Mixtape Side A - [AGUST D]
mixtape side a –agust d
„Guten Morgen an alle Büro-Loser, die gänzlich aufgegeben haben, gegen gesellschaftliche Konventionen zu verstoßen, und deren Wecker sie gerade aus dem Bett geschmissen hat, damit ihr langweiliger Tagestrott von vorne losgehen kann. Wir danken euch dafür, dass ihr ein Leben der Eintönigkeit und des Anstands führt, damit unser Swag-gewähltes Dasein deutlich davon kontrastiert wird", Yoongi gähnt ausgedehnt und kümmert sich nicht darum, dass das Mikrofon vor ihm den Laut deutlich an alle Zuhörer überträgt.
„Aber okay, Spaß beiseite. Falls ihr mir öfter zuhört, wisst ihr sicher, dass ich nur scherze. Macht das, was euch glücklich macht, das ist so ziemlich das Coolste, was ihr tun könnt. Egal, ob ihr dabei ein Bürohengst seid oder ein Stripper. Obwohl ich persönlich den Stripper bevorzugen würde.
Ihr hört K-Hop FM, ich bin Min Yoongi und raus für heute. Gute Nacht."
Sobald Yoongi das Mikrofon auf lautlos umstellt, beginnt automatisch sein letzter Song für diesen Abend.
Agust D von Agust D.
Zugegeben, es ist nicht nur heute das letzte Lied.
Yoongi beendet seine Radiosendung eigentlich immer mit dem gleichen Track. Es ist ihm ziemlich egal, dass andere das sicherlich als eintönig empfinden. Im Endeffekt ist es für ihn der Grund, warum er überhaupt bei einem Radiosender mit einem so dämlichen Namen wie K-Hop FM angefangen hat zu arbeiten, denn er darf hier seine eigene Musik spielen.
Und es ist ihm überlassen, ob er seiner Zuhörerschaft mitteilen will, dass Agust D in Wahrheit Min Yoongi ist. Bislang ist es noch sein Geheimnis. Kein besonders gutes, weil bereits zu viele Leute darin eingeweiht sind, als dass es noch als echtes Geheimnis durchgehen könnte, aber Yoongi ist noch nicht bereit dazu, seinen Künstlernamen mit der gesamten Welt zu teilen (und er besitzt genügend Selbstbewusstsein um davon auszugehen, dass mindestens die gesamte Welt seine Radiosendung aufmerksam verfolgt).
Als Yoongi die schweren, schwarzen Kopfhörer abnimmt und sich in seinem bequemen Drehstuhl zurücklehnt, ist er eigentlich bereit dazu, seine Augen zu schließen und sofort einzuschlafen. Leider ist er noch im Studio und nicht Zuhause. Vielleicht nur für einen kurzen Moment die Augen zu machen und seinem Track lauschen, der jetzt, wo die Kopfhörer vor ihm auf dem Schreibtisch liegen, nur noch gedämpft zu ihm durchdringt. Wirklich nur kurz, er wird jeden Moment aufstehen, seine Jacke anziehen und nach Hause gehen...
Eine Stimme unterbricht ihn, bevor er wirklich die Gelegenheit dazu erhält, seinem Traumland einen kurzen Besuch abzustatten: „Guten Morgen Yoongi-ah. Schläfst du? Hast du deine Sendung etwa schon wieder nicht ordentlich beendet?"
„Ich schlafe nicht", antwortet Yoongi mit geschlossenen Augen. Er hält es nicht für nötig sich umzudrehen, er weiß auch so, wer hinter ihm steht, „außerdem hab ich mich schon verabschiedet, du kannst also gleich loslegen, Jinnie. Es laufen nur noch ein paar Lieder, dann bist du dran."
„Öffne doch wenigstens die Augen und nenn mich gefälligst Hyung, wenn du mit mir redest, du unhöflicher Banause," erwidert Jin. Er ist ein Arbeitskollege von Yoongi und moderiert die Morning-Show, weswegen sie sich eigentlich jeden Morgen die Klinke, oder in ihrem Fall das Microphon, in die Hand drücken.
Yoongi mag ihn, deswegen tut er Jin den Gefallen und dreht sich zu ihm um. Sogar seine Augen öffnet er einen spaltbreit.
„Ich bin zu müde für Höflichkeitsformen", gähnt der Moderator erneut. Es ist viel zu anstrengend, seine Hand zu heben, damit sein Gegenüber nicht bis in die Tiefen seines Rachens gucken kann, also versucht er es gar nicht erst.
„Igitt, du unverschämtes Kind, nimm die Hand vor den Mund, wenn du gähnst. Das ist ja nicht mit anzusehen", schimpft Jin unmittelbar weiter. Das sanfte Lächeln auf seinem Gesicht nimmt seinen Worten die notwendige Ernsthaftigkeit und Schärfe. Er ist viel zu weich für seinen Kollegen, als dass er ihm sein Verhalten wirklich übelnehmen könnte.
„Ich bin nur ein paar Monate jünger als du", erwidert Yoongi gedehnt. Die Müdigkeit hat sich auf seine Worte ausgedehnt und jedes einzelne wird dadurch länger gezogen, als es eigentlich notwendig ist.
Jin dagegen wirkt putzmunter, mit seinem grande XLL-Riesen-Starbucksbecher in der Hand, der wahrscheinlich schon zur Hälfte geleert ist und nun berauschendes Koffein durch seinen Kreislauf schickt. „Da siehst du mal, wie viel ein paar Monate Altersunterschied ausmachen können", grinst Jin fröhlich vor sich hin. Für heute hat er den Versuch aufgegeben, seinem jüngeren Kollegen ein paar ordentliche Manieren beizubringen. Morgen früh wird er weiter damit machen.
Yoongi kann dem Älteren nicht widersprechen, denn er hat Recht mit seiner Aussage. Jin ist immer ordentlich gekleidet, auch in seinen Worten, vor allen Dingen, wenn er sich gerade auf Sendung befindet. Er ist höflich, zuvorkommend und hilfsbereit, gutaussehend noch dazu. Insgesamt einfach ein Paradebeispiel von everybodys darling.
Yoongi ist all dies nicht. Und er würde Jin vielleicht für seine Gutherzigkeit, seine Affinität zu grellen Farben, zu hellem Lachen und grenzenlosen Optimismus verurteilen, wenn er ihn nicht genau dafür lieben würde. Platonisch natürlich und nicht, dass Min Yoongi sich jemals dazu herablassen würde, diese Worte laut auszusprechen. Jin ist sein bester Freund. Er muss es auch unausgesprochen wissen.
Sie kennen sich seit Jahren und Yoongi lebt für die kleinen Momente, in denen er Jin soweit provozieren kann, dass er seine Fassung verliert und sogar ein Schimpfwort seine Lippen verlässt. Es passiert nicht häufig, da Jin schon morgens ein Tempel der Fröhlichkeit und guten Laune ist, den nichts aus der Ruhe bringen kann.
Yoongi hatte daher vor vielen Jahren, als er den Älteren noch nicht so gut kannte, die Vermutung, dass die Starbucks-Mitarbeiter seinen Becher nicht nur mit Kaffee füllen, sondern auch mit anderen Substanzen.
Er konnte ihm allerdings nie etwas nachweisen, auch wenn er es wirklich versucht hat. Er hat zwei ganze Wochen lang jeden Morgen einen Schluck von Jins Kaffee probiert, um seiner Theorie nachzugehen. Das erste Mal, als Yoongi ohne Nachfrage stumm nach seinem Kaffeebecher gegriffen hat, um einen Schluck davon zu nehmen, hat Jin verwundert geschaut, aber nichts weiter dazu gesagt. Er hatte zu diesem Zeitpunkt ganz neu bei dem Radiosender angefangen und Yoongi dagegen war schon seit zwei Jahren mit dabei gewesen. Sie kannten sich also kaum bis gar nicht, was das Verhalten des Jüngeren noch um einiges unverschämter gemacht hat. Er selbst neigt dazu einige unschöne Flüche und Beschimpfungen auf die Person loszulassen, die seinen Kaffee nur schief anguckt.
Beim zweiten Mal hat Jin den Jüngeren höflich darauf hingewiesen, dass dies sein Kaffee sei und er zumindest fragen könne. Am dritten Tag hat er sich geweigert, Yoongi seinen Becher zu überlassen. Nach sechs Tagen hat Jin aufgehört dagegen zu protestieren und ihm den Becher kommentarlos hingehalten. Am siebten Tag hat er Yoongi ruhig gefragt, wie lange er das noch durchziehen möchte. Am achten Tag hat er ihm dann pazifistisch angeboten, dass er ihm einen eigenen Kaffee mitbringen könne, er gehe doch ohnehin jeden Morgen dort vorbei und das stelle wirklich kein Problem dar. Yoongi hat das Angebot natürlich abgelehnt. Er liebt Kaffee, aber er liebt auch Schlaf und wenn er Feierabend hat, legt er sich deswegen als erstes ins Bett. Dafür braucht er vorher keinen Kaffee.
Am elften Tag ist Jin dann endlich ausgerastet (im Rahmen seiner Verhältnisse) und hat Yoongi gedroht, dass er ihm das heiße Getränk das nächste Mal überschütten wird, wenn er sich weiterhin ungefragt daran bedient. Am vierzehnten Tag hat Yoongi dann tatsächlich aufgehört. Zwei Wochen Recherchearbeit haben ergeben, dass der Kaffee hat jeden Morgen gleich schmeckt – nach Kaffee mit viel zu viel Zucker, aber sicherlich ohne den Zusatz von illegalen Aufputschmitteln. Daher musste Yoongi einsehen, dass die fröhliche und gutherzige Art seines Kollegen seine Charakterdisposition darstellt und nicht das Ergebnis von einem erhöhten Drogenkonsum ist.
Also hat Yoongi nach fünfzehn Tagen beschlossen, dass Jin von nun an sein bester Freund sein wird. Er hat diese Entscheidung nie bereut (auch wenn das natürlich auch ein Umstand ist, den er niemals laut aussprechen wird).
„Du solltest nach Hause gehen, du bist schon wieder dabei einzuschlafen", unterbricht ihn Jin sanft, „außerdem brauche ich deinen Platz und kann die Leute nicht länger auf mich warten lassen. Es wird Zeit, dass ich diesen Morgen für alle zu einem besseren mache."
Bei seinen vielen guten Eigenschaften gehört Bescheidenheit nicht dazu. Aber das ist in Ordnung, Yoongi steht ihm in diesen Dingen in nichts nach.
„Mh", grummelt der Angesprochene unzufrieden vor sich hin, bevor er sich tatsächlich schwerfällig von seinem Sitzplatz erhebt, „du hast Recht. Ich hau ab."
„Sehen wir uns später?", fragt Jin, während er augenblicklich den freigewordenen Platz einnimmt, „Ich kann nach meinem Feierabend zu dir kommen und etwas für uns kochen."
„Mhhmmm", brummelt Yoongi erneut. Er ist gerade dabei sich seine Jacke anzuziehen.
„Das interpretiere ich als ein Ja. Dann bis später Yoongi-ya, schlaf gut."
Die letzten Worte seines Hyungs hört er fast nicht mehr, weil kurz darauf die Studiotür hinter ihm zufällt. Er ist heute noch müder als sonst. Eigentlich hat er sich schon lange an seinen verschobenen Schlafrhythmus gewöhnt, schließlich arbeitet er fünf Nächte die Woche bei K-Hop-FM, um die Late-Night-Show zu moderieren. Ihm wurde schon oftmals angeboten, dass er auch einen anderen Teil des Programms übernehmen kann, damit er nicht ständig nachts arbeiten muss. Aber Yoongi macht es nichts aus. Solange er denken kann, hat er sich die Nächte um die Ohren geschlagen, damit er sich seiner Musik widmen kann. Jetzt bekommt er sogar Geld dafür. Es hätte ihn nicht viel besser treffen können, denkt er.
Eiskalter Oktoberwind schlägt ihm entgegen, als Yoongi das Gebäude verlässt, in dem sich der Radiosender befindet. Er ist sich natürlich bewusst darüber, dass sie sich mit großen Schritten dem Winter nähern, aber noch ist es Herbst und deswegen müsste es nicht jetzt schon so erbärmlich kalt in Daegu sein. Er vergräbt seine Nasenspitze unwillkürlich tiefer im Kragen seiner Jacke, bevor er sich mit zügigen Schritten auf den Weg nach Hause macht. Die Außentemperatur belebt seine müden Geister wieder und auf der Hälfte der Strecke macht Yoongi kurz Halt, damit er sich eine Zigarette anzünden kann. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber es dämmert bereits. Sie befinden sich in einem Außenbezirk der Stadt, in dem es noch zu früh ist, als dass sich bereits geschäftiges Treiben auf den Straßen ausgebreitet haben könnte. Yoongi genießt die stillen Spaziergänge nach Hause, deswegen nimmt er nie den Bus oder die Bahn. Eine halbe Stunde Fußmarsch liegt zwischen seiner kleinen Wohnung und der Arbeit.
Er nutzt die Zeit, um in seinem Kopf Texte zu entwerfen und Beats zu bauen. Es ist schon oft vorgekommen, dass er mitten auf dem Weg stehengeblieben ist, weil er einen besonders guten Einfall hatte und ihn sofort in seinem Handy notiert hat, bevor sich der flüchtige Gedankengang wieder in Luft auflöst. Meistens geht er danach in einem zügigeren Tempo weiter und schaltet Zuhause als allererstes seinen Computer an, um seine gedanklichen Visionen mit einem harten Bass zu unterlegen.
Dann ist er nicht mehr Min Yoongi. Dann ist er Agust D, ein begnadeter Rapper, dessen Worte genauso heiß brennen wie die Sonne und an denen du verglühst, wenn du ihnen zu nah kommst. Insgesamt ist es nicht so leicht ihm nah zu kommen. Weder Agust D, aber auch nicht Yoongi, der sich gerne zurückzieht, seine Zeit im Studio verbringt, sich der Musik widmet oder mit Jin rumhängt. Früher war er anders. Da hat er seine Zeit ständig mit anderen verbracht. Aber sie an sich herangelassen – das hat er natürlich trotzdem nicht.
Heute nutzt Yoongi den Heimweg allerdings nicht um zu komponieren, sondern um nachzudenken. Das ist seine zweitliebste Beschäftigung nach Musik. In seinem Kopf ist es so verworren, dass man sich locker verlaufen kann, wenn man die Wege nicht kennt. Yoongi kennt sie auch nicht alle. Und es gibt Wege, die er nicht mehr betritt, weil sie zu sehr weh tun.
Da siehst du mal, wie viel ein paar Jahre Altersunterschied ausmachen können
Die Worte von Jin klingen immer noch seinem Ohren nach und auch wenn sie banal erscheinen, haben sie irgendwas in Yoongi angestoßen, dass er sich noch nicht richtig erklären kann. Also denkt er darüber nach, folgt diesem Pfad, auch wenn er in eine dunkle Richtung seiner Gedankenwelt führt. In einen Bereich, in dem die Wolken immer grau sind und die Sonne niemals scheint.
Er weiß, dass sein bester Freund und er sehr unterschiedlich sind.
Jeder Mensch wird mit einer Disposition geboren. Jin ist zum Beispiel dazu bestimmt gutherzig zu sein.
Natürlich werden Menschen im Laufe ihre Entwicklung auch durch die Erziehung, den Einfluss des sozialen Umfeldes und durch ihre eigenen Erfahrungen geprägt und mit weiteren Charaktereigenschaften ausgestattet. Es wäre naiv anzunehmen, dass der gesamte Charakter eines Individuums schon alleine durch seine Geburt determiniert ist.
Trotzdem ist Yoongi der felsenfesten Überzeugung, dass ein gewisser Hang zu einer bestimmten Charaktereigenschaften bei jedem Menschen bereits vorab in seinen Genen verankert ist. Manche neigen zur Grausamkeit, zu Ehrgeiz oder zur Boshaftigkeit bis hin zum Neid, andere haben einen Hang zur Gutmütigkeit, zur Überschwänglichkeit oder zur Begeisterung. Es ist eine Art Veranlagung, die eingedämmt oder ausgeweitet werden kann, der man nachgeben, sie aufhalten oder sogar fördern kann.
Und im Endeffekt ist das auch der Grund dafür, warum Jin keine bewusstseinserweiternde Aufputschmittel in seinen Kaffee mischen muss, um bereits frühmorgens von Innen heraus mit seinem guten Herzen zu strahlen. Er ist disponiert dafür.
Min Yoongi hingegen leuchtet nicht.
Seine Disposition ist der dunkle Ort in seinem Kopf, an dem es immer regnet. Er wurde mit der Disposition zur Traurigkeit geboren.
Wenn er sich in seinem Leben zurückerinnert, dann gab es da schon immer Tage, an denen er ohne einen besonderen Grund dafür traurig war.
Er muss ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, als er das erste Gespräch mit seiner Mutter darüber geführt hat. Er ist ihm bis heute beinah wörtlich im Gedächtnis geblieben und wenn er sich darauf konzentriert, sieht er die Szene vor seinem geistigen Auge scharfgezeichnet vor sich.
„Wie geht's dir heute, mein Schatz?", fragt seine Mutter, während sie am Herd steht und das Abendessen vorbereitet. Es ist ein warmer Sommerabend und die Sonne färbt den Himmel in leuchtenden, roten Farben.
„Nicht so gut, ich bin traurig."
„Oh, warum bist du denn traurig? Ist irgendwas passiert? Hat dich ein Kind in der Schule geärgert?", wendet sich seine Mutter augenblicklich besorgt zu ihm herum.
Der kleine Yoongi beachtet sie kaum, betrachtet lieber letzten die Sonnenstrahlen des Tages, die von unterschiedlichen Oberflächen reflektiert werden und alles in warmes Abendlicht tauchen.
„Nein, es ist nichts passiert, alles war wie immer."
„Und warum bist du dann traurig? Es gibt doch keinen Grund dazu", versucht es seine Mutter erneut. Sie hat sich mit dem Rücken an den Herd gelehnt und betrachtet ihr Kind mit dem besorgten Gesichtsausdruck einer liebenden Mutter.
„Ich weiß es nicht."
Yoongis traurige Phasen sind schlimmer geworden, als er ein Jugendlicher war, und wieder besser, als er die Zwanzig dann letztlich überschritten hatte. Vielleicht hat er auch nur gelernt besser damit umzugehen. Es ist ihm gleich.
Seine engen Freunden, diejenigen, bei denen er nicht darüber lügen muss, wie es ihm geht, wenn sie ihn danach fragen, haben ihn oft dazu ermuntert, sich deswegen professionell beraten zu lassen, eine Therapie zu machen.
Aber die Traurigkeit, die immer mal wieder despotisch von ihm Besitz ergreift, ist keine Krankheit. Es ist keine Depression, es ist ein Teil seines Charakters.
Der Teil, der von Geburt an für ihn vorbestimmt war.
Manchmal genießt er das Gefühl sogar, denn es kommt ihm generell nicht richtig vor, immerzu glücklich sein zu dürfen. Er kommt damit zurecht und an den Tagen, an denen er von autoritärer Traurigkeit eingekreist ist und sie jeden Atemzug für sich beansprucht, da schreibt er seine Lieder. Das Gefühl in Worte zu konvertieren, hilft ihm dabei es auszuatmen und loszulassen. In vielen Momenten macht seine Traurigkeit ihn schwach und hilflos, aber insgesamt, und in diesem Punkt ist sich Min Yoongi sehr sicher, macht sie ihn stärker.
Deswegen sind die Texte von Agust D voller Schmerz und werden trotzdem in wütenden Salven hervorgebracht. Nur manchmal, da schlägt seine Wut in Verzweiflung um und lässt ihn schweratmend zurück, den Ansatz von Tränen in den Augen. Und das ist beinah zu viel, um es auszuhalten.
Da siehst du mal, wie viel ein paar Jahre Altersunterschied ausmachen können
In ihrer Disposition sind Jin und Yoongi also sehr verschieden, aber das ist nun mal nicht alles, was einen Menschen ausmacht. Das haben sie beide erkannt und vielleicht sind sie deswegen so gut miteinander befreundet. Vielleicht wäre Yoongi ein bisschen mehr wie Jin, wenn er früher geboren wäre, aber es ist sinnlos darüber nachzudenken. Er kann sich nicht vorstellen, anders zu sein, als er jetzt ist.
Seine Füße haben ihn ohne sein Zutun nach Hause getragen und dort verzieht er sich sofort ins Badezimmer, um die Kälte des Morgens mit einer warmen Dusche abzuwaschen.
Als er sich ins Bett legt, vibriert sein Handy und zeigt ihm mehrere neue Mitteilungen von Namjoon an. Wahrscheinlich ist dieser gerade aufgestanden.
Namjoon, auch bekannt unter dem Pseudonym Rap Monster, ist ein Bekannter von Yoongi, den er über das Internet kennengelernt hat. Agust D veröffentlicht seine Tracks auf einer kleinen Plattform, die nur von Insidern aus der Untergrundszene des Hip-Hops benutzt wird. Namjoon ist dadurch auf ihn aufmerksam geworden und seitdem führen sie oftmals lange Gespräche über musikalische Kleinigkeiten. Obwohl sie in ihren Ansichten doch teilweise sehr unterschiedlich sind, helfen sie sich gegenseitig dabei, bessere Musik zu machen. Er hat sich mit der Zeit zu einem guten Freund entwickelt, auch wenn er ihm erst einmal persönlich begegnet ist. Er ist damals extra nach Busan gereist, um Namjoon bei einem Rap-Battle zu unterstützen. Schlussendlich standen sie dann irgendwann doch gemeinsam auf der Bühne und haben ihre Kontrahenten in Grund und Boden gerappt. Es ist ein guter Tag gewesen.
[Namjoon]
Hey, du hast mir doch erzählt, dass für deinen nächsten Track nach einer Gesangsstimme suchst, oder? Ich bin so doof, dass ich nicht direkt draufgekommen bin, aber ich glaub, ich hab da den richtigen Mann für dich. Sein Name ist Jimin und wir sind schon seit Ewigkeiten miteinander befreundet. Er singt wie ein Engel, aber hör ihn dir selbst an. Er veröffentlicht seine Coverversionen auf Youtube. Ich schick dir ein paar Links. Wenn du meinen Namen erwähnst, wird er sicher nichts dagegen haben dir auszuhelfen. 😉 Er ist mir ohnehin noch ein paar Gefallen zu viel schuldig.
Darunter folgen einige Links, die allesamt auf den gleichen YouTube-Channel verweisen.
Yoongi beschließt, dass er erst einige Stunden schlafen muss, bevor er sich damit beschäftigen kann. Und ehe er sich versieht, sind seine Augen bereits zugefallen.
* * *
ParkJiminMusic heißt der Channel, den sich Yoongi seit ungefähr einer Stunde ununterbrochen ansieht. Er liegt immer noch in seinem Bett und hat sich seit dem Aufwachen genau so weit bewegt, wie es nötig war, um nach seinem Handy zu greifen. Danach hat er mit aufmerksamen Augen den ersten Link angeklickt, den Namjoon ihn in den frühen Morgenstunden per Kakaotalk hat zukommen lassen.
Es ist eine Coverversion von Counting Stars von One Republic. Yoongi kennt den Song und ist von der seichten Popmusik nicht sonderlich angetan. Er schließt die Augen, damit er sich besser auf den Klang der Stimme konzentrieren kann. Das Mikrophon, welches Jimin benutzt, um seine Stimme aufzunehmen, ist schrecklich. Und die Handylautsprecher von Yoongi tun ihr Weiteres dazu, um die Qualität zu verschlechtern. Seufzend dreht er sich also auf die Seite, um nach seinen Kopfhörern zu greifen. Schon besser, aber das Lied überzeugt ihn trotzdem nicht.
Er probiert es mit dem zweiten Link: Car Radio von Twenty One Pilots. Er denkt, dass der schnellgesprochene Rap-Part des Liedes nicht zu der Stimme passt, die ihn vorträgt. Trotzdem erkennt er die Arbeit, die dahintersteckt, neidlos an. Die erste Strophe ist sehr schnell und obwohl sie auf Englisch ist, meistert Jimin die Aussprache mühelos. Er wird wahrscheinlich lange dafür geübt haben. Und die Emotion dahinter ist gut, sehr gut sogar. Das lang gezogene oooooohhhhhh oooohhoooooooooo erinnert ihn an seine eigenen verzweifelten Parts, die ihn atemlos zurücklassen. Jimins Stimme transportiert einen innigen Schmerz, von dem Yoongi sich noch nicht vorstellen kann, wo er seinen Ursprung gefunden hat. Er weiß nur, dass sich eine quälende Gänsehaut auf seinem Körper ausbreitet.
Die dritte Coverversion ist von Taemin, der erste koreanische Künstler, der auf Jimins Youtube-Channel vertreten ist. Es ist seine aktuelle Single Want und Yoongi ist sehr gespannt darauf, weil er diesen Track mittlerweile auswendig mitsingen kann. Er ist super angesagt und obwohl K-Hop FM sich wirklich bemüht, größtenteils Musik aus dem Hip-Hop-Genre zu spielen, konnten sie sich diesem Hype nicht verwehren. Die Fananfragen waren einfach zu häufig geworden, als dass man sie noch hätte ignorieren könnten. Also läuft es rauf und runter auf jedem Radiokanal, auch auf ihrem. Jin ist ganz angetan davon und singt es oft lauthals mit, an besonders guten Tagen steht er sogar auf, um eine Tanzeinlage zum Besten zu geben. Yoongi findet den Song in Ordnung.
Er ändert seine Meinung in dem Moment, als Park Jimin die ersten Noten singt. Seine Stimme ist so schwer, wie dunkler Rauch und legt sich verrucht um jede Windung in Yoongis Nervensystem. Er hat schwarze Haare und trägt ein schwarzes Hemd, bei dem die obersten Knöpfe allesamt offenstehen und einen freizügigen Blick auf nackte Haut und hervorstehende Schlüsselbeine gewährleisten. Seine Haut ist schneeweiß und makellos.
Seine Stimme und sein Aussehen sind eine einzige Versuchung, die durch jede gesungene Note nur noch verstärkt aus. Er öffnet die Augen den gesamten Song hinweg niemals vollständig, sondern blickt seine Zuschauer nur unter halbgesenkten Augenlidern hinaus an. Die Augen sind dunkel und erzählen intime Geschichten über Verführung, Versuchung und Verlangen. Aber da ist noch etwas anderes in seinem Blick, dass Yoongi vielleicht nicht erkannt hätte, wenn er sich nicht vor zwei Minuten noch die Coverversion zu Car Radio angesehen hätte, denn es ist das gleiche Gefühl, was ihm auch jetzt entgegenspringt – Schmerz. Die Art von Schmerz, die einen atemlos und tränenerstickt zurücklässt. Diese Emotion hat in einem so sinnlichen Lied wie Want nicht viel verloren und der Sänger tut gut daran, seine körperlichen Reize so prominent zur Schau zu stellen, dass sie nur noch als Schatten in seinem Sichtfeld wahrzunehmen ist.
Jimins Lippen glänzen in einem obszönen Rosa und als er mit seiner Zunge kurz darüberfährt, bevor er erneut leise stöhnend mit dem Refrain (hot hot lauten die ersten Worte. Wie lächerlich passend) einsetzt, erleidet Yoongi eventuell einen kurzen Herzstillstand.
Er fühlt sich beinah angegriffen durch die plakative Zurschaustellung der körperlichen Attribute des Sängers.
Er schwankt zwischen zwei Empfindungen. Einerseits möchte er dem Jungen vor sich das Hemd unsanft von den Schultern reißen, seine Hände in den schwarzen Haaren vergraben und seinen Mund auf die lächerlich vollen Lippen des zerbrechlichen Sängers pressen. Und auf der anderen Seite möchte er ihn in den Arm nehmen und sanft streicheln, bis der Schmerz aus seinen Augen verschwunden ist. Er wirkt so unglücklich in all seiner betörenden Attraktivität.
Vielleicht macht ihn genau das so schön für Yoongi.
Und er war schon immer viel zu schwach für schöne, kaputte Dinge. Ihn beschleicht das Gefühl, dass er in dem jungen Sänger wahrscheinlich all diese Attribute gefunden haben könnte.
Also schreibt er Park Jimin eine Nachricht.
Er kontaktiert den Sänger über seine Instagramseite, weil ihm das am einfachsten erscheint. Um sich nicht ablenken zu lassen, verzichtet Yoongi darauf jedes einzelne Bild in seinem Feed zu vergrößern und sich ausführlich anzusehen. Es wird später genug Zeit dafür geben.
Wie Namjoon ihm empfohlen hat, erwähnt er den Namen seines Freundes und dass er durch ihn auf Jimin aufmerksam geworden ist. Er sucht nach einer Gesangsstimme, die ihm beim Refrain seines neusten Tracks aushelfen kann und die Coverversionen auf seinem YouTube-Kanal haben ihn überzeugt, obwohl die Qualität seine Mikrophons scheiße ist. Er hinterlässt seine Handynummer und seine ID von Kakaotalk, damit sie nicht auf die Kommunikation über Instagram angewiesen sind. Yoongi benutzt seinen Account ohnehin viel zu selten.
Kurz darauf klingelt es an der Tür und Yoongi erhebt sich schwerfällig. Gedanklich möchte er schon darüber fluchen, wer es überhaupt wagt ihn zu stören, wenn er sich gerade mit seiner Musik beschäftigt. Aber eigentlich hat er die letzten zwanzig Minuten ja nur damit verbracht, sich wiederholt die Coverversion von Want anzuhören (das hat er natürlich nur aus Recherchezwecken getan, damit er besser abschätzen kann, ob Jimins Klangfarbe zu seiner eigenen passen könnte und so weiter), deswegen ist der Unmut nicht ganz so groß.
Dann erinnert er sich auch noch daran, dass er Jin zugesagt hat, dass sie später zusammen essen können, Jin wollte etwas kochen. Also öffnet Yoongi die Tür und ist schon gar nicht mehr so missgelaunt. Wie zu erwarten war steht Jin breitlächelnd vor ihm und hält eine weiße Plastiktüte hoch, die prall gefüllt ist:
„Was sagst du zu Jjajangmyeon?"
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