mir vorzuschreiben, wann ich wen wo küssen darf oder nicht. Das ist meine autonome Entscheidung. Und wenn ich dir auf öffentlicher Straße mitteilen will, dass dein nackter Körper unter mir gerade zu meiner höchsten Maxime aufgestiegen ist, dann ist das auch meine eigene Entscheidung. Ohne Witz, scheiß drauf, was irgendwelche Fremden darüber denken oder gar dazu sagen würden. Die meisten von denen sind eh solche Schlappschwänze, dass sie sich niemals trauen würden tatsächlich den Mund aufzumachen. Und jetzt lass uns endlich nach Hause gehen, damit meine feuchten Träume endlich wieder Realität werden können."
Jimins Blick schwankt zwischen unverhohlener Bewunderung für Yoongis kompromisslose Attitüde und stummer Scheu, dass rebellische Verhalten einfach so zu akquirieren. Letztendlich lässt er sich aber widerstandslos von dem Älteren in Richtung seiner kleinen Wohnung ziehen, die sich auch für den Rosahaarigen beängstigend schnell wie ein Zuhause anfühlt.
Die ersten Schritte tätigen sie schweigend, bis Jimin mit einem frechen Grinsen die ruhige Harmonie zwischen ihnen durchbrechen muss.
„Hyung?", fragt er mit mehr Amüsement als Respekt in der Stimme und Yoongi ist jetzt schon bewusst, dass die eigentliche Frage rhetorischer Natur sein wird.
„Ja?", antwortet er trotzdem, lediglich eine höfliche Bekundung seiner Aufmerksamkeit.
„Du träumst von mir?"
Als Antwort zwickt ihn Yoongi mit einer raschen Bewegung in die Seite.
Jimin quiekt dabei empört auf (manchmal erinnert seine hohe Stimme wirklich fast an eine Frau) und springt einen ganzen Schritt zur Seite: „Hey, du hast es eben selbst zugegeben!"
Dieses Mal rollt Yoongi hyperbolisch mit seinen Augen und eigentlich, das wissen sie ja beide, ist es nur eine andere Art von stillem Eingeständnis.
Zwei Stunden später ist die unverhohlene Ankündigung wahrgemacht wurden.
Die Sonne ist mittlerweile vollständig hinter dem Horizont verschwunden und hat die tristen Schatten einer grauen, dreckigen Stadt unter schwarzer Dunkelheit begraben. Yoongi und Jimin haben sich nackt unter der Bettdecke verkrochen und darauf verzichtet jegliche Lichtquellen zu aktivieren. Sie unterhalten sich mit leisen Flüstern und die Berührung ihrer Körper und das sanfte Streicheln ihrer Finger, ersetzt einen visuellen Eindruck nahtlos. Im schützenden Mantel der Nacht sind sie sich noch viel näher als bei Tageslicht, denn alle Sinneseindrücke fokussieren sich auf das jeweilige Gegenüber, so forciert, dass sich auch ihr Herzschlag synchronisiert. Ihr Herz schlägt jetzt denselben Takt, während Jimin mit einem schwerelosen Lächeln in der Stimme von seinem bisherigen Wochenverlauf berichtet. Yoongi hört mit geschlossenen Augen zu, denn es würde ohnehin keinen Unterschied machen. Dafür arbeitet sein Hörsinn nur umso konzentriert, damit ihm kein Zwischenton entgeht. Denn die Zwischentöne erzählen manchmal die eigentliche Geschichte.
Jimin kichert gerade und Yoongi kann nicht anders, als bei dem Geräusch innerlich vor Zuneigung zu zergehen.
„Und mit Taehyung war ich diese Woche wieder beim Tanztraining. Er sagt, dass ich mittlerweile so gut bin, dass ich unbedingt in meinem nächsten YouTube-Video auch tanzen sollte und nicht nur singen. Aber ich weiß noch nicht, ob ich mich das traue", erklärt er und seine Stimme kann sich dabei nicht entscheiden, ob sie selbstbewusst oder verunsichert klingen soll.
„Mhm", brummt Yoongi als Reaktion, „vielleicht solltest du mal vor mir tanzen, damit ich das beurteilen kann", ist sein uneigennütziger Vorschlag.
„Und deinem Urteil kann ich dann vertrauen?", fragt Jimin herausfordernd.
„Natürlich. Ich bin Musikproduzent, ich weiß, was sich gut vermarkten lässt", erklärt der Ältere trocken.
„Mhhmmm", erwidert der Jüngere langgezogen, „Musik ist mir unheimlich wichtig, weißt du? Ich will es nicht versauen. Mein YouTube-Kanal läuft momentan erstaunlich gut und es ist so leicht, Fehler zu machen und damit hunderte Abonnenten auf einmal zu verlieren." Seine Stimmlage ist jetzt ernst und hat jeglichen Schalk verloren. Jimin hat die Grenze zwischen Selbstbewusstsein und Zweifel überschritten und sich für die Zweifel entschieden. Es verleiht ihrem Gespräch eine neugewonnene Ernsthaftigkeit, die anstandslos von Yoongi adaptiert wird.
„Mir ist Musik auch wichtig, vielleicht sogar überlebenswichtig. Und ich glaub, ich kann das sagen, ohne dass ich dabei übertreibe. Und trotzdem muss man manchmal etwas Neues ausprobieren, damit man sich weiterentwickeln kann und nicht stagniert. Es ist immer ein Risiko, aber ist es nicht genauso risikoreich, immer gleich zu bleiben und damit irgendwann zu langweilen?", stellt er als diskutable These in den Raum.
Und Jimin schweigt zunächst, weil er wirklich über diese Möglichkeit nachdenkt und darüber ins Grübeln gerät.
„Ach man", gesteht er schließlich seine Kapitulation ein, „wahrscheinlich hast du Recht. Aber es ist trotzdem müßig mit dir darüber zu reden, weil du so viel besser in dem bist, was du tust. Und ich dachte schon, ich hätte in Namjoon meinen ärgsten Konkurrenten gefunden."
„Mh?!", entfährt Yoongi ein Laut der Überraschung, „ist Namjoon nicht dein bester Freund? Solltest du ihn dann nicht viel mehr als Unterstützung, anstatt als Konkurrenz ansehen?"
„Jaaaaa", antwortet der Jüngere gedehnt, doch alles an seiner Stimmlage bedeutet Widerwille. „Natürlich ist er mein bester Freund, aber das macht ihn nicht weniger zu meinem Konkurrenten. Das war schon immer so, seit der Grundschule, seit wir uns kennen eben. Zuerst ging es nur um so simple Sachen, wie wer hat die besseren Noten? Das war noch gute Konkurrenz, wir haben uns gegenseitig gepusht und angetrieben."
„Und worum geht es jetzt?", hakt Yoongi ehrlich interessiert nach.
„Im Moment hält es sich ehrlich gesagt eigentlich in Grenzen. Vielleicht auch deshalb, weil dieser Konkurrenzgedanke nur von mir kommt und vielleicht gar nichts Wechselseitiges ist... Ich mein, dass wir uns gegenseitig pushen ist ja grundsätzlich nie was etwas Negatives gewesen und ich glaub, es hat auch erst mit fünfzehn oder sechzehn Jahren angefangen, einen bitteren Beigeschmack zu entwickeln. Namjoon hat in der Zeit damit angefangen, Mädels abzuschleppen. Als heteronormatives Beispiel hatte er es da auch ein bisschen einfacher als ich, erste Erfahrungen zu sammeln. Und ab da hab ich mich immer mit ihm verglichen und irgendwie immer schlechter abgeschnitten und gedacht, ich müsste irgendetwas tun, um ihn zu beeindrucken und mich selbst zu beweisen. Hab mich mutiger gegeben, als ich eigentlich war, Jungen angeflirtet, die ich gar nicht haben wollte und vielleicht auch ab und an ein bisschen was erfunden, damit meine Erzählungen spannender werden und mit seinen mithalten können...", gesteht Jimin mit leiser Stimme und ist doch noch nicht fertig mit seinen Ausführungen.
„Namjoon hat so eine Art perfide Freude dabei empfunden, wenn ich hirnrissige Aufreißergeschichten zum Besten gegeben hab. Ein Arschloch zu sein war damals sowas wie sein Hobby. Ich weiß, dass ist schwer zu glauben, wenn man nur sein musikalischer alter ego kennt, aber du musst wohl trotzdem zu geben, dass ihm eine gewisse Art von Überheblichkeit immer noch inhärent ist. Und genau die hat mich immer angestachelt, stachelt mich heute noch an und dass er so verdammt erfolgreich ist, mit allem was er tut, macht es nicht besser. Nur heute sind es nicht mehr die Eroberungen, sondern die Musik halt, mit der ich versuche, ihn zu übertrumpfen."
Aber du kannst doch gar nicht besser sein als er, will Yoongi im ersten Moment erwidern und meint damit ausschließlich den musikalischen Aspekt und eben auch die Unmöglichkeit, zwei vollkommen unterschiedliche Dinge miteinander zu vergleichen. Aber bevor sein Gedanke aus ihm herausbrechen kann, beißt er sich selbst so fest auf die Zunge, bis sich ein ganz schaler Geschmack in seinem Mund ausbreitet. Er schluckt ihn gemeinsam mit seinen Worten wieder runter, denn irgendwas sagt ihm, dass das die falschen Worte sind. Also lässt er sich einen Moment Zeit, bevor er sich für eine bedachtere Antwort entscheidet:
„Rap und Gesang sind zwei ganz unterschiedliche Kunstformen. Da ist es schwer Vergleiche zu ziehen, denn das eine kann nie besser sein als das andere und umgekehrt."
Jimin schweigt in die Dunkelheit hinein und Yoongi weiß nicht, ob das wirklich eine bessere Antwort war, doch immerhin halten sich ihre Körper aneinander fest und ihre Herzen schlagen einen Takt und vielleicht ist das ausreichend, zumindest für diesen Moment.
Es dauert eine ganze Weile, bis die fragile Stille zwischen ihnen erneut durchbrochen wird.
„Wurdest du schon mal gerettet, Hyung?", fragt Jimin diesmal und Yoongi weiß spätestens jetzt, dass dies der Beginn von einem dieser Gespräche ist, die sie beide nur im Schutz der Dunkelheit führen können, weil manche Dinge noch nicht bereit dazu sind, dass Licht des Tages zu erblicken (vielleicht werden sie das nie sein).
„Ich weiß nicht", beginnt der Ältere zögernd, denn er weiß es wirklich nicht. Aus der Retrospektive kann er sich an kaum einen Moment erinnern, an dem er hätte wirklich gerettet werden müssen. „Ich denke, wenn überhaupt, dann war ich selbst die Person, die mich gerettet hat", erklärt Yoongi stockend. Denn das Gefühl von monumentaler Trauer überflutet zu werden und daran zu ersticken, hat er immer nur mit sich selbst ausgemacht. Er hat an anderen Menschen die Symptome ausgelassen, sich in Ersatzemotionen geflüchtet und Verdrängungsmechanismen eingeübt, aber die Ursache hat er letztendlich immer selbst bekämpft und schlussendlich die Erlösung darin gefunden, in dem er damit aufgehört hat, dagegen anzukämpfen.
„Warum fragst du?", endet er schließlich und da bleibt so vieles zwischen ihnen ungesagt und nur gedacht, doch gerade jetzt ist sich Yoongi sicher, dass es um Jimins Geschichte geht und nicht um seine eigene.
„Das ist so bewundernswert, Hyung", erklärt Jimin aufrichtig. „Ich hab es nie geschafft, mich selbst zu retten. Da mussten immer andere eingreifen."
„Was genau meinst du damit?", fragt Yoongi, aber eigentlich möchte er sein Gegenüber nur dazu animieren weiterzusprechen.
„Nun, ganz offensichtlich war da am Anfang Namjoon, der mich bei sich aufgenommen und es geschafft hat, meinen Eltern zu verbalisieren, was sich selbst nie ausdrücken konnte, weil ich vor Angst ganz festgefroren war. Nur wegen ihm hab ich die professionelle Hilfe bekommen, die ich schon viel früher bitter nötig gehabt hätte. Und mal ganz von den Dingen abgesehen, die er damals schon für mich getan hat, ist er halt auch der Grund dafür, warum ich jetzt überhaupt noch da bin. Weil er meine Abschiedsnachricht ernstgenommen und alles in Bewegung gesetzt hat, was ging, um meinen Arsch aus dem Jenseits wieder in das Diesseits zu befördern. Irgendwie klingt das so banal und abgedroschen, wenn man sagt, er hat mein Leben gerettet, aber nun ja, das hat Namjoon wohl wortwörtlich doch getan und das nicht nur einmal.
Und dann ist da noch Tae, der nicht davon abgeschreckt wurde, eine Wohnung mit dem suizidalen Jungen zu teilen, sondern glücklich lächelnd den Haustürschlüssel akzeptiert hat und mich seitdem jeden Tag mit neuer Energie aus dem Haus jagt und dafür sorgt, dass ich nicht nur in meinem Zimmer versauere. Der mich mit zum Tanzen nimmt und mir Mut zu spricht und niemals aufgibt, mich zu motivieren. Und irgendwie ist das auch eine Art von Rettung, weißt du? Nicht ganz so plakativ wie die Art von Namjoon, aber mindestens genauso bedeutungsschwer.
Und dann kamst du, Min Yoongi, und hast die glorreichen drei Muskeltiere komplementiert. Und du rettest mich jeden Tag ein bisschen, auf wieder eine ganz eigene Art und Weise. Weil es nicht mehr so weh tut, seit ich dich kenne. Vorher hat immer alles so verdammt weh getan, irgendwie war mein ganzes Leben eine lose Verbindlichkeit verschiedener Schmerzen, die mich in ihrem Konglomerat unter sich begraben haben. Es ist nicht so, dass es komplett aufgehört hat wehzutun. Ehrlich gesagt, hab ich irgendwann auch den Glauben daran verloren, dass das jemals geschehen wird. Aber mit dir, da wird es plötzlich erträglich und jeden Tag ein bisschen erträglicher und ich weiß nicht, ob ich vielleicht wieder anfangen kann zu hoffen, dass es aufhören kann oder wird, aber für den Moment ist es auch so gut. Denn im Moment sind da Momente, wo ich wirklich glücklich bin. Und der Schmerz ist dann nur ein leiser Zuschauer, der sich bedrückt abwendet, weil er nicht mehr selbst als Protagonist im Rampenlicht der Bühne steht.
Ich weiß nicht, womit ich euch verdient habe, meine drei Musketiere. Aber ich bin so unglaublich dankbar euch zu haben und gleichzeitig hasse ich mich dafür, dass ich euch überhaupt so sehr brauche, weil ich nicht stark genug dafür bin, es allein zu schaffen. Du hast keine Vorstellung davon, was ich dafür geben würde, wenn ich mich, so wie du, auch mal auf mich selbst verlassen könnte und nicht immer nur auf andere angewiesen sein müsste. Ich hasse diese Abhängigkeit und das Wissen, um meine Schwächen, und irgendwie ist es verrückt, oder? Dass ich etwas hasse, wofür ich gleichzeitig so dankbar bin, oder?"
Jimin unterbricht sich selbst, doch Yoongi hört trotzdem nicht damit auf, ihm zuzuhören. Lauscht dem schnellen, hektischen Atem, der ihm verrät, dass der Jüngere sich gerade mit aller Kraft gegen seine eigenen Tränen aufbäumt. Spürt das Wimmern und das unterdrückte Schluchzen unter seinen Fingerspitzen, als er zunächst an seinen entblößten Armen, über seine Schultern und schließlich an seiner Wange entlang streicht.
Er hört so lange zu und malt so lange beruhigende Linien auf seinen Körper, bis sich Jimins Atem langsam wieder beruhigt und das Geräusch von Schmerz in den ungesagten Worten zwischen ihnen versickert.
„Aber denkst du nicht, dass du dich nicht dadurch schon selbst rettest, dass du jeden Tag aufs Neue unsere Hilfe akzeptierst, sie annimmst und mitarbeitest?", Yoongi denkt bei diesen Worten an sich selbst, der rigoros jeden von sich weggestoßen hat, der es auch nur wagte zu antizipieren, dass der autonome und selbstbewusste Agust D auch nur partiell nicht mit sich selbst zurechtkommen könnte. Er war nie stark genug dafür, um Hilfe von anderen anzunehmen, Zumindest dann nicht, wenn sie existentiell war.
„Ich habe keinen von euch darum gebeten. Deswegen ist es wohl kaum mein Verdienst", erwidert Jimin monoton und Yoongi ist sofort klar, dass er gerade etwas falsch gemacht hat. Das kühle Rascheln der Bettdecke, welches ihm bedeutet, dass sich Jimin selbst in der Dunkelheit von ihm abgewendet hat, ist der unmissverständliche Beweis dafür.
Vielleicht hat Yoongi wieder die falschen Worte gewählt, vielleicht hätte er Jimin ermuntern sollen, dass er das nächste Mal sicher stark genug dafür sein wird, um sich selbst zu retten. Vielleicht hätte er zugeben sollen, dass der kühle Min Yoongi nie stark genug dafür war, um jemanden so nah an sich heranzulassen, dass er ihn hätte retten können. Und dass er insgeheim manchmal darum trauert, dass er nie jemanden wichtig genug war, um genug darum zu kämpfen.
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
„Du musst heute um Punkt Mitternacht den Radiosender anmachen, ja? Ich hab eine Überraschung für dich", erklärt Yoongi bemüht ruhig, denn er kann das aufgeregte Flattern seines Herzens nicht gänzlich verbergen.
Sie sind gestern Nacht irgendwann stillschweigend eingeschlafen, nachdem Jimin in der Dunkelheit nach seiner Hand gegriffen hat und damit die stille Einsicht symbolisierte, dass er ihm nicht mehr länger böse sein kann. Der darauffolgende Tag verlief genauso harmonisch, wie die bisher geteilten Stunden und der zaghafte Klang von Disharmonie war so gänzlich verschwunden, als sei er niemals angestimmt wurden.
„Hyung", beschwert sich Jimin und verzieht dabei seine Unterlippe zu einem sündigen Schmollmund, „du kannst mir nicht sagen, dass du eine Überraschung für mich hast und gleichzeitig von mir erwarten, dass ich noch bis Mitternacht darauf warten soll. Das sind noch mindestens drei Stunden."
„Zweieinhalb", antwortet Yoongi mit einem schnellen Blick auf die Uhr, „was gleichzeitig bedeutet, dass ich jetzt unbedingt losmuss. Mitternacht, ok? Nicht vergessen!"
Er verabschiedet sich mit hungrigen Küssen und feurigen Blicken und kann nicht verstehen, wann sein Pflichtbewusstsein eigentlich so groß geworden ist, dass er den rosahaarigen Sonnenaufgang tatsächlich alleine in seiner Wohnung zurücklässt, nur damit er arbeiten gehen kann.
Sein schneller Abgang verhindert, dass Jimin noch einmal die Gelegenheit erhält, ihn zu einem vorzeitigen Preisgeben seiner Überraschung zu verführen (denn sind wir ehrlich, mit diesen gottgegebenen Lippen hätte er es sicherlich bald geschafft. Vor allen Dingen, wenn sie erpressungsbedingt um ein gewisses Körperteil von Yoongi gepresst sind). Fuck, Er darf sich seiner plastischen Vorstellung nicht hingeben, denn ansonsten wird er heute doch nicht an der Arbeit antreten. Und dabei ist es heute nicht seinem Pflichtbewusstsein geschuldet, dass er seinem Beruf nachgeht, sondern tatsächlich rein der Überraschung, die er Jimin plant zu bereiten.
„Du hast gar keine Zeit mehr für mich", begrüßt ihn ein meckernder bester Freund im Büro des Radiosenders. Jin steht mit verschränkten Armen vor Yoongi, zieht einen lächerlichen Schmollmund (kein Vergleich zu Jimins Lippen) und versucht ihn mit einem treudoofen Blick zu Mitleid zu überreden.
„Hab Wichtigeres zu tun", antwortet Yoongi jovial, widmet den größten Teil seiner Aufmerksamkeit dem Ausziehen seiner Jacke und nicht seinem Gegenüber.
„Aber was könnte wichtiger sein, als dein allerbester, allerliebster Lieblingsfreund?", insistiert Jin zugleich und hängt dabei die Jacke ordentlich an der Garderobe auf, die Yoongi so achtlos auf das Besuchersofa geschmissen hat.
„Hab jemanden kennengelernt", erwidert Yoongi betont desinteressiert und wendet bewusst sein Gesicht ab, damit Jin nicht das verräterische Grinsen auf seinem Lippen und das Funkeln in seinen Augen bemerkt, welches ganz klar darauf verweist, dass es sich dabei nicht nur um einen irgendjemand handelt.
„Waaaaaaas?", quiekt Jin da auch schon in einer bemerkenswert hohen Tonlage, „und das erzählst du mir erst jetzt? Wie lang geht das mit euch Beiden schon? Kein Wunder, dass du in der letzten Zeit wie vom Erdboden verschwunden bist, wenn du nicht gerade im Studio deine Sendung moderierst. Erzähl mir von ihm!"
„Nicht jetzt", sagt Yoongi lapidar und deutet unwirsch auf die Uhr, „Sendung fängt gleich an."
„Okay", akzeptiert der pflichtbewusste Jin seine mehr als offensichtliche Ausrede, „aber dann musst du dich mit mir treffen, ok? BALD! Das bedeutet ZEITNAH und nicht erst in zwei Monaten. Ich will alles wissen und ich lasse dich jetzt nur in Ruhe, wenn du mir dann die ganze Geschichte erzählst, Deal?"
Der Radiomoderator stimmt zu, innerlich schon viel zu fokussiert auf seine anstehende Sendung, die heute eine besondere Bedeutung für ihn haben wird, in mehrerer Hinsicht. Sein bester Freund lässt sich allerdings nicht abschütteln, bevor sie sich für ein festes Datum verabredet haben. In einer Woche zum Mittagessen – Jin wird für ihn kochen und Yoongi wird dafür seine Neugierde befriedigen. Eigentlich freut er sich schon darauf, seinem besten Freund von Jimin zu erzählen (aber nein, das wird er niemals freiwillig zugeben, das würde nur seine Aura von Swag zerstören).
„Guten Abend ihr Luschen von Bürohengsten und Alltagshelden – es wieder so weit, die beste Zeit des Tages ist angebrochen, mit mir natürlich, Late Night Min Yoongi Spezial und ich kann euch versprechen, dass ich für heute Abend Einiges geplant habe. Also bleibt dran und macht mal 'ne Auszeit von eurem tristen Dasein, verliert euch mit mir in der besten Form von Musik und macht die Nacht zu einer besseren Version eures Tages. Ihr hört K-Hop-FM und wir beginnen diese grandiosen, dunklen Stunden mit Eminems Meisterwerk Rap God. Denkt immer daran, why be a king when you can be a god? und lasst euch mal ordentlich davon inspirieren."
Die Zeit bis Mitternacht vergeht rasend schnell. Yoongi füllt sie mit kleinen Textnachrichten an Jimin, der ihm bereits versichert hat, dass er ab der ersten Minute seiner Radiosendung folgt (und der Eminem nicht besonders viel abgewinnen kann, was zu einem kurzen Disput zwischen ihnen führt und darin endet, dass Yoongi Twenty One Pilots für ihn spielt). Außerdem telefoniert er mit den ersten Zuhörern und motiviert sie alle dazu, ihm ihre eigenen Tracks zukommen zulassen, damit sie nach Mitternacht abgespielt werden können. Denn das heutige Min Yoongi Late Night Spezial besteht daraus, dass er Newcomer promoten und ihnen eine Chance geben will, indem er ihre Musik in seiner Sendung teilt.
Es sind noch fünf Minuten bis Mitternacht, als ihn die folgende Nachricht eines rosahaarigen Jungen erreicht:
[Jimin]
Du wirst doch nicht etwa...? YOONGI! Hast du das vor, was ich denke, was du vorhast?
[Yoongi]
Doch. Genau das hab ich vor.
Sein Herz klopft ungewöhnlich schnell und Yoongi wischt sich noch einmal die schweißnassen Hände an seiner Jeans ab, bevor er sich erneut die schwarzen Kopfhörer aufsetzt und geduldig abwartet, bis auch der letzte Ton des aktuellen Liedes verklungen ist. Er kann es nicht ausstehen, wenn ein Track vorzeitig unterbrochen wird (und er fällt wie ein Racheengel über seine Kollegen her, wenn sie in ihren Sendungen diese Todsünde begehen).
„Für alle die jetzt erst eingeschaltet haben: Ihr hört K-Hop FM, ich bin Min Yoongi und kann euch beruhigen, ihr habt zwar schon viel Gutes, aber das Beste noch nicht verpasst. Wir widmen diese heutige Sendung all den unentdeckten Talenten, die da draußen schlummern und noch nicht das Licht der Welt erblickt haben. Schickt mir eure Tracks an [email protected] und ich kann euch garantieren, dass sie heute Nacht gespielt werden. Lasst uns gemeinsam unsere Liebe zur Musik zelebrieren und uns gegenseitig unterstützen, damit wir diesen verseuchten Plastik-Trash endlich okkupieren und aus unseren Playlists entfernen können.
Unsere Newcomer-Session wird von einem Talent eröffnet, dass ich euch besonders inbrünstig ans Herz legen möchte. Er heißt Jimin und ihr findet ihn online unter seinem YouTube-Channel ParkJiminMusic. Ich kann euch beruhigen, er ist nicht mal halb so eintönig, wie es der unkreative Name vermuten lässt. Obwohl er dort nur Cover hochlädt, hat er sich auch zu einer eigenen Produktion mit einem bislang unentdeckten Genie unserer Szene hinreißen lassen. Ihr vermutet richtig... ich rede natürlich von mir selbst, genuis Min Yoongi, und der unangefochtene Vorreiter aller musikalischer Rebellion. Ich präsentiere stolz unser gemeinsames Werk So Far Away von Jimin und Suga, denn ganz ehrlich, ich bin viel zu cool dafür, als dass ich kein Synonym verwenden würde. Viel Spaß damit, schickt mir eure eigenen Kompositionen und lasst die Telefonleitungen heißbrennen, damit wir darüber diskutieren können."
Und bereits im nächsten Moment ertönen die ersten Klänge seines neusten Werkes. Er hat die letzten Tage vor Jimins Ankunft nichts anderes gemacht, als ihre Tonspuren übereinander zu legen, anzugleichen und in Einklang zu bringen. Nach den Aufnahmen mussten noch einige Feinarbeiten erledigt werden und weil Yoongi grundsätzlich erst dann zufrieden ist, wenn aus einem fertigen Track nichts anderes mehr spricht als Perfektion, hat er verdammt viele Arbeitsstunden investieren müssen, um noch rechtzeitig fertig zu werden.
Bereits während der Moderation hat sein Handy beinah im Sekundentakt in seiner Hosentasche vibriert. Nur mit größtmöglicher Selbstüberzeugungskraft gelingt es ihm, nicht sofort Jimins Textnachrichten zu lesen, sondern still abzuwarten, bis das gesamte Lied verklungen ist. So Far Away hat nicht weniger als die gesamte Aufmerksamkeit verdient und Yoongi verdankt dem Lied so viel mehr, als in den Zeilen und Melodien zu hören ist.
Im Endeffekt sind es auch hier die Zwischentöne, die beschreiben, dass er bereits so soft für den Jungen mit den rosa Haaren geworden ist, dass der raue und feuerspuckende Agust D von einer weiteren Entität abgelöst werden musste: von Suga, eine weichere und sanftere Version seines Rapper Alter Egos.
Erst mit dem Verklingen des letzten Tons kramt der Radiomoderator das Smartphone hervor und liest mit einem überquellenden Herzen die eingegangenen Nachrichten.
[Jimin]
Ich kann nicht glauben, dass du das tust!
[Jimin]
Oh mein Gott!!!!
[Jimin]
Mein Channel-Name ist nicht eintönig, er ist super professionell!
[Jimin]
Suga? Was ist aus Agust D geworden?
[Jimin]
Du bist wirklich ein Genie
[Jimin]
Das Lied ist vollkommen
[Jimin]
Ich weine
[Jimin]
(vielleicht)
[Jimin]
Ich kann es kaum abwarten, dass du wieder nach Hause kommst.
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Die Sonne ist gerade über dem Horizont aufgegangen, als Yoongi vollkommen erschöpft und seltsam selbstzufrieden bei seiner Wohnung ankommt. Er hat sich für den Heimweg bewusst viel Zeit genommen, den Rauch der Zigarette besonders tief inhaliert und ist extra stehengeblieben, um sich auf die Geräusche einer aufwachenden Stadt zu konzentrieren. Nicht einmal die eiskalte Morgenluft kann ihn dazu animieren, seine Schritte zu beschleunigen. Yoongis Gedanken sind gefüllt von der Junisonne mit dem schiefen Schneidezahn und gerade, ja jetzt gerade, da fühlt er sich so unheimlich unantastbar, dass ihm nicht einmal mehr die Winterkälte etwas anhaben kann.
Da ist so viel Vorfreude in ihm, dass es ihm süße Qualen bereitet, sie künstlich in die Länge zu ziehen. Dabei hat er sich zuvor niemals mit einer masochistischen Ader identifizieren können.
Jimin erwartet ihn mit funkelnden Augen und einem offenen Herzen. Yoongi erkennt es daran, wie sich seine Lippen zu dem glücklichsten Lächeln verziehen und Worte durch eine frenetische Umarmung substituiert werden. Im rosa Schein der aufgehenden Sonne strahlt Jimins Haarfarbe noch ein Stück heller, aber vielleicht strahlt der Junge auch selbst von innen, und er ist in diesem Moment so lächerlich perfekt.
Yoongis Brustkorb fühlt sich danach an, als müsste er seinem expandierendem Herzen nachgeben und zerbersten.
Und es ist genau dieses Bild – der wunderschöne Junge mit den rosa Haaren im rosa Licht einer kalten Novembersonne – gepaart mit diesem Gefühl von einem Herzen so überladen von Emotionen, dass sein eigener Körper es nicht mehr tragen kann - das sich unauslöschlich in Min Yoongis Retina und Gedächtnis brennt und Park Jimin auf ewig darin einen Platz reserviert.
Deswegen ist es genau diesem Moment geschuldet, dass sich Min Yoongi das erste Mal aktiv dafür entscheidet, dass es nun endlich an der Zeit dazu ist, auch seine Geschichte mit einem anderen Menschen zu teilen.
Er unterbricht Jimin, bevor dieser überhaupt die Gelegenheit dazu erhält, etwas sagen zu können.
„Ich will dir etwas erzählen", sagt Yoongi und Jimin versteht, dass er nun an der Reihe damit ist zuzuhören.
„Als du mich gestern Abend gefragt hast, ob ich schon mal gerettet wurde, habe ich nicht lange genug über diese Frage nachgedacht oder falsch nachgedacht, auf jeden Fall habe ich nicht daran gedacht, dass ich eindeutig gerettet wurde. Zwar von keinem Menschen, aber von einer Sache – nämlich der Musik.
Ich hatte früher auch meine Probleme damit zurechtzukommen, meinen Platz in dieser verrottenden Gesellschaft zu finden und so etwas wie Selbstakzeptanz zu entwickeln. Meine Probleme waren zwar nie so krass, als dass ich mich jemals mit deiner Geschichte vergleichen könnte, aber ich möchte dir trotzdem von ihnen erzählen.
Vielleicht wars bei mir der typische Pubertäts-Shit, ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, dass ich schon immer Tage hatte, an denen ich einfach so und ohne Grund traurig war. Und es hat mich abgefuckt, wirklich so unglaublich genervt, dass ich irgendwie der Einzige war, der manchmal in Wellen unter dieser Traurigkeit begraben wurde, während die anderen jeden Tag aufs Neue einfach glücklich sein konnten. Ich wollte das auch. Aber irgendwo tief in mir drin, war ich auch der Überzeugung, dass ich es verdient hätte, traurig zu sein und dass es nicht richtig sein kann, immerzu glücklich sein zu dürfen. Trotzdem hab ich dagegen angekämpft, mich gegen die Fluten dieser Schwermut geworfen und mit allem Widerstand geleistet, was ich aufbringen konnte.
Ich hab in jeder verdammten Ecke nach dem Glück gesucht und ich hab Menschen dafür ausgenutzt, mich glücklich zu machen, wie ein elender Parasit. Hab unendlich viele lose Beziehungen geführt, oft auch parallel und ohne jemals einen Ton zu meinen Partnern zu sagen. Warum auch? Sie waren für mich alleinig ein Mittel zum Zweck, damit ich mich besser fühle. Ich hab so viel Zeit mit ihnen verbracht, wie sie mich glücklich machen konnten. Konnten sie das nicht mehr, hab ich sie wieder fallen lassen und mir den nächsten gesucht. Kompromisslos in meinem Handeln und kompromisslos in meinen Worten, hab ich Schlachtfelder von zertrümmerten Herzen hinter mir zurückgelassen und mich irgendwie gut dabei gefühlt, dass sie jetzt auch endlich mal traurig sind. Sich so fühlen, wie ich mich fühle. Und hab mir selbst eingeredet, dass mein ausbeuterisches Verhalten gar nicht so schlimm ist, denn im Endeffekt kann man Glück nur richtig wertschätzen, wenn man auch schon andere Gefühle empfunden hat, die sich davon in jeglicher Kategorie kontrastieren.
Tja, nur leider hat sich durch mein brutales Verhalten nichts bei mir selbst geändert. Ich war immer noch der Gleiche, immer noch traurig und so, so machtlos im Angesicht zu dieser Naturgewalt von einer Emotion. Erschwerend kam hinzu, dass ich langsam müde davon wurde – müde davon, jede Nacht in einem anderen Bett zu verbringen, jeden Tag einen anderen Menschen, um mich herum zu haben, müde davon ständig nach dem Glück zu suchen und dabei nur die Opposition zu finden.
Denn je mehr ich mich bemüht habe, desto trauriger wurde ich, denn plötzlich hatte ich auch noch einen Grund für meine Emotion. Ich war verletzt, denn egal wie unberührbar ich mich gegeben habe, meine dumme, empathische Ader konnte ich ja doch nicht abstellen. Denn egal wohin ich trat, plötzlich waren da überall Scherbenhaufen, gebaut aus gebrochenen Herzen, die ich verursacht habe.
Und zu realisieren, was ich da eigentlich getan habe und wie ich mich den Anderen gegenüber verhalten habe, die es im Endeffekt nur wirklich gut mit mir gemeint haben, die ihr Herz verschenkt haben, die mir freizügig gegeben haben, während meine gesamte Identität auf Nehmen gepolt war, das war ein richtiges Scheißgefühl.
Ich hab mich selbst angeekelt und war so erschöpft davon zu kämpfen, dass ich mich einfach mit der Traurigkeit in mir abgefunden habe. In der Zeit war sie nicht mehr nur ein temporärer Begleiter, sondern permanent vorhanden. Ich hab nichts anderes mehr gefühlt, außer negativen Shit.
Deswegen hab ich mich in meiner Wohnung verschanzt, wollte niemanden mehr sehen, niemanden mehr hören, niemanden mehr fühlen, niemanden mehr bei mir haben. Ich und meine Trauer, ein unzertrennliches Paar, wo ich doch ansonsten mit scheinbar niemanden zusammenpasste.
Das war der Moment in meinem Leben, in dem ich hätte wirklich gerettet werden müssen. Aber da war niemand mehr, weil ich alle weggestoßen hab. Da war nur noch ich, allein in meiner Wohnung, hoffnungslos überfordert von all den erdrückenden Gefühlen in mir. Also hab ich mir einen Stift genommen und angefangen, alles aufzuschreiben. Zuerst waren es nur lose Gedanken und später ganze Texte und weil ich doch ohnehin nichts zu tun hatte, hab ich mir ein billiges Programm runtergeladen und damit angefangen, meine Gedanken mit so tiefen Beats zu verzieren, dass sie zu meinen erkrankten Herzschlägen passten.
Ich wusste bis dahin nicht, dass mir komponieren und produzieren und texten einmal unendlich viel bedeuten würde.
Du musst dir das wie folgt vorstellen: Als ich angefangen hab, Musik zu machen, hab ich nichts mehr anderes sehen können als dunkle Wolken voller Traurigkeit. Da war nur noch Schwärze um mich herum und ich hab mich blind vorangetastet. Hab in der Dunkelheit nach einem Stift gegriffen und nicht verstanden, dass ich gerade meinen Rettungsanker in den Händen halte. Hab ihn benutzt, ohne seine Bedeutung zu kennen, und mich daran entlang gehangelt, bis sich die dunklen Wolken gelichtet haben. Bis ich endlich wieder Licht in dieser ganzen Finsternis gesehen hab. Denn mit der Musik musste ich das erste Mal nicht gegen meine Traurigkeit ankämpfen, um sie loslassen zu können. Musik hat mir dabei geholfen, das Gefühl als einen Teil von mir zu akzeptieren. Sie als diejenige genuine Charaktereigenschaft anzuerkennen, die sie nun mal für mich ist.
Denn du musst wissen, dass ich davon ausgehe, dass jeder Mensch mit einer gewissen Disposition geboren ist.
Natürlich werden wir auch durch unsere Umwelt sozialisiert und beeinflusst und es wäre viel zu einfach, sich damit zufriedenzugeben, dass wir so sind, wie wir sind, weil wir genetisch dazu determiniert sind. Deshalb dürfen wir das auf keinen Fall tun. Aber partielle Dinge unserer Persönlichkeit können wir uns nicht aussuchen, wir sind dispositioniert dazu, auf eine bestimmte Art und Weise bevorzugt zu handeln.
Und ich besitze die Disposition zur Traurigkeit. Deswegen fühle ich mich manchmal ganz grundlos grau-schwarz und ohne Farben. Aber mittlerweile ist das in Ordnung. Ich hab gelernt, es zu akzeptieren und vor allen Dingen, auch noch etwas daraus zu machen, nämlich Musik.
Also Park Jimin, wenn du mich heute noch einmal fragen würdest, ob ich schon mal gerettet wurde, dann würde ich ja sagen. Denn ich war in der Dunkelheit verloren und da war kein Licht, aber da war ein Wort, ein Ton und hat mich zurückgebracht. Aber viel mehr vielleicht auch weitergebracht, denn als ich wieder sehen konnte, war ich mehr Ich selbst als vorher."
Als Yoongi mit seiner Erzählung endet, schaut er geradewegs in Jimins funkelnde Augen, die ihm mit einer Mischung aus Verwunderung und Bewunderung entgegen blitzen. Sein hervorstehender Schneidezahn hat sich tief in seine Unterlippe vergraben und Yoongi ist unheimlich versucht, die plumpen Lippen mit seinen Fingerspitzen zu berühren, um sie von der Malträtierung zu befreien. Aber er möchte den fragilen Moment nicht mit einer achtlosen Handbewegung zerstören und der rosahaarige Junge sieht danach aus, als müsste er das eben Gehörte noch eine Weile einsickern lassen, bevor er darauf reagieren kann. Yoongi möchte ihm diese Zeit geben (und wenn es nicht so unendlich kitschig klingen würde, würde er auch sagen, dass er ihm gerne alles geben möchte).
Als Jimin schließlich den Mund öffnet, stellt er eine Frage, mit der Yoongi nicht gerechnet hat und die ihn in ihrer Direktheit vollkommen unvorbereitet trifft: „Und was denkst du, mit welcher Disposition wurde ich geboren?"
Dabei sieht Jimin nicht wirklich danach aus, als würde er die Antwort auf seine eigene Frage tatsächlich hören wollen. Er sieht nicht danach aus, als wäre er schon bereit dafür, mit so einer generellen Grundwahrheit über sich selbst konfrontiert zu werden.
Yoongi entscheidet sich trotzdem dazu, ihm eine Antwort zu geben, denn er war schon immer ein kompromissloser Vertreter von Ehrlichkeit, auch wenn sie in ihrer vollkommenen Form manchmal erbarmungsloser ist als jede Lüge.
„Schmerz", sagt er und sein Herz zerbricht ein bisschen unter der Last seiner eigenen Worte, sodass er sich dazu zwingen muss weiterzusprechen. „Ich denke, dass du mit der Disposition zum Schmerz geboren ist."
Und auch in Jimins Augen zerbricht etwas und das ist nicht nur das gebrochene Licht der reflektierenden Fensterschreibe, sondern vielleicht ist es so etwas wie zerbrochene Hoffnung, dass es jemals aufhören wird wehzutun.
Dabei wollte das Yoongi damit überhaupt nicht sagen, denn wenn seine Geschichte etwas vermitteln sollte, dann doch, dass es immer Hoffnung gibt und dass man manchmal auch ein paar Schritte in der Dunkelheit gehen muss, bevor man sie wiederfindet.
Vielleicht hätte er sich doch zu der achtlosen Handbewegung zu Jimins Lippen hinreißen lassen sollen, denn eine sanfte Berührung wiegt weniger schwer als so manch ausgesprochenes Wort.
Und so bleibt der sonst wortgewandte Min Yoongi sprachlos in Anbetracht des zersplitterten Blickes aus Park Jimins Augen und auch seine Entitäten Agust D und Suga können ihm gerade nicht zu Hilfe eilen, wenn er sich vollkommen schutzlos fühlt, sodass er zum ersten Mal daran zweifelt, dass fanatische Ehrlichkeit immer der richtige Weg sein muss.
Deswegen bleibt wieder etwas zwischen ihnen ungesagt, unausgesprochen und diesmal, zumindest darin ist sich Yoongi ziemlich sicher, wird der leise Klang von Disharmonie nicht so schnell verklingen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro