2 | Qual und Wunsch
Während ich immer wieder abwechselnd von ihr zur Uhr schiele, trinkt Mara ganz in Ruhe ihren Kaffee. Als sie sich ihr leichtes Tuch um den Hals bindet, schaue ich schnell weg und tue so, als würde ich mit etwas anderem beschäftigt sein. Als würde sie es nicht wissen ... Träum weiter.
Sie wird gleich aufstehen, zu mir kommen und sich verabschieden, predige ich mir selbst den offensichtlichen bevorstehenden Ablauf vor. Ein weiterer Stich heute, denn dass wir heute derart auseinandergehen, wollte ich nicht. Ein neuer Minuspunkt auf meinem Konto. Während ich die Vitrine mit dem Kuchen anstarre, höre ich die herannahenden Schritte von ihr. Kurz darauf, wie Mara ihre Tasse abstellt. Sie ist nicht zu mir hinter die Theke gekommen, sondern hat sich auf die Gästeseite mir gegenüber gestellt.
Wer nicht hören will, muss fühlen. Und damit leiden.
Ich hebe meinen Kopf an, sehe, dass ihre Hand noch an der Tasse verweilt.
»Mara ...«, seufze ich ihren Namen und gleite mit meiner Hand zu ihrem Becher. Kurz vor ihrer Hand stoppe ich jedoch. »Ich weiß auch nicht. Es tut mir leid.«
»Schon okay«, antwortet sie liebevoll und legt ihre Hand auf meine. »Du hattest eine schlechte Nacht.«
»Trotzdem–«
»Es ist in Ordnung, Joe«, unterbricht sie mich. »Mach dir darüber nicht auch noch Gedanken.«
»Bleibt es?«, frage ich die Frage, die ich schon unzählige Male gestellt habe und die zu unserer ›Ist noch alles in Ordnung‹–Frage wurde. Ich wende meine Hand in ihrer Berührung, sodass meine Handinnenfläche oben liegt.
»Ja, aber natürlich.« Zur Bestätigung legt sie ihre Hand erneut in meine und drückt sanft zu. »Ich wünsche mir einfach für dich, dass du an deine Abmachung mit deinem Therapeuten denkst.«
»Nicht mit meinem Therapeuten«, widerspreche ich ihr und ich bin kurz davor, mich von ihr zu lösen.
»Stimmt. Die Abmachung mit dir selbst und deinem Therapeuten.«
»Es war eine Idee von meinem Therapeuten und ich habe die Abmachung mit mir geschlossen«, stelle ich klar, wobei ich meine Hand wegziehe und in eine Abwehrhaltung gehe. Obwohl mir bewusst ist, dass es nicht ganz fair ist, wie ich mich gerade verhalte, kann ich irgendwie nicht anders. Die Worte lösen etwas in mir aus und die Selbstkontrolle ist im Arsch. Meine Arme verharren gekreuzt vor meinem Oberkörper.
»Okay. Ja, du hast recht. Ich meinte ja nur–«
»Und die Therapie ist um.« Mann, halt doch die Klappe. Ich sehe mich selbst gegen die Stirn kloppen und nicht nur da ...
»Es tut mir leid, Joe«, reagiert Mara nun etwas genervter und sie hat mein Verständnis. »Ich wollte nichts falsch wiedergeben, dich lediglich erinnern.« Auch Mara zieht nun ihre Hand von der Arbeitsfläche weg.
Ich bin so blöd. Durch den erneuten Stimmungsumschwung entsteht eine kurze Pause zwischen uns. Doch dann fasst sich Mara scheinbar noch mal ans Herz. Sie lächelt mir entgegen. »Wir sehen uns morgen. Ich wünsche dir ehrlich einen schönen Tag mit tollen Gästen.« Mit den Worten dreht sie sich um und verlässt die Bäckerei.
Trübsinnig und Gedanken verloren schaue ich ihr nach. Ich bin wirklich ein Idiot. Erneut kann ich mehrere Minuspunkte auf meinem Konto vorweisen. Toll gemacht.
Kurz darauf gehe ich ebenso zur Tür, jedoch nicht, um Mara nachzugehen, sondern um den kleinen Kippschalter umzulegen, sodass die Tür auch von außen geöffnet werden kann. Der Arbeitstag beginnt.
Zwischen meinen ersten Gästen, die beinahe alle täglich kommen, um ihr Brot oder ihre Brötchen zu holen, fangen mich immer wieder dieselben Fragen und Gedanken ein.
Alles dreht sich um mein verfluchtes Geburtstagsgeschenk, was ich vor fast zehn Monaten geschenkt bekommen habe. Eigentlich ein wundervolles. Ich hatte mich wahnsinnig darüber gefreut. Dann habe ich diese blöde Vereinbarung mit mir geschlossen, das Geschenk für einen bestimmten Zweck einzulösen, bevor ein Jahr vorüber ist. Zwei Wochen frei haben. Das klingt nicht übel. Ich weiß nicht mal, wann ich das das letzte Mal hatte. Aber sich zwei Wochen lang mit sich und seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen – muss das sein?
Ja, lautet die simple Antwort. Ich weiß, dass es sein muss. Ich weiß ebenso, dass ich es unnötig hinauszögere. Aber ich kann nicht anders; irgendwie komme ich nicht dagegen an.
Kurz vor der Vereinbarung habe ich Mara kennengelernt, unsere Beziehung vertiefte sich. Ein unbeschreiblich schönes und zugleich fürchterliches Gefühl. Das einzuordnen fällt mir nach wie vor schwer, es gelingt mir bis heute nicht gänzlich. Ich sollte sie nicht lieben. Ich darf es nicht. Ich habe doch eine Frau, die ich ebenso liebe und die ich niemals verlassen hätte.
Dieser Widerspruch quält mich zunehmend mehr. Obgleich ich Mara glücklich machen; mit ihr glücklich sein will, schaffe ich es nicht und darf es auch nicht. Gleichzeitig bedingt sich beides. Die Qual nimmt mich mehr ein, dadurch, dass sich auch mein Wunsch verstärkt ...
Insbesondere seitdem ich Gewissheit habe, was Mara mir gegenüber empfindet; seit sie mir sagte, dass sie mich so sehr lieb gewonnen hat, dass sie diese Phase mit mir gemeinsam bestreiten möchte. Ich würde das gerne für uns beide und mit ihr tun. Vor allem mit ihr.
Nur mit ihr kann ich mir diesen besonderen Weg vorstellen. Eine Reise durch meine Vergangenheit. Denn sie weiß, wie es funktioniert. Und ihr vertraue ich.
Mein Geist und mein Körper sind sich nicht immer einig. Mit jedem weiteren Gedanken in diese Richtung zittern meine Hände mehr und in meinem Magen macht sich ein Grummeln bemerkbar. Ob ich mich gleich übergeben muss? Meine Hand wandert über meinen Magen. O Gott, ich hoffe nicht, dass ich gleich ...
»Hey Joelein«, werde ich begrüßt und damit aus meinem Zustand herausgerissen. Ich schaue auf.
»Hey, mein Sonnenschein«, begrüße ich Ronja. »Heute glänzt du ja wieder besonders. Und dann bist du auch noch mit Nika da. Wie schön.« Meine Laune hebt sich unmittelbar. Meine liebste Kundin, die gleichzeitig meine beste Freundin ist. Sie kommt genau zur richtigen Minute.
»Alles gut bei dir?«, hakt sie nach. Sie hat es mir bestimmt schon angehört ...
»Ja, klar. Geh ruhig schon mal durch. Ich schließ die Tür ab und mache alles fertig.«
»Joe, du musst doch nicht immer abschließen für mich«, entgegnet sie.
»Aber natürlich, außerdem mache ich nun Mittagspause und die könnte ich mir nicht besser vorstellen, als mit dir und deiner kleinen süßen Maus zu verbringen.«
»Warte. Das kommt jetzt erst bei mir an«, äußert Ronja erschrocken und bleibt mitten im Raum stehen. »Es gibt noch keinen Latte Macchiato für mich?«, empört sie sich künstlich gespielt.
»Und nicht mal eine Schale mit Wasser für Woody habe ich bereitgestellt«, ergänze ich, woraufhin wir lachen.
Ronja geht bereits weiter auf unseren Stammplatz zu, da fällt mir was auf. »Oh Shit, warte Ronja«, rufe ich schnell aus, sie bleibt zum Glück stehen. »Tut mir leid, ganz vergessen. Vor unserem Tisch stehen zwei Pakete.«
»Na gut, dass du das sagst, die hätte ich glatt übersehen«, witzelt sie.
»Du und dein Humor«, entgegne ich, was ich zwar ernst meine und wofür ich sie bewundere, sogar manchmal beneide. Aber vermutlich könnte nicht jeder Mensch damit so cool umgehen, wenn er blind wäre. Ich gehe an ihr vorbei und räume die zwei Pakete aus der Bahn. »So, nun ists frei.«
»Danke dir, aber Woody hätte mich auch gewarnt. Also mach dir nicht immer so einen Kopf, sondern lieber den Kaffee«, amüsiert sie sich.
»Wie immer will sie nur das Eine von mir«, sage ich auf dem Weg zum Tresen, was uns beide wieder zum Lachen bringt.
Nachdem ich unsere Getränke zubereitet und die Hundewasserschale für Woody hingestellt habe, setze ich mich zu Ronja. »Also erzähl«, fordert sie mich prompt auf.
»Kannst du nicht wenigstens mal so tun, als würdest du nicht gleich alles mitbekommen?«, frage ich sie halbherzig, denn ich meine es nicht wirklich ehrlich.
»Nö, also?«
»Gut ...«, gebe ich mich geschlagen und erzähle ihr, was mich heute den Tag über beschäftigt hat. Grundsätzlich weiß sie, was mich quält. Mit ihr – neben der Selbsthilfegruppe – teile ich am meisten, und das schon seit vielen Jahren. Sie hört mir zu und wertet nicht – außer es ist angebracht –, sie ist eben meine beste Freundin.
»Für mich klingt das so, als hättest du schon eine Entscheidung getroffen. Oder habe ich da etwas missverstanden?«
Habe ich das?
Ein angenehmes Schweigen entsteht. Nur Nika quatscht ab und zu mit ihrem Kuscheltier oder erzählt uns beiden etwas. Sie hat mittlerweile sprachliche Fortschritte gemacht. Neujahr wird sie schon zwei Jahre alt. So alt wie ...
Nein, das lasse ich jetzt nicht zu. Daher greife ich schnell zu meiner Tasse und versuche den Gedanken hinunterzuspülen. Dann denke ich weiter über die Antwort nach.
Bis bei mir der sprichwörtliche Groschen fällt. Natürlich habe ich das – eine Entscheidung bereits getroffen. Sie hat recht – wie immer. Lächelnd schaue ich ihr entgegen. Auch wenn sie es nicht sehen kann, so weiß ich, dass sie es spüren wird, was sich nun in ihrem Gesicht widerspiegelt.
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