7 - Unter Trümmern
„Feuer im Herzen aber keine Träne im Auge."
☆☆☆
AMELA
Die Prinzessin kletterte auf die Überreste einer Marmorsäule, die einst im Saal der tausend Winde gestanden hatte. Tief einatmend schloss sie die Lider und liess ihre Kraft durch die Trümmer sickern, wie ein Rinnsal des Alkabir-Gebirges, das sich in etliche Verzweigungen in die Täler ergoss.
Sie suchte in jedem Hohlraum, in jeder Ritze, in jeder noch so kleinen Ecke.
Doch da war niemand.
„Wo bist du, verflucht nochmal?"
Sie spannte ihren ganzen Körper an und liess ihre Kraft noch weiter fliessen, über umgekippte Arkadenfenster, eingestürzte Decken, Glassplitter und zerschmetterte Holztüren, bis sie den Boden erreichte und seufzend wieder die Augen öffnete.
Sinan befand sich zwanzig Schritte weiter entfernt neben einer Wand, die mit pflanzenförmigen Mauresken geschmückt war und schief in der Landschaft lehnte. Er kickte ein paar zerbrochene, hellblaue Mosaiksteine mit seinem Fuss weg, positionierte sich breitbeinig an der Stelle und schloss die Augen.
Der Grund vibrierte, als auch er ein Signal durch den Boden jagte.
Amela hatte ihm so gut es ging beschrieben, wie sich die Kraft ihrer Freundin anfühlte, damit er sie bei der Suche in den Ruinen unterstützen konnte: So samtig wie Flieder, so verspielt wie das Glitzern der Sterne, so rein wie das Licht des weissen Dschinns und so vielversprechend wie die Zukunft. Ihre Beschreibungen hatten Sinan reichen müssen.
Seit dem Morgengrauen standen sie nun hier und trieben ihre Magie durch den Boden.
Bisher ergebnislos.
Das laute Seufzen von Sinan, dicht gefolgt von einem ergebenem Absinken seiner Schultern, erstickte jeglichen Optimismus.
„Hier ist nichts", bestätigte er das, was sie längst befürchtete.
„Luay behauptet, dass sie mit ihnen im Saal der Winde gewesen war, als die Decke eingebrochen ist", sagte sie und liess ihren Blick über die Ruinen schweifen. „Sie muss hier irgendwo sein."
Ihr Bruder Luay hatte ihr die tragischen letzten Momente geschildert, als sie ihn gestern in seiner Zelle besuchte.
Er, Najmah, Zahir und Zafar waren vor Hamzas Männern in den Saal geflüchtet, weil sie sich einen Ausweg über die offenen Fenster erhofft hatten. Als die Erde so heftig zu beben begann, dass es die ganze Stadt in ihren Grundfesten erschütterte und der Palast zusammenbrach, da hatten ihre Brüder im Chaos der einstürzenden Wände und umkippenden Säulen Najmah verloren.
Seither war die Sternenseherin unauffindbar.
Amela hatte erst Mühe gehabt, der Geschichte zu glauben, denn sie kannte Zahir. Er würde niemals die Liebe seines Lebens aus den Augen verlieren — ganz besonders nicht, wenn sie in Gefahr war. Aber fürs Erste hatte sie Luay diese Geschichte abgekauft, denn eigentlich hatte er keinen Grund, um sie anzulügen.
Najmahs Verschwinden konnte genau zwei Dinge bedeuten: Entweder war sie tatsächlich von den Palastmauern zerdrückt worden, oder, sie hatte irgendwie entkommen können — nur wusste niemand wie und wohin.
Dass Amela ihre Freundin bisher nicht hatte aufspüren können, nagte sehr an ihr. Amela wusste immer, wo sich ihre Familie herumtrieb.
Sie weigerte sich, zu denken, dass Najmah tot war. Sie wollte das schlicht nicht akzeptieren und klammerte sich beharrlich an die Hoffnung fest. Solange man keinen Leichnam fand, den man begraben konnte, würde sie nicht aufhören auf Najmahs Rückkehr zu warten und zu hoffen.
Und wenn ihre schüchterne Freundin dann endlich auftauchen würde, dann würde Amela erstmal eine wütende Standpauke halten. Eine voller Vorwürfe und Fluchwörter und vielleicht würde sie sie sogar ohrfeigen, für den Schrecken, den sie ihr eingejagt hatte, aber dann würde sie sie in die Arme schliessen und ihr ganz viele Schokoladen- und Dattelkekse anbieten und sie nie wieder gehen lassen.
Aber bis dahin galt es zu warten. Und zu hoffen. Immer zu hoffen.
„Wir sollten die Suche für heute einstellen", hörte sie Sinan sagen.
„Nein", hauchte Amela kaum hörbar.
Sinan blickte zu ihr hoch und musste ihren Kummer erkannt haben, denn er kletterte sogleich zu ihr hinauf. Der hellblaue, edle Kaftan, den sie ihm geschenkt hatte und den er zu ihrer Ehre trug, war bis zu den Knien in Dreck und Staub getaucht. Er blieb keuchend vor ihr stehen.
„Ich bin sicher, dass der Feldmarschall das verstehen wird", sagte er und streichelte ihren Oberarm. „Er wird dir noch mehr Zeit geben. Schliesslich ist ein Grossteil des Palastes zerstört. Da gibt es noch viele Orte, an welchen sie stecken könnte."
Amela schüttelte den Kopf. „Ich tue das nicht für Hamza. Er kann mir ehrlich gesagt meinen Allerwertesten abschlecken."
Sinan legte den Kopf schief und durch seinen trockenen Lacher wurde der Turban um seinen Mund kurzerhand aufgeblasen. In einer anderen Realität hätte sie lange damit gewartet, sein Gesicht sehen zu wollen, aber die Umstände hatten sich verändert und manchmal ertappte sie sich bei dem Gedanken, ihn einfach zu fragen, ob er sie haben wolle.
Wer wusste schon, wie lange sie noch leben würde? Die Welt schien sich nicht zugunsten ihrer Familie zu entwickeln.
Seufzend wandte sie den Blick ab, um bei der Sache zu bleiben.
„Ich tue das, weil wir sie brauchen, Sinan", sagte sie. „Zahir und Zafar sind ..." Sie suchte nach den richtigen Worten, doch sie fand keine, die den seltsamen Zustand der beiden Sandleser im geringsten Masse fassen konnte. „Sie sind nicht mehr sie selbst."
Etwas plagte die beiden und Amela hatte nicht herausfinden können, was es war. Die Schreie des Zornes und der Verzweiflung, als sie zum ersten Mal ihre Brüder im Kerker besuchen gegangen war, jagten sie noch immer bis in ihre Albträume.
Irgendwas war mit ihnen geschehen, hatte sie verändert und das machte die Suche nach Najmah umso dringender, denn Amela wusste einfach, dass ihre Freundin ihren Brüdern helfen konnte.
Mit ihrer Herzensgüte, mit ihrem Lächeln, mit ihrer Zuneigung und womöglich auch mit ihrem Licht.
Zahir und Zafar sassen in einem verdammt dunklen Loch und bei allen heiligen Kräften des weissen Dschinns, Licht war definitiv das, was sie brauchten und zwar das purste Licht, das Amela kannte.
Najmahs Licht.
Die Tatsache, dass Hamza die Sternenseherin aus strategischen Gründen brauchte, interessierte Amela einen feuchten Dreck. Der hatte wegen der Attacken der Dohad im Moment genug um die Ohren und liess sie glücklicherweise in Ruhe, damit sie seinen Scherbenhaufen aufwischen konnte.
Die Erschöpfung zehrte an ihr und der Anblick der in Schutt und Asche liegenden Säle des Palastes, gepaart mit den elend traurigen Gesichter der Bewohner Azouls, die noch nicht geflüchtet waren, sondern blieben, weil ihre Angehörigen auch dort unten irgendwo steckten, war nicht gerade kraftspendend.
Es war zermürbend. Herzzerreissend.
Als hätte Sinan ihre Mattigkeit gespürt, zog er sie in seine Arme und so liess sie zu, dass für einen Moment auch für sie die Welt in sich zusammenfiel. Der Feuerspucker hielt sie und er musste nichts sagen, denn er verstand ihr Elend.
Amela weigerte sich zu weinen. Für die Taten ihres Bruders würde sie keine Tränen vergiessen wollen, dafür brannte ein viel zu grosses Feuer in ihrem Herzen. Diese Macht über ihr Herz würde sie Hamza niemals geben. Eher würde sie dafür sorgen, dass ihm bald die Tränen kamen.
Plötzlich drangen Rufe an sie heran.
Der andere Suchtrupp!
Amela löste sich von ihrem Freund und kniff die Augen zusammen, um über die Berge an zerklüfteten Mauern jene Person auszumachen, die gerufen hatte.
Es war Runa.
„Wir haben jemanden gefunden!", rief sie.
„Wen?", brüllte Amela sogleich zurück, die Hände wie ein Sprechrohr an ihren Mund gelegt.
„Hakim!"
Amela schwankte und verlor vor Erleichterung beinahe die Balance. Ihr zweitältester Bruder lebte noch!
Sinan umgriff ihren Arm, damit sie nicht in die Trümmern stürzte und zum ersten Mal seit Tagen schaffte sie es, ein Lächeln aufzusetzen.
Er erwiderte es mit seinen wundervollen, dunklen Augen. „Siehst du?", sagte er. „Du solltest niemals die Hoffnung verlieren."
Ein lautes Grunzen entfloh ihr von der Kehle. Amela war die Hoffnung und sich selbst würde sie bestimmt niemals verlieren. Zumindest nicht so, wie ihre Brüder sich in ihrem Wahn verloren hatten. So schwach war sie nicht.
„Komm", sagte sie. „Hilf mir von diesem Trümmerhaufen. Ich muss einem weiteren Bruder aus der Patsche helfen."
Sie rutschten die Säule hinunter und gingen schnellen Schrittes auf Runa zu, die ihnen die Richtung zeigte. Amela sah von Weitem, wie sich ein paar Menschen um eine Stelle versammelt hatten. Darunter auch Sarima, die vor Glück weinte. Amelas Herz wog bei dem Anblick etwas weniger schwer in ihrer Brust.
Immerhin zwei Menschen, die heute wiedervereint würden.
Die Wächter, welche Hamza ihnen auf die Fersen gesetzt hatte — nur zu ihrer Sicherheit, wie er behauptet hatte und wie Amela augenrollend zur Kenntnis genommen hatte — schlossen mit ihr auf, immer einen höflichen Abstand von zehn Schritten einhaltend.
Die blauen Soldaten wollten sich nicht mit der Wassertänzerin anlegen und das war auch gut so, denn sie hatte Hamza nicht versprechen können, dass ihr das Wasser mal ausrutschen würde, wenn sie sich emotional weniger stabil fühlte.
Wenn er alles auf den Kopf stellen durfte, nur weil er einen schlechten Tag hatte, dann durfte sie das auch. Und dazu gehörte auch seine Soldaten zu wässern, bis sie erstickten.
Die Wächter hatten ihre Drohung verstanden.
Amela näherte sich Sarima, die am Boden kniete. Ein schwarzes Loch klaffte zwischen der Lücke zweier massiver Sandsteinblöcke. Auf einer Seite waren sie etwas modrig und Amela erkannte sofort, dass es die Wände der Kerkerzellen sein mussten, die sich in der nähe der Palastzisterne befunden hatten.
Ein kalter Schauer kroch ihr über den Rücken.
Die Zisterne befand sich zwar unter der Erde, aber wenn der schwarze Dschinn sich irgendwie befreit hatte, dann würden sie bald vor weitaus grösseren Problemen stehen, als den süssen Dohad mit ihren Säbeln an der Landesgrenze.
Amela schüttelte den Gedanken lieber weg.
Sarima legte ihre Lippen ganz nahe an die Öffnung und murmelte ein paar Worte in die Dunkelheit, die wohl an Hakim gerichtet waren, der dort unten irgendwo steckte. Womöglich war er schwer verletzt. Sie würden Hana'a rufen müssen, um nach seinen Wunden zu schauen.
Amela seufzte und drehte sich ab. Sinan sprach mit den Männern, die dabei standen und begann sodann mit ihnen die Bergung des Wüstenprinzen zu besprechen. Amela musste sich von der Szene entfernen, denn in ihrem Kopf begannen schon wieder ihre Gedanken zu rattern.
Hakim lebte, also musste sie auch für ihn nun eine Lösung finden, wie er dem Groll seines älteren Bruders entwischen konnte.
Amela setzte sich auf einen Felsbrocken und grübelte. Hakims Geschick, mit den finanziellen Mitteln des Palastes umzugehen, würde ihm bei allfälligen Verhandlungen mit dem Feldmarschall mit Sicherheit in die Hände spielen. Sie entschied sich, später einen Schlachtplan für ihren verschütteten Bruder auszuklügeln. Wahrscheinlich blühte ihm noch weitere Zeit hinter Gittern im anderen Gefängnis am Rande der Stadt.
Dort, wo seine beiden Brüder steckten — die Sandwürmer. Jene zwei, die ihr die grössten Bauchschmerzen bereiteten.
Ein Windstoss trieb den Staub vom Boden auf. Amela legte ihren Arm vors Gesicht und kniff die Lider zusammen, damit es ihr den Schutt nicht in die Augen wehte. Da sah sie, wie ein Stück Papyrus durch die Luft wirbelte, als tanze es mit den Geistern der Natur. Es flatterte und wurde von der Böe zu ihr getragen.
Amela sprang auf und schnappte sich den Zettel.
Es war ein halb zerrissener Briefumschlag, wie sie rasch realisierte.
„Oh!", entkam es ihr, als sie die Handschrift in blauer Tinte wiedererkannte.
Überrascht hielt sie den Atem an, doch während sie nochmals über die Adresse flog, die unverkennbar auf dem Umschlag prangte, da formte sich bereits eine Lösung in ihrem Kopf. Einen alternativen Weg, wie sie ihre Brüder womöglich von ihrem Leid erlösen konnte.
Selbstverständlich würde sie damit noch warten, denn sie glaubte fest daran, dass Najmah hier irgendwo noch steckte, aber es war immer vorteilhaft, sich so viele Auswege wie möglich offen zu halten.
Dieser Weg hier würde allerdings lange dauern — viel länger dauern und Zeit war nicht gerade das, was sie in Hülle und Fülle besassen.
Bevor jemand etwas sah, stopfte sich Amela den Umschlag zwischen ihre Brüste, gut von ihrem himmelblauen Sari verdeckt.
Später. Darum würde sie sich später kümmern.
Amela blieb sitzen, denn sie war zu müde, um mit anzupacken und so beobachtete sie ihren Freund dabei, wie er mit der Hilfe der anderen Männern die Mauerstücke zur Seite hob, um Hakim aus den Trümmern zu befreien.
Fehlten nur noch drei und dann war ihre Familie wieder komplett.
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Wir haben einen kleinen Zeitsprung zurück gemacht. Ich hoffe, euch hat es gefallen.
Was denkt ihr, was mit Zahir und Zafar geschehen ist?
Wünsche euch ein schönes Wochenende!
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